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Zum Tod von Giwi Margwelaschwili
Ausnahmeerscheinung der deutschen Literatur

Der georgisch-deutsche Schriftsteller Giwi Margwelaschwili ist tot. Er starb am 13. März im Alter von 92 Jahren. In Berlin geboren und aufgewachsen, wurde er 1947 von den Sowjets nach Georgien entführt und lebte dort zwangsweise bis 1990. Er hinterlässt ein grandioses Werk.

Von Enno Stahl |
Schriftsteller Giwi Margwelaschwili 2008 in Berlin
Der Schriftsteller Giwi Margwelaschwili 2008 in Berlin (imago / Sven Lambert)
Einen wie Giwi Margwelaschwili gab es kein zweites Mal unter deutschen Literaten. Seine Ausstrahlung, sein Esprit und sein einzigartiges Werk machten ihn zu einem Solitär im literarischen Betrieb. Das kam nicht von ungefähr: Diese Ausnahmestellung war einer der seltsamsten und auch tragischsten Autorenbiografien geschuldet, die man kennt.
Er wurde 1927 als zweites Kind des georgischen Wissenschaftlers und Exil-Politikers Titus von Margwelaschwili in Berlin geboren. Seine Mutter Mariam wählte im Juni 1933 den Freitod, da sie das Leben in der Emigration nicht verkraftete. Giwi Margwelaschwili besuchte zwischen 1934 und 1946 verschiedene Schulen in Berlin. Deutsch war seine erste Sprache, Georgisch verstand er kaum. Trotz der Repressionen der Nazizeit führte der junge Giwi ein Bohemeleben in Berliner Jazzclubs, dem Swing fühlte er sich zeitlebens verbunden.
Tragische Lebensgeschichte
Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs flohen er und sein Vater vor der Roten Armee nach Italien, wo seine Schwester Elisabeth sich bereits aufhielt. Diese blieb auch dort, nicht aber Vater und Sohn, die kurz vor der Kapitulation der Wehrmacht nach Berlin zurückkehrten – mit fatalen Folgen. Die beiden wurden durch ein Täuschungsmanöver der Sowjets in den Ostsektor der Stadt gebracht.
Titus von Margwelaschwili wurde erschossen, den jungen Giwi, keine 20 Jahre alt, internierten die Sowjets in "Speziallagern", erst in Hohenschönhausen, dann im ehemaligen KZ Sachsenhausen. In Margwelaschwilis Werk kommt dieser Ort nur unter dem verniedlichenden Titel "Sachsenhäuschen" vor. Angesichts der schrecklichen Dinge, die er dort erlebte, erscheint das einigermaßen makaber. In einem Interview mit dem Deutschlandradio im Jahr 1993 erklärte er:
"Bei mir ist das eben ganz automatisch der Fall, ich konnte nicht Sachsenhausen sagen, es musste Sachsenhäuschen sein. Warum denn? Ich will mich nicht als Opfer betrachtet wissen. Ich bin kein Opfer, ich bin da rausgekommen, ich habe es überstanden, ich habe es überlebt. Und es ist eine Genugtuung, dass ich da hervorgegangen bin, nicht als ein Geschädigter, sondern als normaler Mensch. Ich habe Abstand genommen von diesem ganzen Unsinn, dem ganzen Irrsinn und das ist vielleicht das Hauptmotiv, warum bei mir eben Häuschen steht."
Die innere Spaltung blieb
Nach 18 Monaten wurde Giwi Margwelaschwili entlassen. Doch er durfte nicht mehr in den Berliner Westsektor, sondern wurde nach Georgien umgesiedelt und bei ihm völlig unbekannten Verwandten untergebracht. Russisch sprach er zu diesem Zeitpunkt wenig, Georgisch noch immer nicht. Weltanschaulich fühlte er sich eher dem Westen zugehörig, eine innere Spaltung war somit vorprogrammiert.
