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Zum Tod von Stephen Hawking
"Er war ein Aushängeschild für die Wissenschaft"

Der Tod von Stephen Hawking sei ein großer Verlust - nicht nur für die Physik, sondern für die Wissenschaft an sich, sagte Jürgen Renn im Dlf. Hawking habe sich nicht in einer Expertennische verkrochen, sondern sich über die Welt als Ganzes Gedanken gemacht, so der Wissenschaftshistoriker.

Jürgen Renn im Gespräch mit Uli Blumenthal |
    Der Physiker Stephen Hawking
    "Auch als Mensch eine beeindruckende Figur": Stephen Hawking habe gezeigt, dass man auch mit einer schweren Krankheit ein sehr kreatives Leben führen kann, so Jürgen Renn (Imaginechina)
    Uli Blumenthal: Der Tod von Stephen Hawking ist voller zeitlicher Bezüge. Er ist geboren am 300. Todestag von Galileo Galilei, vor 139 Jahren wurde Albert Einstein geboren, heute ist inoffizieller Tag der Konstante Pi, die das Verhältnis des Umfangs eines Kreises im Durchmesser definiert, und in Berlin wurde heute Vormittag eine Physikerin zum vierten Mal Bundeskanzlerin der Bundesregierung Deutschland. Ich bin telefonisch verbunden mit Professor Dr. Jürgen Renn, Direktor am Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte.[*]
    Herr Professor Renn, es gibt heute kaum noch einen Forscher, der einer derart breiten Öffentlichkeit bekannt wäre wie Stephen Hawking, quasi ein Physiker, der eine Art Popstar verkörpert und auch außerhalb der Wissenschaft auch als solcher ein Begriff ist. Wie würden Sie den Menschen Stephen Hawking beschreiben?
    "Das finde ich alles zutiefst beeindruckend"
    Jürgen Renn: Also zunächst mal, das ist ein großer Verlust. Stephen Hawking ist nicht nur für die Physik, sondern insgesamt für die Wissenschaft ein Aushängeschild gewesen. Er hat weltweit Interesse hervorgerufen, er ist auch jemand, der sich in seinen Äußerungen nicht auf die Wissenschaft beschränkt hat, sondern zum Schicksal der Menschheit hier und da Stellung genommen hat, populäre Bücher geschrieben hat, also - wirklich ein großer Verlust.
    Und er ist auch als Mensch eine beeindruckende Figur, denn er hat diese Krankheit, die ja sozusagen auch durch sein Bild im Rollstuhl bekannt geworden ist, sehr, sehr lange und sehr tapfer ertragen und hat gezeigt, dass man auch mit so einer Krankheit ein menschenwürdiges Leben und sogar ein sehr kreatives Leben führen kann. Das finde ich alles zutiefst beeindruckend.
    Die Begründung von Hawkings Ruhm
    Blumenthal: Welche wissenschaftliche Leistung verbinden Sie mit dem Namen Stephen Hawking, worin besteht sein, nennen wir es wirklich so, sein wissenschaftlicher Ruhm?
    Renn: Sein wissenschaftlicher Ruhm besteht vor allem in dem Ausloten der Konsequenzen der allgemeinen Relativitätstheorie Albert Einsteins. Einstein hatte die Theorie ja schon 1915 aufgestellt, und dann gab es einige spektakuläre Bestätigungen, wie die Ablenkung von Licht im Gravitationsfeld der Sonne, aber dann geriet die Theorie praktisch ein bisschen in Vergessenheit - die Quantentheorie, die war anwendungsnäher.
    Durch den Zweiten Weltkrieg hat sich sozusagen die Physik sehr viel stärker dann auch auf militärische Fragen konzentriert, und eigentlich nach dem Zweiten Weltkrieg hat es dann noch mal so was wie eine Renaissance der allgemeinen Relativitätstheorie gegeben, und da ist Hawking einer der großen Namen neben Penrose und John Archibald Wheeler, der den Begriff des Schwarzen Lochs geprägt hat.
    Und einer der ersten großen bedeutenden Durchbrüche von Stephen Hawking war, zusammen mit Penrose gezeigt zu haben, dass diese Singularitäten, diese Unendlichkeiten, die da in den Lösungen der allgemeinen Relativitätstheorie auftreten, nicht irgendwie sozusagen ein Bug der Theorie sind, sondern dass sie wirklich dazugehören und tiefe Aussagen haben.
    Such nach "Schlussstein auf dem Gebäude der Physik"
    Er hat also gezeigt, dass die Singularitäten zur Theorie dazugehören, und er, Penrose und andere haben also sehr vieles auch zum Verständnis von Schwarzen Löchern beigetragen, die als diese ganz exotischen Gebilde in dieser Theorie auftauchen, zunächst mal auch von Leuten wie Einstein gar nicht akzeptiert worden sind. Und heute sind sie Teil unseres physikalischen Weltbildes, und da hat Stephen Hawking ganz Entscheidendes dazu beigetragen.
