"Ich habe das Leben als etwas gesehen, das mir zugemutet und angeboten wird. Mach was draus!" So hat Dieter Wellershoff gelebt und so hat er es in Dutzenden von Romanen, Erzählungen, Drehbüchern und Hörspielen beschrieben. "Die beiden Dinge, die uns hindern, die Wirklichkeit wahrzunehmen, das sind die Lebensroutine, ohne die wir nicht leben können, die vielen Routinen, Gewohnheiten, die unser Leben bestimmen - und die Angst. Die Routinen machen das Leben schematisch blass, und die Angst verzerrt es."
Erzählerisches Werk handelt von Tiefe und Komplexität
Die Literatur war für Dieter Wellershoff der Versuch, den komplexen Realitäten ins dunkle Auge zu sehen. "Übrigens habe ich immer unterstellt, dass die Realität, in der wir leben, das eigentlich Phantastische ist. Man muss nichts erfinden, was darüber hinausgeht, sondern dass man sie sich nur genauer ansehen muss." Sein erzählerisches Werk handelt ausschließlich von der Tiefe, von den Fallen, von der Komplexität, die knapp unterhalb der gewohnt gewöhnlichen Benutzeroberfläche lauern. "Meine Bücher sollen das Gefühl vermitteln, als ginge man über einen immer heißer werdenden Boden. Und so möchte ich auch schreiben: Die Gedanken müssen heiß sein."
Es begann mit einer Niederlage: 1943 zog Dieter Wellershoff in den Krieg. 18 Jahre alt und aus eigenem Entschluss. An der Ostfront wurde er schwer verwundet. "Ich weiß, dass ich nur zufällig am Leben bin. Und das hat in mir ein beständiges Gefühl von Dankbarkeit, auch von Glück hinterlassen." Über seine Erfahrungen im Krieg hat er in seiner Autobiographie "Die Arbeit des Lebens" und ausführlicher noch in "Der Ernstfall" geschrieben.
Gründer einer eigenen literarischen Schule
Nach seiner Promotion wurde der junge Familienvater Lektor bei Kiepenheuer & Witsch in Köln. Er war nicht nur literarischer Berater von Heinrich Böll, er gründete und begründete auch eine eigene literarische Schule, die als "Kölner Schule des Neuen Realismus" in die Literaturgeschichte einging und Autoren wie Nicolas Born, Rolf Dieter Brinkmann oder Günter Seuren hervorbrachte. "Ich habe meine ganze Literaturtheorie im Grunde auf dem Gedanken gegründet, dass wir die Literatur als Probebühne, imaginäre Probebühne haben, um Risiken und Möglichkeiten und Gefahren des Lebens durchzuspielen bis zu den extremsten Konsequenzen, die wir in der Praxis lieber meiden."
1966 erschien sein erster Roman "Ein schöner Tag". Viele Jahre wurden seine Bücher zwar von der Kritik meist geschätzt, aber ein Publikumserfolg blieb ihnen versagt - darunter so bedeutende Romane wie "Der Sieger nimmt alles", "Die Sirene" und "Die Schattengrenze". Erst im Jahre 2000 gelang ihm - dem 75-Jährigen - ein Bestseller: "Der Liebeswunsch". "Ich möchte die Liebe davor bewahren, sie als ein sicheres Zuhause zu verstehen. Sie ist ein Wagnis und das ist auch ihre Würde, die Bereitschaft, sich auf Unbekanntes einzulassen."
Erzählungen vom Altern und Sterben
Dieter Wellershoff war auch ein ausgezeichneter Essayist, ein Theoretiker, hochgebildet, doch ohne akademisches Geländer entfaltete er ein luzides Gedankengebäude - wie z. B. in "Der Roman und die Erfahrbarkeit der Welt" oder in den vielbeachteten Frankfurter Poetikvorlesungen "Das Schimmern der Schlangenhaut".
Nach vielen Auszeichnungen erhielt er 2014 noch als fast 90-Jähriger den Deutschen Hörbuchpreis für "Ans Ende kommen". Auf dieser CD erzählt er vom Altern und Sterben. Nachdem er die Herausforderungen des Lebens angenommen hatte, stellt er sich denen des Todes mit betörender Klarheit. "Es tröstet mich, wenn ich auf eine Bücherwand gucke, in der alle meine Bücher stehen, die ich geschrieben habe. Es gibt kein besseres Konzept als Leben und der Preis dafür ist Sterben."