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Zum Tod von Frederick "Toots“ Hibbert
Die letzte Ikone des Reggae

Reggae-Legende Toots And The Maytals genoss den Ruf eines jamaikanischen Nationalhelden und war auch mit Ende 70 immer noch auf Konfrontation gebügelt. Am 11. September erlag der Musiker aus Kingston den Folgen einer Covid-19-Infektion. Er hinterlässt sieben Kinder und mehrere Hundert Songs.

Von Marcel Anders |
    Ein Mann mit Sonnenbrille vor den Augen steht auf einer Bühne und hält in der linken Hand ein Mikrofon. Mit der Rechten streckt er den Zeigefinger am waagerecht gehobenen Arm.
    Auch Jay-Z covert seine Songs: Frederick "Toots" Hibbert (Kevin Winter/Getty Images for Coachella/AFP)
    Musik: "Stand Accuse"
    "Früher hat mir das nichts bedeutet. Aber heute ist es mir umso wichtiger: Ich habe für das "R" in Reggae gesorgt."
    Er war ein Mann mit Mission: "Ich rede darüber, die Menschen zu leiten. Ihnen zu helfen, das Richtige zu tun, und an sich selbst zu glauben. Eben tough zu sein."
    Ein politisches Amt hat ihn nie interessiert: "Ich vermeide es, ein politischer Sänger oder Führer zu sein, weil ich Freunde in der Politik habe und sehe, wie viel Zeit sie investieren. Sollte es mal weniger brutal werden, würde ich das vielleicht in Erwägung ziehen"
    Sein wahres Alter kannte er nicht: "Da bin ich mir nicht sicher. Das sollten wir eher weglassen."
    Sein Name: "Meine Frau nennt mich Frederick, aber die meisten kennen mich als Toots And The Maytals. Das ist mein Künstlername. Frederick ist eher privat."
    Musik: "Reggae Got Soul"
    Schwerhörig in Studioqualität
    Eigentlich ist ein Interview Termin mit Toots kein Problem. Der Künstler, der im echten Leben Frederick Hibbert heißt, sei in seinem Studio in Kingston zu erreichen, täglich außer sonntags von 10 bis 20 Uhr, so sein Manager. Ein Techniker werde das Gespräch vor Ort aufzeichnen. Doch zum vereinbarten Termin, Ende Juli, ist Toots nicht erreichbar. Er hat den Zeitunterschied zu Deutschland falsch berechnet und liegt noch in den Federn. Als er zwei Stunden später zurückruft, gibt es ein Kommunikationsproblem. Der 77-Jährige ist schwerhörig, versteht die Fragen kaum. Auch seine Antworten sind wegen der schlechten Telefon-Verbindung kaum verständlich. Doch im Studiomitschnitt wird deutlich: Toots steckt voller Lebensweisheit und Idealismus. Er spricht über seine Karriere und sein Comeback-Album und endet mit einer geradezu kämpferischen Aussage: "Ich höre nicht auf, egal, wie alt ich bin. Denn ich liebe mein Publikum. Und ich setze alles daran, um sicherzustellen, dass es glücklich ist. Nur dann kann auch ich glücklich sein." Sechs Wochen später erliegt Toots den Folgen einer Covid-19-Infektion. Er hinterlässt sieben Kinder, seine Ehefrau Miss D. und Musik für die Ewigkeit. Toots And The Maytals gelten als die Beatles der Karibik.
