Antje Allroggen: "Ich habe nicht gespürt, wie die Zeit verging", schrieb Claude Lanzmann 1990. Und meinte damit die Zeit, die seit der Uraufführung seines großen filmischen Werks "Shoah" auf der Berlinale im Jahr 1985 schon verstrichen ist. Ein monumentales Dokumentarfilmprojekt über die Todesmaschinerie der Konzentrationslager. Nun ist er im Alter von 92 Jahren gestorben. Viele Amts- und Würdenträger kondolierten heute, unter anderem auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Er bezeichnete Lanzmann als einen "unermüdlichen Mahner gegen das Vergessen". Mit dem "Shoa"-Film habe er ein "Meisterwerk der Erinnerung erschaffen". Der Vorsitzende der israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem würdigte Lanzmann als einen "bahnbrechenden Filmemacher", der einen "unauslöschlichen Eindruck" in der kollektiven Erinnerung hinterlassen habe.
Mit "Shoah" hatte Lanzmann viel Lebens-Zeit verbracht. Zum einen ging es darum, die geeigneten Gesprächspartner zu finden, die den Holocaust überlebt und viel zu erzählen haben, und diesen Prozess beschrieb Lanzmann selber einmal so: "Ich habe meine Gesprächspartner danach ausgesucht, ob sie in der Lage beim Erzählen das, was sie erzählen, nachzuerleben. Dafür zahlt man einen sehr hohen Preis. Das ganze Leid kommt beim Erzählen wieder hoch."
Sicherlich hatte Lanzmann auch Jahre mit der Vorbereitung dieses Films zu tun, weil es um eine Art Trauerarbeit ging. Ein "großes Chaos der Trauer" habe "Shoah" bei ihm selbst hinterlasssen. Und das werde für immer auf ihm selber lasten. Auch sein eigenes Leben hatte viele schmerzhafte Stationen: seine jüdische Familie war unter der Nazi-Besetzung Frankreichs immer von Deportation und Ermordung bedroht gewesen. Lanzmann hatte sich früh den Kommunisten angeschlossen, ebenso der Résistance. Nach dem Krieg arbeitete er dann für die Temps Modernes, zuletzt auch als Herausgeber, und für andere Zeitschriften. Mit Sartre und Simone de Beauvoir verband ihn eine kuriose Ménage à trois. Bei all dem, was Lanzmann vollbracht hat – mit seinem Film "Shoah" wird er uns allen im kulturellen Gedächtnis bleiben. Deshalb die Frage an unsere Filmkritikerin Katja Nicodemus: Was macht diesen Film so kanonisch und so radikal?
Das Unvorstellbare vorstellbar machen
Katja Nicodemus: Ja, wenn man es ganz kurz fassen will, dann kann man sagen, dass dieser Film das Unvorstellbare vorstellbar gemacht hat. Oder dass er uns zwingt, uns das Unvorstellbare vorzustellen. Ich meine, Sie haben es schon angedeutet: Claude Lanzmann hat elf Jahre an "Shoah" gearbeitet, 1974 bis 1985. Und der Film zeigt ja neun Stunden lang Schauplätze des Holocaust, also Treblinka unteranderem, Sobibor, Auschwitz. Lange Kamerafahrten dieser, ja, Gräberfelder und Ruinen, und er besteht im Wesentlichen aus Gesprächen mit Überlebenden, auch mit Tätern, aber vor allem mit Überlebenden der Konzentrationslager. Und aus den Schilderungen dieser Opfer setzt sich dann die ungeheuerliche Systematik dieses Menschheitsverbrechens, des Holocaust zusammen.
