Am 5. Dezember 2015, einen Tag vor seinem 86. Geburtstag, gab Nikolaus Harnoncourt auf einem handgeschriebenen Zettel dem Theater an der Wien bekannt: "Meine körperlichen Kräfte gebieten eine Absage meiner weiteren Pläne". Mehr als ein halbes Jahrhundert lang war er der prägende Vorkämpfer einer historischen Musizierpraxis: Johann Nikolaus Graf de la Fontaine und d'Harnoncourt-Unverzagt.
1929 in Berlin geboren als Sohn eines österreichischen Bauingenieurs. Er war ein Mann von historischem Bewusstsein – und das in großen Dimensionen. Harnoncourts Mutter stammte aus dem Hause Habsburg, ein Oheim väterlicherseits half an der Seite von Karl Martell im Jahre 732 bei Poitiers das Sarazenen-Heer in die Flucht zu schlagen.
Vorliebe fürs Historische
Das liegt nun schon geraume Zeit zurück, mag aber die Vorliebe fürs Historische erklären. Unverzagt begann Nikolaus, Absolvent der Wiener Musikakademie, 1952 als Cellist bei den Wiener Symphonikern. Doch das erfüllte ihn nicht ganz und gar. Bereits ein Jahr nach Antritt des Orchesterdienstes gründete er den Concentus Musicus – ein Ensemble "historischer Instrumente" (bzw. nach alten Rezepten neu gebauter):
"Über alte Geigen, die zurückgebaut wurden und wodurch sie sich unterscheiden: durch andere Hälse, Zargen, Saiten und Bögen."
Als Dirigent begann Harnoncourt, dem entgegenzuwirken, was er "stumpfsinnig-ästhetisierendes Musizieren" nannte. Er opponierte musikalisch hörbar (und in galligen Begleitkommentaren) gegen die NS-geprägte Ästhetik Karl Böhms und Herbert von Karajans. Doch er wollte nicht einfach ältere Tonkunst aktivieren, weil Musik eben früher einfach schöner gewesen sei, sondern das Abgesunkene, Vergessene, Missverstandene wieder authentisch zum Sprechen bringen, auf sachkundig-intelligente Weise verständlich machen. Nicht zufällig heißt Harnoncourts erste Essay-Sammlung "Musik als Klangrede".
"Über die Bedeutung der Verwendung von "historischen" Instrumenten insbesondere bei Oratorien Händels und Bachschen Kantaten."
Kein medienwirksames Grinsen
Von Bach und Mozart stieß er dann "nach vorn" zurück: zu Monteverdi. Bald erwies Harnoncourt sich nicht nur als einer der lebendigsten Vertreter der auf "Alte Musik" konzentrierten Spezialisten-Zunft, sondern war es ihm maßgeblich zu verdanken, dass diese vom Rand des "klassischen" Musik-Betriebs in dessen Mitte aufrückte. Spät wurde der ziemlich gestrenge Kapellmeister, der mit bloßen Händen dirigierte und bei der Arbeit nie medienwirksam grinst, zu den Salzburger Festspielen gerufen – 1992. Das ging nicht gut. Erst unter Gérard Mortiers Nachfolger Peter Ruzicka schloss ihn das Festspielpublikum beim Mozart-Super-Festspielsommer 2006 ins Herz.
Längst hatte sich Harnoncourt verstärkt dem 19. Jahrhundert zugewandt. Dessen Interpretationsmuster lehnte er, der doch sonst so historisch dachte, zwar kategorisch ab. Doch auch aus dessen großen Musik-Kontingent ließ er die eine oder andere Perle gerne funkeln – nicht nur die halbseidene "Périchole" von Offenbach, sondern auch das Ideendrama des Beethovenschen "Fidelio". Oder – es sei ihm nicht vergessen – die vergessenen Bühnenwerke von Franz Schubert.
"In den letzten zehn Jahren war er es in hohem Maß, der das Theater an der Wien zu einem Publikumsmagneten und zum interessantesten der drei Wiener Opernhäuser machte."