    Musik: "Pomps And Pride"
    "Rühre das Zeug nicht an"
    Geboren wird Frederick Hibbert Anfang der 1940er-Jahre. Wann genau, weiß niemand. In seinem Pass steht zwar der 8. Dezember 1942, aber er fühle sich nicht wie 77, lacht er. Als Sohn eines Pfarrers aus der Kleinstadt May Pen wächst er als Christ im Mekka der Rastafari-Kultur auf, singt im Kirchenchor und zieht als Teenager nach Kingston, der Hauptstadt von Jamaika. Dort will er sein musikalisches Talent zum Beruf machen und hat Glück: Zusammen mit Ralphus "Raleigh" Gordon und Nathaniel "Jerry" Matthias gründet er das Vokal-Trio The Maytals – aus denen später Toots And The Maytals werden. Den Spitznamen Toots, also Schätzchen oder Süßer, trägt er seit frühester Kindheit: "Der Name ist ein Scherz: Mein ältester Bruder hat mich als Baby "Little Toots" genannt – süßer Kleiner. Und diesen Spitznamen mögen die Leute bis heute. Deshalb kann ich ihn nicht einfach ablegen. Als Entertainer ist er Teil meiner Identität." Diese Identität baut Toots, trotz seiner jungen Jahre, schnell und zielstrebig auf. Er gewinnt renommierte Produzenten wie Prince Buster oder Bryan Lee für sich und schafft es mit einigen Singles in die nationalen Charts. 1964 nimmt er sein erstes Album auf: "Never Grow Old". Ein Titel, der zum Lebensmotto wird. Doch es gibt auch Neider, die Toots den Erfolg nicht gönnen. Mehr noch, sie stellen ihn regelrecht kalt. "Da waren Leute, die versucht haben, mir wehzutun, indem sie behaupteten, ich würde Marihuana rauchen. Dabei rühre ich das Zeug nicht an, nicht einmal Tabak. Aber ich hatte halt eine Menge Hits in Jamaika. Und wer auch immer es war, der mir die Drogen untergejubelt hat, ich wurde dafür verhaftet und verurteilt. Mit dieser Gefängnisstrafe wollte man mir eine Lektion erteilen, weil ich zu erfolgreich geworden war und zu oft im Radio lief. Es war eine Verschwörung von Leuten, die neidisch waren. Darüber habe ich dann gesungen."
    Musik: "54-46 Was My Number"
    Tanzen und Nachdenken
    "54-46" – die Nummer, die er während seiner 18-monatigen Inhaftierung trug. Die Zeit im Gefängnis hat ihn politisch radikalisiert und zum Sprachrohr der einfachen Arbeiter der Karibik-Insel gemacht. Und: Er schreibt von nun an andere Songs. Toots will nicht nur unterhalten, er will wachrütteln, Lebenshilfe erteilen und Missstände ankreiden. Dieses Missionarische beschert ihm den Ruf des Teachers, des Lehrers. Dieser Ansatz begeistert auch Musikfans in anderen Ländern, wie den jungen Elvis Costello im fernen Großbritannien: "Diese Musik wurde so gespielt, dass sie dich zum Tanzen aber gleichzeitig zum Nachdenken gebracht hat. Denn es gab eine Verbindung zwischen der Musik und dem Zeitgeschehen, gerade auf Jamaika. Da war es wirklich so, dass Musiker die Schlagzeilen in den Nachrichten aufgegriffen haben, ganz zum Ärger der Politik, die sie am liebsten zum Schweigen gebracht hätte. Insofern hatten Musiker eine wichtige Rolle in der Gesellschaft: Sie haben von Dingen gesungen, über die sich andere nicht zu reden trauten."
    Musik: "Monkey Man"
    Eines der bekanntesten Stücke von Toots And The Maytals: "Monkey Man" aus dem Jahr 1968. Eine unverhohlene Kritik an korrupten Politikern und Staatsdienern und sein erster internationaler Hit. Doch Toots ist nicht nur ein starker Texter, wegen seiner beeindruckenden Stimme gilt er auch als Jamaikas Antwort auf Otis Redding und James Brown. Und: Er ist und gilt als der Erfinder des Begriffs "Reggay", mit dem er 1968 aufwartet. "Die Musik der damaligen Zeit war Ska - der sehr schnell war. Dann kam Rocksteady, gefolgt vom Reggae-Beat, bei dem die Leute nicht richtig wussten, wie sie das nennen sollten. Es war ein Boogie-Beat mit einem Blue Beat, und diese Mischung wurde als alles Mögliche bezeichnet. Bis ich gesagt habe: Dann ist es halt Reggae. Frei nach "ragged" - zu Deutsch: "Schäbig, zerlumpt oder Zerrissen". Ein bedeutungsfreier Begriff, ähnlich wie Grunge. Typisch für den Reggae ist die rhythmische Betonung der Zählzeit "und", in der meist die Gitarre, Keyboards oder Bläser auftauchen und auf "Zwei und Vier" spielen. Toots ist ein typischer Vertreter seines Genres – und wieder nicht: Er integriert Elemente aus Soul, Rock, Funk und African Beats. Was ihn zu einem extrem abwechslungsreichen Künstler macht. Reggae wird zum Exportschlager und Toots zur Galionsfigur des Genres: Er unternimmt erste Tourneen durch Großbritannien, wo er frenetisch gefeiert wird und unzählige Musiker beeinflusst, Madness, The Selecter, die Specials und viele andere, die eine Dekade später für das große Ska-Revival sorgen.
