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Zum Tod von Ulrich Beck
Er brachte der Soziologie den Glanz zurück

Der verstorbene Münchner Soziologe Ulrich Beck war der bekannteste Vertreter seines Fachs und ein Mann, der sich publizistisch in viele Diskussionen produktiv einmischte und auch politisch engagierte. Eine kritische Würdigung.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann |
    Der Soziologe Ulrich Beck auf einer Veranstaltung im Juni 2013.
    Der Soziologe Ulrich Beck (imago/Metodi Popow)
    Berühmt wurde Ulrich Beck mit seinem Buch "Risikogesellschaft". Es erschien kurz nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986 und schien dem Zeitgeist zu entsprechen, als man den industriellen Fortschritt nicht mehr positiv mit Wachstum und gesteigertem Konsum verband, sondern mit eminenten Gefahren, was bis heute in der von Menschen gemachten Klimaerwärmung gipfelt. Allerdings liegen hier einige Missverständnisse vor. Denn Ulrich Beck verwendet den Begriff des Risikos keineswegs im Sinn von steigenden Gefahren und bevorstehenden Katastrophen, sondern im Sinne eines Bewusstseins, dass man Risiken ausgesetzt ist, sodass man diesen auch rechtzeitig begegnen kann.
    Dazu sagt er selbst über "Großrisiken oder den Gefahren in der Risikogesellschaft, Risiken ist ja eine Form, wie Folgen bedacht werden, auch Folgen, schon bevor sie eintreten, bedacht werden und insofern ein reflexives Bewußtsein, das sehr stark zur Prävention, zur Vorsicht, aber auch in Rückwirkung auf die eigene Entscheidung zur Vermeidbarkeit von Folgen anregt und damit auch das Konsumverhalten verändert."
    Panik und Fatalismus ergeben zwar die andere weit verbreitete Haltung. Doch Ulrich Beck neigt gerade nicht zum Pessimismus. Seine These lautet vielmehr, dass in der modernen Gesellschaft durchaus eine neue Sensibilität für Risiken entstanden ist, die umgekehrt auch wieder zu übertriebenen Reaktionen neigt, man denke nur an die Sicherheitspolitik seit den Attentaten vom 11. September 2001. "Risikogesellschaft" heißt aber für Beck, dass die alte industriegesellschaftliche Moderne, die durch den Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital gezeichnet war, in eine reflexive Moderne übergegangen ist " er spricht auch von zweiter Moderne " in der die gesellschaftlichen Prozesse in einem stärkeren Maße reflektiert werden als zuvor.
    Das Hauptthema seines Buches "Risikogesellschaft" sind denn auch nicht die industriellen Großrisiken, sondern die neuen Lebensrisiken, denen die Menschen ausgesetzt sind, seit die traditionellen Bindungen an politische Parteien, Kirchen, Gewerkschaften und Firmen schwächer werden. Das Hauptthema seines Buches "Risikogesellschaft" ist nämlich der Prozess der Individualisierung, über den er selbst sagt:
    "Der Prozess der Individualisierung wird häufig missinterpretiert. Es geht nicht darum, dass sich hier Gesellschaft auflöst, dass ein Rationalitätsmodell verabschiedet wird, dass die Menschen nur noch um sich selbst kreisen, dass wir eine Ego-Gesellschaft sind, eine Gesellschaft von Ichlingen, sondern es geht darum, dass ein Modell der Integration durch ein anderes Modell ersetzt wird. Es wird sicherlich immer schwieriger, davon auszugehen, dass es einen durchgängigen Integrationsmodus nach dem Muster irgendeiner vorgegebenen Rationalität oder Werthorizontes in diesen spätmodernen oder reflexivmodernen Gesellschaften gibt. Man wird nicht umhinkommen, sich stärker auf die Ebene der Individuen einzulassen und die zu befragen, wie sich in ihrem Sinnhorizont Gesellschaft darstellt und herstellt und wie sie das aus ihrem Handeln erzeugen."
