"Alles, was nicht weh tut, ist dokumentiert", schreibt Per Olov Enquist in "Kapitän Nemos Bibliothek", die wirklichen Schmerzpunkte bleiben verborgen. In seinen Romanen "Der Besuch des Leibarztes", "Lewis Reise", "Das Buch von Blanche und Marie", "Ein anderes Leben" und "Das Buch der Gleichnisse", die er zwischen 1999 und 2013 schrieb, entwirft der schwedische Romancier Räume, in denen sich Menschenschicksale in verschiedenen Zeitepochen spiegeln. Zwischen nachweislich Geschehenem und Rekonstruktion liegt jene Landschaft, die den Autor von Anbeginn interessiert hat.
In jungen Jahren als Reporter tätig, war er 1972 bei den Olympischen Sommerspielen in München dabei. Noch während seiner Studienzeit in Uppsala, wo er mit dem anderen Giganten der schwedischen Literatur, Lars Gustafsson, ein Zimmer teilte, legte er 1961 seinen vom französischen Nouveau Roman inspirierten Roman-Erstling "Das Kristallauge" vor. 1975 debütierte Per Olov Enquist mit dem Theaterstück "Die Nacht der Tribaden", das in 30 Sprachen übersetzt wurde. In seinen literarischen Texten gehen Authentizität und Fiktionalität eine einzigartige Symbiose ein, in der immer wieder geheimnisvolle Notizbücher, verloren geglaubte Briefe, weltliche und literarische Schriften sowie rätselhafte Dossiers und Fotos die Stoffbasis bilden.
Sehnsucht nach dem Vater
Die 1985 entstandene parabelhafte Liebesgeschichte "Gestürzter Engel" bezeichnete Per Olov Enquist als ein Wunder. Hatte er doch geglaubt, keine Romane mehr schreiben zu können. Nun aber liest sich der "Gestürzte Engel" wie eine sehnsuchtsvolle Ouvertüre zum sechs Jahre später entstandenen Roman "Kapitän Nemos Bibliothek".
Immer wieder trieb Per Olov Enquist die Frage um, wie eine versunkene Zeit zu kartografieren sei, deren Teil man selbst ist. In "Kapitän Nemos Bibliothek" spielt dabei die Sehnsucht des namenlosen kindlichen Ich-Erzählers nach dem Vater eine zentrale Rolle. In einem Interview erinnert sich der Autor:
"Es gab eine Landschaft, die ich kannte sehr, sehr wohl. Und später kommt alles zusammen in einer Geschichte, die fast dokumentarisch war, aber nicht dokumentarisch ist. Aber doch, so das es eine Mischung ist von dem, was damals sehr viel bedeutete und später viel mehr bedeutet.
Mein Vater war sehr, sehr früh gestorben, ich war nur sechs Monate alt und ich wusste ganz wenig über diesen Vater. Er war gestorben, Punkt um. Und er sitzt im Himmel und war wahrscheinlich sehr glücklich, auf der linken oder rechten Seite von Gott - und das war vielmehr menschlich als theologisch."
So bin ich ein Mensch geworden
Der Text wird zur Hommage an einen Vater, der existiert hat, doch nur als literarische Figur überlebt. Das Dorf Hjoggböle, wo der Autor 1934 geboren wurde und aufwuchs, wird dabei zur Allegorie einer entbehrungsvollen Zeit, die von materieller Not, seelischer Kälte und von Gott, dem ewig strafenden Vater, beherrscht wird.
Im Roman "Lewis Reise" von 2001 verknüpft Per Olov Enquist erneut Dokument und Fiktion. Diesmal sind es Zeugnisse aus dem Leben des Predigers Lewi Pethrus, der als Vater der schwedischen Pfingstbewegung ein weltumspannendes Imperium von 250 Millionen Anhängern schuf, Mitbegründer der Christdemokratischen Partei Schwedens war und in seinem Todesjahr 1974 von König Carl Gustaf mit dem Wasa-Orden ausgezeichnet wurde. Der Autor erinnert an diese Volksbewegung, die als Reaktion auf die Aufklärung charismatische Prediger und Propheten, Apokalyptiker und Politiker hervorbrachte.
Per Olov Enquist war der Meinung: "Das Interessante mit dieser pietistischen Bewegung in Nordschweden – evangeliska fosterlandsstiftelsen -, das war sehr stark von dem Herrnhutismus beeinflusst. Das ist mit Blut, Mystik, eine ganz besondere, sehr spezielle, ein bisschen wahnsinnige, aber doch sehr interessante Bewegung mit einer Mischung von nordschwedischem Pietismus und böhmischen Herrnhutismus."
Sie berührt auch das Leben von Maja, der Mutter des Autors. Ihr ist "Lewis Reise" gewidmet, da sie ein Kind dieser Erweckungsbewegung war.