    Musik: "Do The Reggay"
    Musik: "Funky Kingston"
    Respekt der britischen Musikszene
    "Do The Reggay" aus dem Jahr 1968. "Funky Kingston" folgt 1972 und ist eines von Toots bekanntesten Stücken, das unzählige Male gecovert und gesampelt wird, gerade im HipHop der frühen 80er. Dafür hat der Jamaikaner nur selten Tantieme erhalten, genießt aber hohes Ansehen in Musiker- und Kritikerkreisen. "Ich weiß, dass ´Funky Kingston´ wahnsinnig oft und auf unterschiedliche Weisen gecovert wurde. Einfach, weil es so ein großer Hit war. Das erfüllt mich mit Stolz, ganz abgesehen davon, dass es eine gute Sache für meine Karriere war. Übrigens kam die Idee von Chris Blackwell, der meinte: "Lass es einfach nach Kingston klingen." Das habe ich, und es war gut, dass er das gesagt hat." Chris Blackwell, Chef von Island Records, nimmt Toots And The Maytals 1971 unter Vertrag. Mit größeren Rock- und Soul-Elementen will er das Massenpublikum in den USA und in Europa erreichen, das mit Reggae bislang wenig anfangen kann. Das verändern Filmen wie "The Harder They Come" und Toots-Alben wie "In The Dark" oder "Reggae Got Soul": Reggae wird zu einem der angesagtesten Sounds der Mittsiebziger – lange bevor Bob Marley den internationalen Durchbruch schafft. Mitte der 70er sind Toots And The Maytals weltweit in den Charts und touren mit Rock-Acts wie den Eagles, Jackson Browne und The Who, eine Mischung, die nicht immer funktioniert: "Als wir die Gelegenheit hatten, mit The Who zu touren, mussten wir so früh auf die Bühne, dass da kaum Zuschauer waren. Schließlich hatte keiner mit uns gerechnet, weil wir nirgends angekündigt waren. Auf den Plakaten hieß es nur The Who, aber keiner wusste, dass auch die Maytals dabei sind. Von daher haben uns die Leute erst später wahrgenommen, als wir unsere eigenen Tourneen unternommen haben. Da haben sie uns dann akzeptiert, wie The Who, die öfter vorbeischauten, was ich für eine nette Geste hielt. Sie haben gezeigt, dass sie Respekt vor uns haben." Noch mehr Respekt erfahren die Jamaikaner aus der britischen Musikszene der späten 70er und frühen 80er. The Clash und Robert Palmer nehmen Versionen des Titels "Pressure Drop" auf, The Specials covern "Monkey Man" und auch The Police und Elvis Costello greifen das Material auf. "Es war großartig. Zumal ich sie ja nicht darum gebeten hatte. Sie hörten einen guten Song und wollten eine Version davon machen, wie auch ich es oft getan habe. Wobei sie das Ganze so verändert haben, dass sie da ihre eigene Musik hinzufügten. Und das gefiel mir. Dann hatte ich noch einen Song namens "Bam Bam", den ein paar Leute aus Jamaika gecovert haben, und der erst durch sie richtig groß wurde. Insofern ist es eine tolle Sache, etwas zu schreiben, das nach dir noch andere Leute singen können."
