Kathrin Hondl: 85 Jahre alt ist Philip Roth geworden. Und er war - da sind sich mit Ausnahme mancher Feministinnen wohl alle einig - einer der bedeutendsten und besten Autoren der letzten Jahrzehnte. Schon für sein Debüt "Goodbye Columbus" wurde er 1959 mit dem National Book Award ausgezeichnet. Den Pulitzerpreis bekam er 1998 für "Amerikanisches Idyll". Nur zum Literaturnobelpreis kam es nicht, obwohl Philip Roth da seit Jahren als heißer Favorit gehandelt wurde. Aber das habe ihn nicht weiter beunruhigt, sagte er einmal. Der Nobelpreis sei für ihn gar nicht wichtig.
Philip Roth, der ewige Anwärter auf den Literaturnobelpreis. Kein anderer deutscher Literaturkritiker hat wohl so oft und ausführlich mit ihm gesprochen wie Volker Hage, bis 2014 war er Literaturchef beim Spiegel. Und natürlich, Herr Hage, haben Sie sich als Literaturkritiker auch mit vielen anderen Autoren beschäftigt, aber Philip Roth scheint Sie ja ganz besonders fasziniert zu haben. Warum? Was macht für Sie die Auseinandersetzung mit Philip Roth und seinem Werk so faszinierend - falls das das richtige Wort ist?
Volker Hage: Nein, das ist absolut das richtige Wort. Und das beginnt natürlich sehr früh, im Grunde in der Vorkritiker-Zeit, wenn man so will, als Schülerstudent. Ich bin ja relativ spät eingestiegen, und als junger Kritiker giert man immer ein bisschen danach, auch mal die bedeutenden Autoren zu rezensieren, und dann kommen die älteren Kollegen, zu denen ich ja nun inzwischen auch zähle, und sagen: Nee, nee, das ist meiner, da kommen die jungen Leute nicht ran. Irgendwann war es dann soweit, und das große Glück war eigentlich, dass ich diesen direkten Bezug zu ihm kriegte 1983, indem ich damals für die FAZ nach Amerika fahren durfte, John Updike besuchen und einige andere Autoren, und es war immer so im Hintergrund, ob es vielleicht auch noch möglich sein würde, den sehr schwer zugänglichen, sehr schwer zu erreichenden Philip Roth an das Mikrofon zu kriegen. Irgendwann war ich da in einer Wohnung meiner Cousine, und das Telefon klingelte, und sie sagte: Da ist ein gewisser Herr Roth dran, und ich dachte, das ist ja toll.
Dann bin ich nach Connecticut rausgefahren, wo er damals lebte. Er ist ja immer mal zwischen New York und dem Land hin- und hergependelt. Damals wollte er in Ruhe auf seinem sehr schönen Landsitz schreiben. Das war eigentlich weniger eine Ehre als ein Glück einfach, dass er gerade in einer Krise war.
Kein Autobiograph
Hondl: Leben und Werk sind ja bei Philip Roth schwer zu trennen. Jedenfalls werden seine Romane und Erzählungen meistens sogar ziemlich unmittelbar als autobiographische Texte gelesen. Zu Recht eigentlich? War Philip Roth vor allem ein Autobiograph?
Hage: Nein, das sehe ich eigentlich nicht so. Das ist sehr gemischt. Er hat natürlich in bestimmten Zeiten durchaus seine eigenen Probleme literarisch verwaltet. Aber eigentlich, besonders in den späteren Werken, in dem berühmten "Jedermann" zum Beispiel, auch "Der menschliche Makel", das ist doch von ihm sehr weit weg. Und er hat ja so eine Hilfskonstruktion, ein Alter Ego entwickelt, den Herrn Zuckerman, wie er immer sagte. Zuckerman sagen viele, aber er hat eigentlich Zuckerman gesagt.
Hondl: Diese Figur taucht ja seit den 70er-Jahren ständig immer wieder auf.
Hage: Immer wieder - genau!
Hondl: Wieviel Roth steckt denn da drin in dem Zuckerman?
Hage: Da steckt nun wirklich ziemlich viel drin. Und er hat ja dieses Spiel auch mit sich getrieben in einer Art Autobiographie, wo er ihn antworten lässt auf die autobiographische Skizze und dann seinem eigenen Autor sagt: Junge, bleib‘ lieber bei Deinem Leisten, über Dich schreiben, das hat wenig Zweck, das kannst Du nicht.