"Meine Mutter war eine Bauerntochter, die studierte als Dorflehrerin und sie war sehr stark engagiert in der folkpartiet, das ist die liberale schwedische Partei. Sie war ein großer Bewunderer des Leiters der schwedischen Liberalpartei. Ich war das einzige Kind. Ich habe alles von ihr gelernt. Die ersten 15, 16 Jahre sind doch so fantastisch wichtig. Gott im Himmel. Alle Bauernfrauen waren sehr stark, die hatten Kontrolle über die Kinder und die Ökonomie und die Religion. Aber die Frauen waren da die ganze Zeit. So das war völlig, völlig natürlich. Das war ein Matriarchat. Als ich den Roman geschrieben habe, war ich 66 Jahre alt und ich habe herausgefunden mit einer Mischung aus Schrecken und Erstaunen: So bin ich ein Mensch geworden!"
Ein Buch der Gleichnisse
In der Rückbesinnung auf das Vergangene und deren Rekonstruktion legt Per Olov Enquist immer neue Schmerzzentren frei. Im Realen verankert, werden sie in der poetischen Fiktion zu fragilen Utopien. So nennt er auch seine Essays, die 1997 unter dem Titel "Die Kartenzeichner" erscheinen. Er agiert darin als poetischer Landvermesser, um die Spanne zwischen Schmerz und Erinnern zu erkunden.
Resultat dieser intensiven Suchbewegung ist auch "Das Buch Blanche und Marie" von 2005 – eine moderne Parabel über zwei weibliche Biografien und zwei wissenschaftliche Ereignisse im 20. Jahrhundert: die Psychoanalyse und die Entdeckung der Radioaktivität. Die Protagonistinnen sind die Physikerin Marie Curie, die zweimal den Nobelpreis erhielt und als erste Frau an der Sorbonne lehrte, und Blanche Wittman. Sie war die Lieblingspatientin des Neurologen Charcot an der Pariser Nervenanstalt Salpêtrière. Die im Buch gelebte Nähe der beiden Frauen ist Konstruktion. Sie sind sich im wahren Leben wohl nie begegnet. Der Stoff hat den Schreibenden schon früh interessiert:
"Diese Idee mit Blanche und Marie ist alt für mich. Ich hatte einmal in die Mitte der 60er-Jahre einen Versuch gemacht, über dieses Thema zu schreiben. Ich habe Texte von ‚66 mit Blanche und Marie. Und ich versuchte, ein Theaterstück daraus zu machen, inmitten der 80er-Jahre, das geht nicht. Und so habe ich einen Roman geschrieben - und das war möglich."
Per Olov Enquist entwirft in seinen Büchern eine spannungsreiche Erinnerungslandschaft, in der es um die weißen Flecken in Schwedens Historie und in der eigenen Biografie geht.
Mit dem Roman "Das Buch der Gleichnisse" unterzieht der Autor 2013 seine Schreibexistenz einer schonungslosen Revision. Wieder sind es Schriftstücke, von denen eine starke Beunruhigung ausgeht. Sie grundieren seine literarische Fallstudie über die ewigen Rätsel menschlicher Existenz und über das Wagnis, darüber zu schreiben.
Per Olov Enquist hinterlässt mit seinem umfangreichen Werk Sätze, die sich tief ins Gedächtnis eingeschrieben haben. Künftig wird der Leser die Kraft der Erinnerung selbst aufbringen müssen, um das Geheimnis der eigenen Existenz zu ergründen. Begleiten könnte ihn dabei ein Gedanke aus "Kapitän Nemos Bibliothek": "Wenn man den Schmerz fortwirft, war er vergebens. Dann hat er nur wehgetan."
Bücher von Per Olov Enquist:
- "Die Ausgelieferten". Roman. Aus dem Schwedischen von Hans-Joachim Maass. 2011. Carl Hanser Verlag, München. 473 Seiten
- "Der fünfte Winter des Magnetiseurs. Roman. Aus dem Schwedischen von Hans-Joachim Maass. 2002. Carl Hanser Verlag, München. 261 Seiten.
- "Kapitän Nemos Bibliothek". Roman. Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt. 1994. Carl Hanser Verlag, München. 238 Seiten.
- "Der Besuch des Leibarztes". Roman. Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt. 2001. Carl Hanser Verlag, München. 372 Seiten.
- "Lewis Reise". Roman. Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt. 2003.Carl Hanser Verlag, München. 573 Seiten.
- "Das Buch von Blanche und Marie". Roman. Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt. 2005. Carl Hanser Verlag, München. 238 Seiten.
- "Ein anderes Leben". Roman. Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt. 2009. Carl Hanser Verlag, München. 543 Seiten.
- "Das Buch der Gleichnisse". Roman. Aus dem Schwedischen von Wolfgang Butt. 2013. Carl Hanser Verlag, München. 224 Seiten.