Dadurch wird er Film, man kann sagen, zu einer großen dokumentarischen Todesfuge. Aber in dieser Fuge, und das ist das Entscheidende, bleibt der Einzelne immer präsent. Also deswegen verlässt sich Lanzmann auch nicht auf Archivbilder sondern auf Menschen. Mir fällt jetzt einer ganz eindrücklich ein, man könnte ganz viele nennen, Abraham Bomba, der sogenannte Frisör von Treblinka, der gezwungen wurde, in der Gaskammer ermordeten Frauen die Haare abzuschneiden. Und dieser Mann ringt ja vor Lanzmanns Kamera immer wieder um Fassung, aber Lanzmann lässt die Kamera weiterlaufen, denn es geht ihm eben um eine Zeugenschaft.
Und diese Zeugenaussagen, die zeugen eben auch vom Überlebenswillen dieser ganzen Menschen, und das Paradoxe an "Shoah" ist, glaube ich, dass dieser Film eine ganz durchdachte Form hat, eine Gestalt – übrigens hat Lanzmann immer wieder das deutsche Wort verwendet – aber in dieser neun-stündigen "Gestalt" ist eben beinhaltet, dass der Film auch 90 Stunden, 100 Stunden, 1000 Stunden oder 10 000 Stunden dauern könnte.
Antje Allroggen: Und diese durchdachte Struktur, wie Sie es gerade gesagt haben, die zeichnet sich dadurch aus, dass es keine Kommentierung gibt, keine Archivaufnahmen, keine Fiktionalisierung?
Katja Nicodemus: Ja, dass man sozusagen die Zeugenschaft an sich zu Tage bringt und dadurch auch den Überlebenswillen und eben auch die Systematik des Mordens. Das ist das große Paradox dieses Films.
Antje Allroggen: Lanzmann selber bezeichnete seine Sicht auf die Verfilmung des Holocaust ja einmal als quasi ontologisch, also als etwas, das nicht verhandelbar ist. Deshalb ging er mit Filmemachern wie Steven Spielberg ja auch ziemlich hart ins Gericht, die ein anderes Konzept verfolgten. Das klingt nicht so, als wäre er im Umgang immer unkompliziert gewesen?
Ein fast alttestamentarisch aufzufassendes Bilderverbot
Katja Nicodemus: Na ja, man muss da, gleube ich, bei diesem Streit das halt auch so verstehen: Es ging da ja aus Lanzmanns Sicht nicht um Sichtweisen, sondern um ein, sagen wir, fast alttestamentarisch aufzufassendes Bilderverbot. Es geht für ihn, nicht nur für ihn, darum: Man darf das, was im Innern der Gaskammern geschehen ist, nicht nachinszenieren, weil die pure Abbildung eine Verharmlosung beinhaltet. Und Lanzmann hat ja später mit Spielberg, der eben in "Schindlers Liste" durchaus grenzwertige Szenen gedreht hat, – man sieht wie Deportierte in die Gaskammer hineingehen -, er hat mit Spielberg diskutiert, und Spielberg hat auch eingesehen in Briefen, auch in Äußerungen, dass er eine Linie, eben diese ontologische Grenze, überschritten hat.
Lanzmann hat sogar einmal gesagt, selbst wenn er einen Archivfilm gefunden hätte über das, was mit 3.000 Menschen in der Gaskammer im Moment ihrer Ermordung passiert ist, dass er diesen Film vernichtet hätte. Also da muss man ihn, glaube ich, verstehen, dass es eben um die Grenze dessen geht, was mit der Kamera formulierbar ist. Und übrigens sind alle Grenzüberschreitungen auch immer grauenvoll gewesen. Ausbeuterisch, armselig, würdelos.
Antje Allroggen: Man kann aber sagen, dass er ein ziemlicher Überzeugungstäter war. Dass er also auch Kollegen wie Steven Spielberg überzeugen konnte durch sein Konzept, seine Philosophie. Kann man das so sagen?
Katja Nicodemus: Ja, er hat ja auch nicht stur darauf beharrt. Ich meine, er hat Zeitungsartikel geschrieben. Er ist in Dialog getreten, er ist öffentlich aufgetreten. Manchmal war er ein bisschen ruppig und rumpelig, aber er hat sich trotzdem auch immer wieder auseinandergesetzt im wahrsten Sinne des Wortes.
Antje Allroggen: Er drehte ja mehrere Filme, viele mutige Filme, meinungsfreudige Filme, würde man heute dazu sagen. Damit meine ich vor allem seinen Film "Der letzte der Ungerechten" über den großen Rabbi von Wien, ein Film, für den Lanzmann auch heftige Kritik bekam. Warum?
Katja Nicodemus: Ja, es hat einfach sehr großen Mut bedeutet, diesen Film zu drehen über eine so umstrittene Figur. Der Film ist ja eine Rehabilitierung dieses Rabbis von Wien, Benjamin Murmelstein, eines der sogenannten ältesten, von den Nazis eingerichteten "Judenräte" von Theresienstadt. Das waren ja immer diese Stammesbezeichnungen von den Nazis. Und über diese Judenräte gibt es ja in der Geschichtsforschung ganz widersprüchliche Meinungen. Hannah Ahrendt hat die Judenräte moralisch sehr verurteilt.
Lanzmann zeigt nun in diesem Film, dass dieser Benjamin Murmelstein ein Mensch mit einer ganz großen Verantwortung war. Dass er die erzwungene Zusammenarbeit mit den Nazis, dass er da schon als Rabbi von Wien 120.000 Juden vor dem Tod gerettet hat. Und auch später in Theresienstadt eben in Zusammenarbeit mit den Nazis gegen die Nazis gekämpft hat. Also Murmelstein hat sich selbst ja mal als Mann "zwischen Hammer und Amboss" bezeichnet. Und diese paradoxe, moralisch wirklich enigmatische Figur hat Lanzmann 1975 für "Shoah" schon interviewt. Aber dann wurde ihm irgendwann klar, dass diese Figur in diesen Zeugenchor und vor allem Opferchor von "Shoah" nicht reinpasst. Und ich finde, man kann ihm gar nicht hoch genug anrechnen, dass er Murmelstein, für den ja Gershom Scholem die Todesstrafe gefordert hat, 40 Jahre später rehabilitiert hat.
Als Filmemacher nie narzisstisch
Antje Allroggen: Frau Nicodemus, Sie haben Claude Lanzmann vor einigen Jahren persönlich für ein ziemlich langes Interview getroffen. Erzählen Sie mal, plaudern Sie mal aus dem Nähkästchen, was war das für ein Mensch, der ja immerhin 92 Jahre alt geworden ist bei all dem Leid, das er selber erfahren hat, über das er gesprochen hat. Was hielt ihn am Leben?
Katja Nicodemus: Also man begegnet auf jeden Fall einem großen Überlebenswillen. Also jemand, der als Halbwüchsiger schon in der Résistance war, das ist schon unglaublich. Und dieses Überleben war von viel Wein begleitet, von vielen Frauengeschichten und von einem großen Narzissmus, und all dem begegnete man auch, wenn man mit ihm zusammensaß. Aber er war eben als Filmemacher nie narzisstisch, sondern er war wirklich ein besessener Wahrheitssucher, ein besessener Sucher nach der Form für die Wahrheit dieser Zeugenschaften. Und ich finde, er ist in der Résistance geblieben. Das hat man immer gemerkt, wenn man mit ihm gesprochen hat.
Als Widerstandskämpfer gegen das Vergessen, gegen den Tod, und auch gegen seinen eigenen Tod. Und deswegen hat mich auch sein Tod heute so fassungslos gemacht. Er mag ja 92 Jahre alt gewesen sein. Aber was ist denn jetzt, wenn einer dieser größten Widerstandskämpfer gegen das Vergessen gestorben ist? Das heißt doch natürlich für uns alle, auch gerade in diesen Zeiten, dass wir jetzt nicht locker lassen dürfen in der Verteidigung dieser grauenvollen Erinnerung, die dieses Werk ausmacht.