Hondl: "Das Schreiben müsse dunkel sein und tiefer als das Leben", hat er ja auch mal gesagt.
Hage: Ja, das hat er sicher gesagt, und das ist so einer dieser Sätze, die er so gerne ausgestellt hat.
Hondl: Ein anderer hübscher Philip-Roth-Satz ist: "Literatur ist kein moralischer Schönheitswettbewerb." Das hat er auch mal gesagt.
Hage: Ja, das stimmt.
Hondl: Besonders gern und auch explizit hat er ja über Sex geschrieben. Sein erster Weltbestseller, "Portnoys Beschwerden" von 1969, ist voll davon und ist ja auch einigermaßen lehrreich für Leserinnen.
Hage: Stimmt!
Unerbittlich gegen sich und das männliche Geschlecht
Hondl: Aber Philip Roth, Herr Hage, war schon ein typischer Männerautor, oder?
Hage: Finden Sie? - Ja, gut. Ich habe irgendwo mal mir den Witz erlaubt zu sagen, Frauen dürften das eigentlich gar nicht lesen, weil sie dann zu viel erfahren über uns Männer. Das war natürlich ein bisschen pointiert. Er hat in der Tat sehr offen und eigentlich auch, wie soll ich sagen, unsere Betriebsgeheimnisse, habe ich mal geschrieben, verraten und da war er unglaublich unerbittlich, auch gegen sich selbst und auch gegen, sage ich mal, das männliche Geschlecht. Er hat ja ganz zuletzt jetzt noch mal ein Interview gegeben, Anfang des Jahres der New York Times, das dann in der Süddeutschen nachgedruckt wurde, und da hat er von dem, wenn ich richtig zitiere, ethischen Dilemma gesprochen, das die gegenwärtigen Anforderungen an das männliche Triebverhalten stellen.
Hondl: Von feministischer Seite ist er deshalb ja auch immer wieder mal als frauenfeindlich kritisiert worden, zuletzt erst, ich glaube, im vergangenen Herbst im Zusammenhang mit der MeToo-Debatte. Wie ist er damit eigentlich umgegangen, mit feministischer Kritik an seinem Werk?
Hage: Ich würde sagen, souverän. Von einer sicheren Position, dass er einfach als Schriftsteller, sagen wir mal, keine Verlautbarungen macht und keine moralische Instanz ist. Das haben Sie ja schon zitiert. Der Schriftsteller ist gegen sich selbst und gegen die Welt und gegen die Menschen relativ brutal. Das muss so sein. Er hat immer gesagt: "Nett können die anderen sein. Wenn man schreibt, muss man nicht nett sein. Das ist ein furchtbares Wort."
Hondl: Es gibt ja auch ein Buch, glaube ich, einen Roman, den er aus der Perspektive einer Frau erzählt: "When she was good".
Hage: Das ist wahr.
Hondl: Aber das war keiner seiner ganz großen Erfolge, oder?
Hage: Nee! Das war auch, glaube ich, nicht einer seiner besten. Und das hat er ja auch dann nie wieder gemacht.
Hondl: Was uns jetzt vor allem in Erinnerung ist, ist natürlich sein Spätwerk. Sie haben vorhin auch schon den "Menschlichen Makel" zitiert und "Sabbaths Theater". Und ja, seine literarische Auseinandersetzung mit dem Älterwerden. Das Altern war ja eines seiner ganz großen Themen, kann man, glaube ich, sagen.
Hage: Ja.
Hondl: Manche sehen da ja sogar Ähnlichkeiten oder fast schon ein Pendant zu unserem Martin Walser hier. Ist das für Sie, Herr Hage, ein zündender Vergleich, Philip Roth als eine Art amerikanischer Martin Walser?
Hage: Ich würde es eher umgekehrt sagen. Das ist ein Größenvergleich, da würde man Martin Walser dann doch zu viel Ehre erweisen. Das ist schon ein anderes Kaliber, unser amerikanischer Autor. Thematische Überschneidungen gibt es natürlich, das ist keine Frage, ist schon richtig. Aber ich würde mal sagen, dass der Nobelpreis nicht an ihn gegangen ist, ist ein Trauerspiel, und Martin Walser wird ihn wohl nicht kriegen, zumal in der jetzigen Situation. Aber das nur nebenbei.