    Musik: Jay-Z & Damian Marley - "Bam"
    Sieben Kinder aber Nachwuchssorgen
    "Bam", Jay-Z´s HipHop-Remake des Toots-Titels "Bam Bam" holt die Ikone nach 30 Jahren Flaute wieder aus der Versenkung. Zwar hatte er auf Jamaika 31 Nummer 1-Hits, im westlichen Mainstream ist er allerdings fast vergessen. Das könnte mit einem Fehler zusammenhängen, den Hibbert Anfang der 80er macht: Da spielt er auf einmal Schmusesoul, den er besser Marvin Gaye überlassen hätte. Durch diesen Sound verliert er sein Rock-affines Publikum an Bob Marley. Seitdem werden seine Veröffentlichungen sporadischer und seine Tour-Aktivitäten immer umfangreicher. Toots verdient seinen Lebensunterhalt als Live-Act. Seine Tonträger sind vor allem Cover-Alben, Greatest Hits oder Neuinterpretationen seiner bekannten Stücke. Jamaikas letzte Reggae-Ikone, die er seit dem Tod von Jimmy Cliff und Bob Marley ist, leidet an einer Schreibblockade. Das gibt er natürlich nicht offen zu, sondern verkauft seine Live-Aktivitäten mit ausschließlich altem Material als Mission: Als ob er das Andenken an den klassischen Reggae bewahrt und Nachwuchs für das stagnierende Genre rekrutiert: "Die jungen Leute versuchen sich zwar am Reggae, aber nicht mit derselben Leidenschaft wie Bob Marley oder ich sie hatten. Sie stehen eher auf HipHop. Dabei sollten sie dem Weg folgen, den wir ihnen aufgezeigt haben und beim Reggae bleiben. Denn das ist die beste Musik, die es gibt, egal ob für Weiße oder Schwarze. Aber die Kids sind zu sehr auf Computer fixiert. Von daher müssen die Künstler meiner Generation halt weiter Reggae spielen – und hoffentlich werden die Jüngeren irgendwann begreifen, dass das die einzig wahre Musik ist."
    Musik: "Got To Be Tough"
    "Got To Be Tough", der Titelsong des 20. Studio-Albums von Toots And The Maytals – und der erste neue seit zehn Jahren. Das Album erscheint zwei Wochen vor seinem Tod. Sämtliche Stücke, so Toots, seien in den letzten Jahren in seinem Heimstudio entstanden, und überraschen mit viel Groove und denkwürdigem Gesang. Toots hat wieder die Power und den Drive wie in den 60ern und 70ern. Das gilt auch für die Texte, die den Teacher-Ansatz vergangener Tage aufgreifen: Toots sagt uns, was wir in dieser Zeit beachten müssen, wovor wir uns zu schützen haben, wem wir vertrauen können und wie wir uns gegenüber unseren Mitmenschen verhalten sollten, nämlich mit Empathie, Liebe und Offenheit. Er verurteilt Rassismus, Kriminalität und Gewalt, aber auch die Sorglosigkeit der Jugend, Pensionskürzungen durch den Staat und mangelnde Maßnahmen gegen den Klimawandel. Ein Werk mit Weisheit und Weitsicht. "Die Welt ist verrückt geworden, sie weiß nicht mehr, was sie glauben soll und was nicht. Wir müssen schleunigst die Probleme angehen, die sich da stapeln. Schließlich gibt es ein Heilmittel gegen alles. Irgendwann bestimmt auch gegen Corona und andere schlimme Krankheiten. Und dass gerade etwas falsch läuft, spüren auch die Menschen hier auf Jamaika – weiße wie schwarze. Deshalb habe ich "Warning Warning" geschrieben - als Warnung."
    Musik: "Warning Warning"
    Doch Toots hebt nicht nur den Zeigefinger, er hat, so scheint es, wieder Lebensfreude und Spaß an der Musik. Das entspricht seinem Naturell: Elvis Costello, ein langjähriger Freund, bezeichnet die Reggae-Ikone als "echte Type" und Ziggy Marley, ältester Spross des großen Bob, lässt es sich nicht nehmen, Toots bei einem bemerkenswerten Cover von "Three Little Birds" zu begleiten. "Bob und ich waren gute Freunde. Ich vermisse ihn sehr. Deshalb habe ich diesen Song mit seinem ältesten Sohn, Ziggy, aufgenommen. Er nennt mich "Onkel", ich nenne ihn "meinen Neffen". Was die Musik betrifft, habe ich sie etwas anders angelegt als es Bob getan hätte. Also ein bisschen schneller, damit die Leute es schneller verstehen. Das Resultat ist wirklich nett." "Three Little Birds" hätte ein Highlight der Welttournee 2021 werden können, doch Toots hat den Kampf gegen Covid-19 nach zwei Wochen Intensivstation verloren. Mit ihm verliert der Reggae seine letzte Ikone – und den Erfinder des gesamten Genres. Was bleibt, ist seine Musik, die Frederick Nathaniel "Toots" Hibbert unsterblich macht.