    Den Niedergang der Soziologie miterlebt
    Als Ulrich Beck in den 70er-Jahren an der Ludwig-Maximlians-Universität im Fach Soziologie Assistent war, erlebte er den Niedergang der Soziologie als Leitwissenschaft, eine Soziologie, die sich primär mit Klassen und Schichten beschäftigte und entweder von Marx inspiriert war oder von massivem Antimarxismus. Als er dann seit den 80ern selber Professor war " zuletzt bis 2009 ebenfalls an der Uni München ", entwickelt er einen neuen soziologischen Ansatz, der unter dem Schlagwort Subjektsoziologie in viel stärkerem Maße als zuvor den individuellen Erfahrungshorizont der Menschen soziologisch in den Blick nimmt und dem niedergegangenen Fach Soziologie neuen Glanz verlieh " was die große Leistung von Ulrich Beck ist, eine Art kopernikanische Wende der Soziologie.
    Damit lassen sich die aktuellen Themen produktiv und jenseits der klassischen soziologischen Raster bearbeiten, was Ulrich Beck denn auch mit einer Fülle von Texten bestätigt. Er widerspricht vehement dem gängigen sowohl kulturkonservativen als auch neomarxistischen Lamento vom Wertezerfall und sieht in den veränderten hedonistischen Verhaltensweisen vor allem der jüngeren Generationen gerade kein Ende der Ethik, sondern die Wiederkehr von Moral, allerdings in einer neuen zeitgemäßen Form. Er sagt:
    "Überall wird die Stereotype des Wertezerfalls widerlegt, durch den Hinweis, dass die Jugend überaus moralisch ist und dass sie moralische Werte geradezu hochhält. Wir gehen immer davon aus, dass Egoismus notwendig dazu führt, dass man die Gemeinschaft ablehnt. Wir haben es indes mehr und mehr mit Orientierungen zu tun, in denen die hohe Bewertung von Selbstverwirklichung einhergeht mit einer sehr entschiedenen Suche, was man für andere tun kann und in welcher Weise man für andere da sein kann. Also das was sich in unserem bisherigen Verständnis als ein blanker Widerspruch darstellt, gehört offenbar immer mehr zusammen."
    Dass die Familie an Bindekräften verliert, dass Ehen entweder gar nicht formell eingegangen oder immer häufiger geschieden werden, stellt für Ulrich Beck denn auch keinen Wertezerfall dar, sondern bietet gleichzeitig neue Freiräume, die allerdings immer Risiken bergen. Darüber hat er auch zusammen mit seiner Frau und Kollegin Elisabeth Beck-Gernsheim intensiv gearbeitet. 1990 in "Das ganz normale Chaos der Liebe" vertreten sie die provokante These, dass die Liebe die Ehe zerstört. 2011 schildern sie in "Fernliebe " Lebensformen im globalen Zeitalter", dass Normalfamilien sich in Weltfamilien wandeln, deren Mitglieder an verschiedenen Orten auf der Welt arbeiten und trotzdem eine Form des Zusammenhalts wie des Zusammenlebens finden. Und wenn es doch zur Scheidung kommt, dann entstehen neuen Bindungen, sodass Kinder häufig mehrere Väter und Mütter zugleich haben, was nicht nur ein Nachteil sein muss. Wenn obendrein die Arbeitswelt die Menschen zwingt, sich ständig fortzubilden oder umzuschulen, wenn man sein Leben sowohl familiär wie beruflich selber gestalten, zumindest beieinanderhalten muss, dann entstehen Bastelbiografien und Patchworkfamilien " zwei zentrale Begriffe der Subjektsoziologie, in deren Zentrum die Individualisierung steht.
    Kein bloßer Kritiker der Globalisierung
    Die Prozesse der Individualisierung und der Reflexivierung wirken sich natürlich auch auf das politische System aus. Doch mit dem Schlagwort Politikverdrossenheit will sich Ulrich Beck nicht zufriedengeben. Für Beck wird Politik heute eben nicht nur in den politischen Institutionen gemacht, sondern von aktiven Bürgern in verschiedenen Nichtregierungsorganisationen oder Bürgerinitiativen wie natürlich auch von transnationalen Konzernen, die heute durchaus offen für ethische und ökologische Fragen sein können. Das nennt Ulrich Beck Subpolitik. Er sagt:
    "Die Bereitschaft der Bevölkerungen all dieser Länder, sich in politischen Organisationen zu beteiligen, nimmt rapide ab. Gleichzeitig ist völlig falsch, dies als einfach Politikverdrossenheit zu bezeichnen; denn parallel eben auch wieder in den genannten Ländern lässt sich beobachten, dass die Menschen die politischen Eliten kritisieren, also durchaus mithilfe politischer Argumente kritisieren, dass sie dadurch schon alleine ein politisches Interesse dokumentieren, und dass sie überdies auch bereit sind, politisch zu handeln, allerdings eben nicht in den bisherigen Institutionen des politischen Systems, sondern mehr außerhalb der Institutionen."
    So ist Ulrich Beck denn auch keinesfalls ein bloßer Kritiker der Globalisierung, sondern sieht darin Chancen, den engen Rahmen nationalstaatlicher Politik zu überschreiten. In diesem Sinn ist er ein erklärter Freund der Europäischen Union, hofft aber darauf, dass der europäische Geist gerade von den Bürgern subpolitisch neu belebt wird, während er die deutsche Rolle in der Eurokrise kritisiert. Bereits seit den 90er-Jahren kooperierte er intensiv mit dem englischen Soziologen Anthony Giddens, dem Vordenker von Tony Blairs "New Labour", der sich um einen sogenannten dritten Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus bemüht. Auch dabei sah Ulrich Beck eben nicht nur Risiken, sondern betonte die Chancen wie die Erfolge der Moderne, die mit Risiken einhergehen, denen man kreativ begegnen muss. Als Soziologe ist er diesem Anspruch in Forschung und Lehre gerecht geworden. Er wird nicht nur dem Fach fehlen.
    Wichtige Buchpublikationen:
    - "Risikogesellschaft - Auf dem Weg in eine andere Moderne", Suhrkamp, Frankfurt am Main 1986
    - "Gegengifte. Die organisierte Unverantwortlichkeit", Suhrkamp, Frankfurt am Main 1988
    - mit Elisabeth Beck-Gernsheim: "Das ganz normale Chaos der Liebe", Suhrkamp, Frankfurt am Main 1990
    - "Politik in der Risikogesellschaft. Essays und Analysen", Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991
    - "Die Erfindung des Politischen. Zu einer Theorie reflexiver Modernisierung", Suhrkamp, Frankfurt am Main 1993
    - mit Anthony Giddens, Scott Lash: "Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse", Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996
    - "Was ist Globalisierung? Irrtümer des Globalismus - Antworten auf Globalisierung", Suhrkamp, Frankfurt am Main 1997
    - "Schöne neue Arbeitswelt. Vision: Weltbürgergesellschaft", Campus, Frankfurt am Main 1999
    - Im Gespräch mit Johannes Willms, "Freiheit oder Kapitalismus", Suhrkamp, Frankfurt am Main 2000
    - "Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter. Neue weltpolitische Ökonomie", Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002
    - "Der kosmopolitische Blick oder: Krieg ist Frieden", Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004
    - mit Edgar Grande: "Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne", Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004
    - "Was zur Wahl steht", Suhrkamp, Frankfurt am Main 2005,
    - "Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit", Suhrkamp, Frankfurt am Main 2007
    - "Der eigene Gott. Von der Friedensfähigkeit und dem Gewaltpotential der Religionen", Verlag der Weltreligionen, Frankfurt am Main u. Leipzig 2008
    - "Die Neuvermessung der Ungleichheit unter den Menschen: Soziologische Aufklärung im 21. Jahrhundert", Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008
    - "Nachrichten aus der Weltinnenpolitik", Suhrkamp, Berlin 2010
    - mit Elisabeth Beck-Gernsheim: "Fernliebe. Lebensformen im globalen Zeitalter", Suhrkamp, Berlin 2011
    - "Das Deutsche Europa, Suhrkamp", Berlin 2012