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Zum Tod von Hugo Claus

Am Mittwoch ist im Alter von 78 Jahren Belgiens wohl bekanntester Schriftsteller in Antwerpen gestorben: Hugo Claus. 1929 in Brügge geboren, schaffte er 1947 mit einer Gedichtsammlung schon sein Debüt als Schriftsteller. Die Werke von Hugo Claus wurden in viele Sprachen übersetzt, natürlich auch ins Deutsche, und vor allem der 1983 erschienene Familien- und Bildungsroman "Der Kummer von Flandern".

Moderation: Rainer Berthold Schossig |
    Rainer Berthold Schossig: Frage an Herrmann Wallmann, freier Literaturkritiker in Münster. Mit Hugo Claus ist sicher nicht nur der Verlust eines niederländischen Autors zu beklagen, sondern der eines europäischen?

    Hermann Wallmann: Ja, dass es ein Verlust für die europäische Literatur ist, kann man gerade in diesen Tagen und in diesen Wochen nachvollziehen, weil zum ersten Mal ein Buch in einigermaßen angemessener Übersetzung herauskommt, sein Hauptwerk, nämlich "Der Kummer von Belgien", nicht "Der Kummer von Flandern", wie er ursprünglich hieß. Ein riesiger Roman, ein Gesellschaftspanorama, ein Familienroman, ein Entwicklungsroman, der Belgien in allen Facetten zeigt und im Grunde auch die komplizierte Relation zwischen Belgien und Deutschland.

    Schossig: Hugo Claus hat sich sehr früh nach den Anfangsjahren schon von seiner Heimat etwas abgewandt ins Internationale hin. Er ist aber seiner Heimat, wie Sie sagen, auch gerade in seinem Schreiben sehr treu geblieben?

    Wallmann: Ja, im Grunde, in allen seinen Büchern kann man feststellen, dass es auf der einen Seite den Pol gibt einer aberwitzigen Sprachvirtuosität, und zwar Virtuosität, die durch alle sprachlichen Register hindurchgeht. Zwischen Mundart und Hochsprache hat er alles offenbar drauf, und die Neuübersetzung zeigt das ein bisschen. Auf der anderen Seite ist die Internationalität darin zu sehen, dass er zum Beispiel in seinen Dramen immer wieder die mythologischen Subtexte hat, die antiken Tragödien, oder dass er Büchner übersetzt hat, Büchner hat Dantons Tod ausgerechnet, dass er Shakespeare übersetzt hat. Wie selbstverständlich ist er ein ganz internationaler Großmeister.

    Schossig: Er ist jetzt mit 78 Jahren in den Freitod gegangen. Herr Wallmann, wo kam er her, woher kam dieser Sinn für das Experiment, diese Hinwendung zum Existenzialismus? Das war die Aufbruchzeit der Nachkriegszeit, denke ich.

    Wallmann: Ich möchte mal einen kühnen Vergleich machen. Ich vermute mal, dass der so gar nicht ganz weit entfernt ist in einem gewissen Sinne von unserem Clemens Meyer, der jetzt diesen Preis bekommen hat. Wenn man so will, er hat Kontakt zu dem Prekariat gehabt. Er hat umgekehrt auch den Kontakt gehabt zum internationalen Jetset, und er hat den Kontakt zur seiner Bibliothek gehabt. Ich meine, an vielen Beispielen könnte ich zeigen, wie aberwitzig er das Vulgäre und das Erhabene sozusagen miteinander verbinden kann. Es gibt ein Gedicht über Georg Büchner. Da gibt es ein paar Zeilen, da sagt er sinngemäß, wer verwundet ist, spricht keine Verse, er beißt auf eine Katze zwischen den Zähnen. Die Katze gefriert, seine Zähne auch. Und da merkt man im Grunde, er setzt sich mit Büchner auseinander und dann mit diesen animalistischen Vokabeln. Diese Bandbreite, die ist, glaube ich, ziemlich einzigartig.

    Schossig: Er verbindet, wenn ich das recht sehe, Politisches mit Sozialem und Realität mit Fiktion?

    Wallmann: Ja, und die Realität, die er mit Fiktion verbindet, das könnte man vielleicht in folgendem Bild sehen. Immer wieder gibt es bei ihm sozusagen abgelauschte, abgehörte Gesprächssituationen, also Kneipengespräche, Gerüchte, die mehr oder minder mundartig daherkommen. Und mit seinem eigenen Assoziationsraum verbindet sich das dann zu einer Prosa, die man manchmal, glaube ich, sogar mit Finnegans Wake vergleichen müsste.

    Schossig: Der "Kummer von Belgien", Sie haben es erwähnt, kann man sagen, dass sozusagen die Quintessenz seines Werkes war und er glücklich sein konnte, dass er dieses Werk nun auch vollendet hat und dass es auch auf Deutsch erschienen war?

    Wallmann: Na ja, das ist jetzt ein Vierteljahrhundert alt, aber dass es jetzt in einer einigermaßen angemessene Übersetzung herauskommt, das ist so ungefähr so wichtig wie Wollschläger, der damals James Joyces übersetzt hat. In dieser neuen Übersetzung von Waltraud Hüsmert in einem Gedicht an den unbekannten Leser, an die unbekannte Leserin. Da sagt er: "Geht jetzt, Verse, auf euren leichten Füßen. Ihr habt nicht schwer getreten auf der alten Erde, wo die Gräber lachen, wenn sie ihre Gäste sehen. Die eine Leiche auf die andere gestapelt, geht jetzt und taumelt zu ihr, die ich nicht kenne." Die ich nicht kenne, das ist die Leserin, von der er sich erhoffte, dass sie ihn wahrnimmt und damit seine Gedichte einigermaßen unsterblich macht.

    Schossig: Unsterblichkeit durch die Leser. Das war Uwe Kamman, er erinnerte an den belgischen Schriftsteller Hugo Claus, der heute in Antwerpen den Freitod wählte.