    Blumenthal: Mit seinem Namen oder seinen Namen trägt ja auch die Hawking-Strahlung - also auch eine weitere Lorbeere in dem Strahlenkranz um den Wissenschaftler herum und seine wissenschaftlichen Leistungen?
    Renn: Absolut. Das ist sicher eine seiner bedeutendsten Leistungen, denn es stehen ja in der heutigen Physik nach wie vor, wie vor fast hundert Jahren, die Quantentheorie und die Relativitätstheorie, also die allgemeine Relativitätstheorie, so nebeneinander, dass man nach einem Schlussstein auf dieses Gebäude der Physik sucht und nach einer Theorie der Quantengravitation. Die ist allerdings sehr schwer zu fassen, auch weil es so wenig Effekte gibt, mit denen man sie greifen könnte.
    Bedeutung der Schwarzen Löcher
    Hawking ist auf die geniale Idee gekommen, einmal zu untersuchen, wie sich Quantenfelder in der Nähe Schwarzer Löcher verhalten, und hat dann festgestellt, zusammen auch mit anderen, dass Schwarze Löcher sich wie thermische Objekte verhalten, also so eine Art Wärmestrahlung aussenden. Und die Prozesse, die da in der Nähe Schwarzer Löcher stattfinden, das sind eben diese Hawking-Strahlungen. Die kann man nicht messen, weil die einfach viel zu schwach ist und wir glücklicherweise nicht so nah an Schwarzen Löchern dran sind, aber sie ist sozusagen eines der sichersten Resultate einer Begegnung von Quantentheorie und Relativitätstheorie.
    Es ist noch keine Vereinigung dieser Theorie, aber man sieht, was an der Grenze zwischen diesen beiden Theorien für merkwürdige Effekte auftreten können: eben dass Schwarze Löcher nicht ganz schwarz sind, sondern strahlen. Ich glaube, wie gesagt, obwohl es nicht experimentell zu bestätigen ist, es ist eines der handfestesten Ergebnisse, dass wir diese Theorie überhaupt haben, und das haben wir Hawking zu verdanken.
    Blumenthal: Sie haben schon von der Versöhnung von Einsteins allgemeiner Relativitätstheorie mit der Quantenmechanik gesprochen, haben es als Schlussstein bezeichnet - wie weit oder wie nah war Stephen Hawking dieser Weltformel oder dieser großen vereinheitlichten Theorie?
    Renn: Das wissen wir natürlich erst, wenn wir sie wirklich haben. Es wird in der ganzen Welt auf vielen sehr unterschiedlichen Wegen nach so einer Vereinigung der beiden grundlegenden Theorien der Physik gesucht, und Hawking hat wirklich mit einer erstaunlichen Kreativität immer wieder neue Ansätze und Lösungsvorschläge dazu gemacht, aber er ebenso wie andere haben noch nicht zu einer endgültigen Lösung gefunden. Und wie gesagt, wie nah wir dran sind, das wissen wir erst, wenn wir sie haben, und wir haben sie noch nicht, ganz eindeutig.
    Gedankenexperimente und Paradoxien
    Aber er hat sicher, das wird man im Nachhinein auch nicht anders sehen, entscheidende Beiträge dazu geleistet. Und er hat sich, wie übrigens Einstein selber auch, immer ganz großartig mit Gedankenexperimenten und Paradoxien beschäftigt und auf diese Weise aus dem wenigen, was wir da experimentell und durch Beobachtungen überhaupt erfahren können, hat er wirklich Funken geschlagen.
    Blumenthal: Wissenschaftliches Forschen besteht ja nicht nur aus Erfolgen, sondern auch aus Misserfolgen oder aus Fehlern. Gibt es solche auch bei Stephen Hawking, wo eine Theorie oder eine Hypothese nicht mehr zu halten war? Es gibt ja auch viele Leute, die über Einstein solche Dinge immer wieder zu widerlegen versuchen, kann man auch etwas bei Hawking finden?
    Renn: Ja, aber man macht es sich halt zu einfach, wenn man immer sagt, das sind die Erfolge und das sind die Fehlschläge. Oft ändert sich das auch in Abhängigkeit von der historischen Perspektive. Als Einstein nach Berlin berufen wurde, hat man ihm vorgeworfen, dass er die Lichtquanten postuliert hat - hinterher hat er den Nobelpreis bekommen und es war sein großer Erfolg. Auch das wissen wir bei Hawking nicht, aber Hawking hat auch, wie andere große Wissenschaftler ebenso, im Laufe der Zeit manchmal seine Meinung geändert und vehement bestimmte Thesen vertreten und sie dann hinterher wieder zurückgezogen. Ich finde, das gehört ganz normal zur Wissenschaft dazu.