Nach dem Studium arbeitete Margwelaschwili einige Jahre als Deutsch- und Englischdozent am staatlichen Institut für Fremdsprachen, bis er 1971 an das Philosophische Institut der Akademie der Wissenschaften berufen wurde. Doch die innere Spaltung blieb, sie war grundsätzlich, auch als er 1990 nach Berlin zurückkehren konnte, wo er bis 2011 lebte. Danach zog er aus gesundheitlichen Gründen zu seiner Tochter nach Tiflis. Die Frage nach seiner Heimat konnte er daher nicht leicht beantworten:
"Heimat ist für mich vor allem erstmal sprachlich gesehen natürlich Deutschland. Drüben bin ich eigentlich immer so der sonderliche Außenseiter gewesen. Ich spreche das Georgisch mangelhaft, und das Russische ebenso mangelhaft. Und das sind zwei ganz, ganz bedeutsame Achillesfersen. Denn wenn Sie drüben anfangen, Georgisch mangelhaft zu reden, dann wird der Zuhörer, da schöpft er Verdacht, warum ist denn das so? Da ist er vielleicht kein Georgier, da ist er vielleicht Armenier, der sich für einen Georgier ausgibt, da ist er vielleicht Aserbaidschaner, der auf Georgisch macht. Ich habe unter diesen Charakteristiken übrigens auch gelitten drüben, man hat mir das zu fühlen gegeben in sehr verschiedenen Situationen."
Ein eigenes literarisches Vokabular
Seine literarische Arbeit begann Anfang 1960 in Tiflis. Er schrieb auf Deutsch, ohne jede Hoffnung auf Veröffentlichung. Es ist kein Wunder, dass er sich so – in der sprachlichen Diaspora – einen ganz eigenen literarischen Kosmos schuf. Der erste große Werkblock, den Margwelaschwili zu dieser Zeit verfasste, war seine Autobiografie "Kapitän Wakusch". Es handelt sich dabei um insgesamt fünf voluminöse Romankonvolute, nur die ersten beiden davon sind bislang veröffentlicht worden.
Wie eigen seine Schreibweise ist, zeigt folgendes Zitat, das den Bericht über Margwelaschwilis zentrales Lebensunglück einleitet, die Entführung durch den sowjetischen Geheimdienst:
"Was sich aber an jenem Freitagabend in der Wartburg abgespielt hatte, war Folgendes. Gegen acht Uhr hatte Wakusch sein Radio mit den neuesten Dixieländern (ein buntes Kurzweil der A.F.N. mit verschiedenen Militärjazzkapellen charlestonscher Vickers) abgestellt, um sich für einen Besuch bei Freund Hans Georg (der immer noch im Krankenhäuschen lag) fertigzumachen. Da klingelte es. Der Exmamassachlissimus machte auf. Wakusch, der durch den Schlitz einer Sprechzimmertür den hellen Wartburgsflur gut überblickte, sah einen untersetzten, dunkel gekleideten Mann mit einfachen, breiten kolchosischen Gesichtszügen über die Schwelle treten. Die flache Schiebermütze (…) wies ihren Inhaber als ein Ostminster zugehöriges Individuum aus."
Geschichten über die Buchwelt
Margwelaschwili erfand ein originäres Vokabular. Er setzte Begriffe wie "Dixieland" (für westliches Land), "Wartburg" für die sichere, eigene Wohnung, "kolchosisch" für russisch oder "Ostminster" für den östlichen Teil der Welt. Dieses Verfahren könnte als ein literarischer Reflex auf seine intensive Heidegger-Rezeption zu werten sein. Margwelaschwilis erste philosophische Schrift, er verfasste später viele neben seinen belletristischen Werken, war eine Arbeit über den deutschen Ontologen.
Wie dieser in seinem Hauptwerk "Sein und Zeit" einen Begriff nach dem anderen in den Diskurs einführt, bis schließlich das gesamte Buch lediglich aus genuinen Heidegger-Worten besteht, operiert auch Margwelaschwili. Seine spezifische Terminologie behielt er in allen seinen Werken bei, auch als er sich bereits einem ganz anderen Sujet zugewandt hatte als dem eigenen Leben, nämlich den Geschichten über die Buchwelt.
Was ist ein Autor?
Aufbauend auf der Beschäftigung mit neueren Erzähltheorien sowie der Lektüre französischer Dekonstruktivisten entwickelte Margwelaschwili das irisierende Konstrukt einer rein abstrakten Dichtung. Buchmenschen durchgeistern es, klassisches Personal der Weltliteraturgeschichte, wie etwa Romeo und Julia, die sich von ihrem Autor unabhängig machen. Analog zum französischen Theoretiker Michel Foucault fragen auch Margwelaschwilis Buchmenschen: "Was ist ein Autor?". Sie relativieren seine Bedeutung und stellen seinen Hoheitsanspruch in Frage, wie ein kurzer Text Margwelaschwilis, gelesen von ihm selbst, zum Ausdruck bringt
"Solange der thematische Lesergehorsam die Lebensgeschichten von Buchpersonen gleichmütig hinnimmt, solange Ehrfurcht vor den Autoren die Verfassung von Textweltmenschen für unantastbar hält, solange keine Fantasie Buchweltpersonen federführend zu den mannigfaltigsten und ungeahntesten Leselebenschancen befreit, solange in der Buchwelt das Copyright ungebrochen fortbesteht, wird die reale Welt der Leser Tyrannen kennen."
Kritik am thematischen Gehorsam
Es ging Margwelaschwili also durchaus um die Befreiung vom Text. Aufgewachsen in einer Diktatur, unter dem NS-Regime, gelebt unter einer zweiten, dem Stalinismus, verbanden sich Texte für ihn eben auch mit Herrschaft. Das Relativieren von Textfunktionen in seiner Literatur diente dem Autor mithin zur Kritik am, wie er es nennt: "thematischen Gehorsam". Dieser wird den Menschen durch Texte abverlangt, die unbedingten Gehorsam einfordern für das, was geschrieben steht.
"Jedenfalls hat mich in allem, was ich da so gemacht habe, was ich so geschrieben habe, der Gedanke gespornt, die Textweltmenschen, wie ich sie so nenne, aus ihren Texten zu befreien. Damit meinte ich natürlich, dass wir von ideologischen Texten loskommen sollten und das war dann so hyperbolisch eben das Gegenstück dazu, nicht? Ich habe mich dann mit der Befreiung von Textweltmenschen aller Art befasst, ich sah sofort, dass es ein unheimlich weites Feld existiert, die ganze Literatur wartet auf Befreiung, wenn man so will."
Nur ein Bruchteil seiner Schriften ist publiziert
Die Germanistin Sieglinde Geisel hat einmal über Margwelaschwili gesagt, er sei eine "Buchperson in einem fremden Text". Seine eigenartige Lebensgeschichte und die noch ungewöhnlichere literarische Bewältigung derselben legen diesen Gedanken nahe.
Nun aber wird es keine neuen Texte über Buchwelten und Buchfiguren mehr geben. Denn ihr Verfasser, so fiktiv Margwelaschwili Autorenschaft auch sah, er lebt nicht mehr. Bislang ist nur ein Bruchteil seiner Schriften publiziert. Daher steht zu hoffen, dass die Werkschau im Verbrecher Verlag noch geraume Zeit mit Erstveröffentlichungen fortgesetzt werden kann – sodass Giwi Margwelaschwili als Buchperson für seine Leserinnen und Leser weiterwirkt.
Giwi Margwelaschwili: "Kapitän Wakusch. In Deuxiland"
Verbrecher Verlag, Berlin. 416 Seiten, 26 Euro.
Giwi Margwelaschwili: "Kapitän Wakusch. Sachsenhäuschen"
Verbrecher Verlag, Berlin. 540 Seiten, 28 Euro.
Giwi Margwelaschwili: "Die Medea von Kolchis in Kolchos"
Verbrecher Verlag, Berlin. 168 Seiten, 20 Euro.
Giwi Margwelaschwili: "Bedeutungswelten. Giwi Margwelaschwili im Gespräch mit Jörg Sundermeier"
Verbrecher Verlag, Berlin. 160 Seiten, 15 Euro.