Ina Plodroch: Sie hat gesagt, sie sei gar keine gute Beobachterin, sie sei schließlich kurzsichtig. Und "die wichtigste französische Soziologin", wie über sie gesagt wurde, ja, das sei ja wohl auch Unsinn. Und das zeigt wohl schon alles über Claire Bretécher, die Feministin, Comiczeichnerin, die die französische Gesellschaft gezeichnet hat wie sonst keine. Es gab ja schließlich auch sonst nur Männer in ihrem Bereich. Mit "Die Frustrierten" gelang ihr der Durchbruch. Heute wurde bekannt, dass Claire Bretécher im Alter von 79 Jahren gestorben ist. Wir sprechen mit dem Comic-Experten Christian Gasser. Welches Werk kommt Ihnen denn in den Kopf, wenn Sie an sie denken?
Christian Gasser: Es ist natürlich "Die Frustrierten", wie es wahrscheinlich bei den meisten der Fall ist, es ist das Werk ihres Durchbruchs - auch international. Und das ist natürlich ein Werk, an dem sie ihr ganzes Leben lang gemessen wurde, weil es halt dermaßen neu war, dermaßen frisch und auch dermaßen erfolgreich, etwas ganz Neues in die Welt des Comics mit hineingebracht hat.
Linke Elite aufs Korn genommen
Plodroch: Was war denn das Neue?
Gasser: Das Neue war, das Bretécher sich damals in den späten 60er-Jahren und frühen 70er-Jahren, in ihren Anfängen sich in einer Welt, die wirklich mehrheitlich von Männern beherrscht wurde, durchgesetzt hat. Und zwar nicht, indem sie einfach das gleiche machte wie die Männer, sondern indem sie auch mit großem Erfolg einen weiblichen Blick durchgesetzt hat, einen weiblichen Blick, eine weibliche Perspektive auf die Gesellschaft, die sie umgab, und damit auch gezeigt hat, dass der Comic weit mehr sein kann als das, was die Männer zuvor 80 Jahre lang getan hatten im Comic. Also sie hat wirklich - Sie haben das genannt -, dieser soziologische Aspekt, diesenr Blick auf die Gesellschaft, aus ihrer Perspektive, aus ihrer feministischen Perspektive, mit in den Comic hereingebracht, und hat damit auch ihre eigene Umwelt, ihre eigene Szene sozusagen, diese linke Elite der Postachtundsechziger, aufs Korn genommen.
Plodroch: Und obwohl sie dazugehörte, oder?
Gasser: Natürlich ist das so, weil, man karikiert natürlich am besten die Welt, zu der man gehört, die man wirklich sehr gut kennt. Und deswegen gelangen ihr auch diese unglaublichen Porträts, diese sehr wahrhaftigen Situationsschilderungen, diese unglaublich authentisch klingenden Dialoge. Und deshalb wusste sie auch genau, wie diese Menschen, die sie karikierte, tickten, und schaffte es auch, auf bewundernswerte Weise darzustellen, was diese Menschen eigentlich dachten und von sich selber hielten, und die ganzen Widersprüche zu ihren alltäglichen, alltäglichem Leben herauszuarbeiten.
"Zeichner wie Ralf König verdankten Claire Bretécher enorm viel"
Plodroch: Wie hat sie denn gezeichnet, also "Die Frustrierten" zum Beispiel, das waren ja vor allem Schwarzweiß-Zeichnungen.
Gasser: Es waren Schwarzweiß-Zeichnungen, es waren einfache Zeichnungen, es waren schnelle, karikierende Zeichnungen, die sehr nah an der politischen Karikatur sind. Sie waren auch vermeintlich simpel, diese Zeichnungen. Claire Bretécher wurde in ihren Anfängen oft kritisiert, weil sie schlecht zeichne, was natürlich ein völliger Irrtum ist, weil: Diese Zeichnungen waren sehr zweckmäßig und eigentlich sehr präzise, wenn es darum ging, ihre Botschaften rüberzubringen. Also, sie hat nicht schöne Menschen zeichnen wollen, sie hat auch ein ganz neues Frauenbild in den Comic hineingebracht, sondern sie hat alltägliche Hässlichkeiten gezeichnet und die Menschen wirklich in einer Mischung aus Vereinfachung und karikaturierender Zuspitzung sozusagen auch zeichnerisch entlarvt. Und auch dieser Stil hat sich mit der Zeit - nicht nur ihre Inhalte, auch der Stil - als sehr wirkungsvoll und einflussreich entpuppt. Nicht nur in Frankreich, auch in Deutschland. Also ein Zeichner wie Ralf König verdankte Claire Bretécher enorm viel, auch zeichnerisch.
Plodroch: Sie ist bekannt geworden in den 70er-Jahren, wir haben schon darüber gesprochen, mit "Die Frustrierten", da war sie grob über 30 Jahre alt. Hat sich denn so ihr Stil, ihre Themen, im Alter verändert?
Gasser: Nein, sie ist eigentlich ihren Themen treu geblieben, auch ihrem Zeichnungsstil treugeblieben. Es ist der gar nicht so einfach herauszufinden, wenn man sich so eine Seite anschaut - ob das jetzt aus einem früheren Buch oder einem der jüngeren Büchern gehört - sie ist dieser Gesellschaftssatire treu geblieben. Am Schluss hat sie sich natürlich dann mit anderen Themen beschäftigt, also ihre letzte große bedeutende Figur war Agrippin, ein Teenager der 90er- und 00er-Jahre. Und durch diese Figur hat der Claire Bretécher auch bewiesen, dass sie durchaus immer noch auf der Höhe der Zeit geblieben ist und auch unsere Zeit - oder eben die 90er- und 00er-Jahre mit dergleichen Verve kritisieren, karikieren, entlarven konnte wie zuvor die 1970er-Jahre.
2015 hatte Claire Bretécher im DLF über ihre Arbeit gesprochen -
hören Sie hier das Corsogespräch mit der Zeichnerin