    Wissenschaft als risikoreiche Suche nach Wahrheiten
    Die Wissenschaft ist ja keine Religion, wo man an irgendwas glauben muss, sondern man sucht nach der Wahrheit, und da kann man sich auch mal verirren und muss auch mal was riskieren. Und wie gesagt, das ist das Tolle an Hawking, er hat da mit viel Fantasie und Erfindungsgabe immer mal wieder auch kühne Hypothesen aufgestellt, wenn er sie da auch manchmal zurückziehen musste.
    Blumenthal: Für die Entstehung des Universums, so hat Stephen Hawking gesagt, braucht es keinen Gott. Das hat ihm viele Anfeindungen eingebracht, meine Frage aber an Sie: Welche Debatten hat er mit dieser Äußerung angestoßen oder ausgelöst?
    Renn: Na ja, das sind natürlich ehrlich gesagt ganz uralte Debatten, denn seit es die Naturwissenschaft gibt, hat es immer wieder die Fragen gegeben, drängt sie jetzt die Religion zurück. Die Religion hat sich ja auch oft genug von den Naturwissenschaften bedroht gefühlt, und ich glaube, das Terrain einer Begegnung zwischen Wissenschaft und Religion ist ja nicht so einfach, dass man sagen kann, ja, das war vor dem Urknall, da muss es halt einen Gott gegeben haben. Das wäre durchaus zu einfach gedacht.
    "Grobschlächtige Positionen"
    Die Naturwissenschaft hat sich andererseits heute angewöhnt, im Gegensatz etwa zur Zeit Galileis und Newtons, diese Fragen nicht mehr so offensiv zu diskutieren. Hawking hat es immer wieder getan, und ich finde, auch dafür gebührt ihm Anerkennung, also einfach diese Fragen, diese übergreifenden Fragen aufgeworfen zu haben, wenn auch seine Positionen dazu manchmal ein bisschen, sag ich mal, grobschlächtig gewesen sind.
    Blumenthal: In der Öffentlichkeit in den letzten Jahren ist er immer wieder bekannt geworden mit solchen Äußerungen wie "Die Zukunft der Menschheit liegt im All". Bis zuletzt verwies er darauf, dass die Menschheit nicht ewig auf der Erde bleiben könne. 2017 sagte er noch hundert Jahre Zukunft für den blauen Planeten voraus, warnte vor dem Kontakt mit Aliens, die möglicherweise die Menschheit unterwerfen könnten. Hat Stephen Hawking seine Popularität genutzt, so wie Albert Einstein, um auch ganz allgemeine Debatten anzustoßen, die er für relevant hielt und denen er Fragen unserer Zeit sah?
    Renn: Das hat er sicher getan, und ich glaube, das ist auch wichtig, dass ein Wissenschaftler, der da so oft im Scheinwerferlicht steht, sich zu solchen Fragen auch äußert. Auch wenn ich, wie gesagt, diese Positionen etwas skeptisch beurteile, ich bin persönlich der Meinung, wir sollten erst mal unseren Planeten retten, bevor wir von ihm flüchten, was ja auch nicht so ganz einfach ist. Deswegen sind diese Positionen manchmal vielleicht auch sehr überspitzt formuliert, aber er hat immer dadurch Gedanken angestoßen, und ich glaube, darin liegt der Wert solcher Äußerungen. Sie sind provokativ, aber sie haben sicher auch zum Nachdenken angeregt.
    "Die Wissenschaft ist ein Stück weit zu brav geworden"
    Blumenthal: Braucht die Wissenschaft mehr von solchen extrovertierten Forschern, man könnte auch Typen sagen, wie Stephen Hawking, um Laien wenigstens in den Türspalt, sozusagen in einen Raum voller komplexer physikalischer Theorien blicken zu lassen?
    Renn: Ja, das glaube ich unbedingt. Ich finde, die Wissenschaft ist ein Stück weit zu brav geworden, ein Stück weit hat sie sich in ihre Expertennischen verkrochen, und man versteht das, weil man sich da natürlich sicherer fühlt. Da weiß man, was richtig und was falsch ist, und wenn man sich so mit allgemeinen Äußerungen an die Öffentlichkeit wendet, dann riskiert man natürlich, auch mal schwer danebenzuliegen, und ich glaube, das ist bei Hawking natürlich auch manchmal der Fall gewesen. Dennoch ist es wichtig.
    Wir dürfen bei all dem nicht vergessen, auch die genialsten Wissenschaftler sind Menschen, können sich irren. Wissenschaft ist eine menschliche Tätigkeit, aber sie sollte eben keine Nischentätigkeit bleiben, denn dazu ist unsere Welt zu sehr von der Wissenschaft abhängig geworden. Deswegen haben die Wissenschaftler nach wie vor auch eine Verantwortung, nicht nur ihre Wissenschaft zu leisten, sondern sich über die Welt als Ganze Gedanken zu machen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

    [*] Anmerkung der Redaktion: An dieser Stelle haben wir die Funktion unseres Gesprächspartners korrigiert: Jürgen Renn ist einer von drei Direktoren am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte.