Archiv

Zum Tod von Siegfried Lenz
"Er war keine Trompete"

Siegfried Lenz sei "ein bescheidener und liebenswerter Zeitgenossen" gewesen, sagte der Literaturkritiker und Publizist Fritz J. Raddatz. Aber er habe sich auch gelegentlich hörbar in politische Dinge eingemischt. Bei einem solchen umfangreichen Werk dürfe man sich nicht lediglich auf das eine Werk "Die Deutschstunde" konzentrieren.

Fritz J. Raddatz im Gespräch mit Beatrix Novy | 07.10.2014
    Der Schriftsteller Siegfried Lenz raucht am 08.02.2011 während eines Interviews in Hamburg seine Pfeife.
    Der Schriftsteller Siegfried Lenz zählte zu den bedeutendsten Autoren der Nachkriegsliteratur. (pa/dpa/Bimmer)
    Beatrix Novy: Er brauche Geschichten, um die Wirklichkeit zu verstehen, hat Siegfried Lenz gesagt. 88 Jahre ist er alt geworden, ohne je mit dem Schreiben aufzuhören. Der Literaturkritiker, Publizist und Autor Fritz J. Raddatz, Jahrgang 1931, ist nicht ganz sein Alters-, aber doch ein Generationsgenosse, und jedenfalls hat er den Schriftsteller vielfältig begleitet, hat sein Werk beobachtet und beschrieben. Und - das habe ich ihn vor der Sendung gefragt - war auch vielleicht sein Freund?
    Fritz J. Raddatz: Na, sagen wir besser Weggefährte und befreundet. Aber ein richtiger enger Freund war er nicht.
    "Er stellte sich eigentlich gerne in den Hintergrund"
    Novy: Sie haben in Ihrer Rede zu seinem 80. Geburtstag mal von ihm gesagt, Siegfried Lenz hat das getan, was Arno Schmidt mal vorgegeben hat. Er ging als Schriftsteller allein, er war ja überhaupt kein Öffentlichkeitssucher. Aber er hat sich auch nicht abgesondert von der Gegenwart, und da gibt es ja auch eine politische Geschichte. Er war beides. Könnte man so sein intellektuelles Naturell beschreiben?
    Raddatz: Ja. Das eine war, dass er ja eigentlich sich gerne in den Hintergrund stellt, ein bescheidener und liebenswerter Zeitgenosse war. Das andere war, dass er, da sein Impetus auch Zorn und Zweifel und Trauer war, sich gelegentlich und ganz hörbar in politische Dinge eingemischt hat: schon bei dem ganz frühen kleinen Taschenbuch bei Rowohlt "Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung", später zusammen mit seinem Freund Günter Grass bei bestimmten Wahlreden. Also er war schon auch ein sehr politisch denkender Mensch, aber er war keine Trompete.
    "Er war sowohl der freundliche Kollege als auch ein Einsamer"
    Novy: Haben Sie ihn im privaten Zusammenhang auch so erlebt?
    Raddatz: Ja. Ich habe ihn immer als beides erlebt, und das war das Wunderbare bei ihm und das war auch meiner Meinung nach das Wunderbare an seiner Literatur: einerseits ein bisschen der zurückhaltende Märchenerzähler, der freundliche Begleiter auch des Schreibens eines Kollegen, und dann aber konnte er auch sehr präzise genau und hart sein. Das ist meiner Meinung nach auch die innere Gräte seiner Prosa. Die Menschen irren sich, wenn sie das nur hübsch oder nett oder pläsierlich finden, denn in allem und nicht nur in dem berühmten "Deutschstunde", sondern auch in Erzählungen, in anderen Romanen kann man diesen Impetus, dieses, ich möchte es sogar nennen, Prinzip Zweifel, Zweifel, ob es denn Wahrheit überhaupt gibt, Wahrheit in der Geschichte, also der politischen Historie, und auch Wahrheit in dem einzelnen Menschen. Es sind immer einerseits von ihm geliebte Personen. Das ist das Schöne an seinem Werk, dass er ja Menschen liebt und gleichzeitig aber auch infrage stellt, was ist in uns eigentlich das Unwahrhaftige.
    Er war sowohl der freundliche Kollege als auch, ich sage mal etwas hochgestochen, ein Einsamer, und das hat er durchaus in vielen Essays betont, dass in jedem Künstler ein Stück Asoziales, heißt außerhalb der Gesellschaft stehendes sein muss: ein Fremdling. Und so war er. Ich erinnere mich an viele gemeinsame Abende mit Gästen oder ohne Gäste, oder an eine Akademieveranstaltung zu Ehren des gerade damals gestorbenen Peter Rühmkorf, wo er mit einer Zärtlichkeit über Rühmkorf sprach wie kaum einer der anderen, inklusive des Herrn Raddatz auf dem Podium, aber auch einer Präzision, dass er den politischen Impetus, der ja bei Rühmkorf sehr ausgeprägt war, auch mit begriff und in den Vordergrund stellte.
    "Er hat mit allen seinen Figuren Mitleid"
    Novy: Sie haben eben die Deutschstunde erwähnt, die berühmte. Was würden Sie aber nun sein wichtigstes Werk wirklich nennen?
    Raddatz: Na ja, das ist ganz schwer bei einem so umfangreichen Werk. Es gibt so viele wunderbare Erzählungen, auch noch das Spätwerk, das ich besonders schätze, dass man nicht sich auf ein Buch konzentrieren könnte. Natürlich ist die Deutschstunde das berühmteste, das erfolgreichste, aber Erfolg kann ja auch Missverständnis sein, wie Rilke schon sagte und auch Gottfried Benn. Nicht, dass der Siegfried Lenz den Erfolg gescheut hätte. Er hat sich natürlich darüber gefreut und ihn auch ausgenutzt. Das ist ja klar. Aber es gibt sehr viele kleinere und essayistische Sachen, die ich besonders schätze, wenn er über andere Autoren geschrieben hat, über Heinrich Mann, dessen Einsamkeit, dessen Leid, dass ein Schriftsteller auch Leid kennen muss, und das finde ich ein großes, wichtiges Charakteristikum des Werks, nämlich mit leiden. Er hat mit allen seinen Figuren Mitleid - denken Sie nur an den schrulligen Postboten, sagen wir mal, in der Deutschstunde. Das ist ja nicht nur eine komische Figur, sondern den streichelt er ja eigentlich auch, und das ist ganz großartig bei Lenz.
    Novy: Fritz J. Raddatz über Siegfried Lenz, der heute im Alter von 88 Jahren gestorben ist.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.