Hondl: Jetzt haben Sie ihn erwähnt, den Literatur-Nobelpreis. Für den war Philip Roth immer wieder im Gespräch. Es war ja schon fast ein Running Gag in den letzten Jahren.
Hage: Das kann man sagen.
Sehr eitel, sehr akribisch
Hondl: Dass er nun ausgerechnet in dem Jahr stirbt, wo der Literatur-Nobelpreis nicht vergeben wird, kommt einem auch ein bisschen wie ein schlechter Scherz vor.
Hage: Das ist eine Pointe. Ja, das muss man schon sagen. Er hat ja immer tapfer behauptet, nee, will ich gar nicht, brauche ich nicht und so weiter. Aber er war eigentlich doch sehr ehrgeizig, sehr eitel - das habe ich immer wieder gemerkt - und sehr genau. Ich habe ein Buch beim Hanser-Verlag über ihn veröffentlicht mit den ganzen Interviews, Gesprächen und Rezensionen, und das sollte ins Englische übersetzt werden. Da hat er sein Veto eingelegt - aus einem einfachen Grund: Er ist sehr akribisch, und eins dieser Interviews, ein sehr frühes, hatten wir rückübersetzt. Da hat er sofort natürlich gespürt, das ist nicht mein Ton, das stimmt nicht genau, und hat gesagt, nee, das will ich dann gar nicht - war schade, aber habe ich verstanden.
Die späteren Interviews haben wir immer sehr genau mehrfach übrigens hin- und hergeschickt und autorisiert. Beim "Spiegel" macht man das ja sowieso. Da hat er sich dann noch mal die letzte Fassung schicken lassen. Ich erzähle das nur, weil er so unglaublich genau war. Er wollte alles unter Kontrolle haben.
Hondl: Jetzt haben Sie ihn zitiert mit dem Satz: "Das ist nicht mein Ton." Wie würden Sie denn seinen Ton, seinen Stil, sein Schreiben charakterisieren, und in welchem Buch wird das am deutlichsten für Sie?
Hage: Eines meiner Lieblingsbücher ist ja neben dem "Menschlichen Makel" "Jedermann" - "Everyman". Und ich würde seinen Stil so charakterisieren, dass er einfach nicht protzt und sehr ruhig und eigentlich mit relativ klaren, wenig literarischen, pseudoliterarischen Mitteln arbeitet. Und das Interessante ist: Man kann seine Werke sehr viel leichter im Original lesen als zum Beispiel die von John Updike, der sehr mit umgangssprachlichen Mustern arbeitete. Da muss man fast bei jedem dritten Satz dann doch mal zum Lexikon greifen. Bei ihm muss man das eigentlich nicht. Man kann ihn sehr gut lesen, was auch zeigt, wie klar die Sprache ist, wieviel daran gearbeitet ist. Wir wissen ja alle, wenn was sehr leicht aussieht und sehr gut lesbar ist, dass da sehr viel Arbeit drinsteckt. Er hat seine Sachen immer und immer wieder überarbeitet.
"Der menschliche Makel"
Hondl: Und welches Buch, welchen Roman von Philip Roth muss man nun gelesen haben oder sollte man wieder und wieder lesen?
Hage: Eines meiner Lieblingsbücher ist "Gegenleben". Das kennen nicht so viele. Aber natürlich gelesen haben muss man den "Menschlichen Makel", ein umfangreiches und eigentlich unglaublich, ich würde fast sogar sagen, geniales Buch. Und, was ich schon erwähnte, "Everyman". Und im Moment natürlich auch aus politischen Gründen "Verschwörung gegen Amerika"[*], wo er ja fast aktuell geworden ist, indem er etwas vorgezeichnet hat, was wir uns alle hätten nie vorstellen können, und er hat ja Trump als die entwürdigendste Katastrophe der USA genannt. Und es hat ihn gewissermaßen eingeholt. Damals dachte er und dachte man als Leser eigentlich, na ja, das ist schon ein bisschen übertrieben, dass so eine Art faschistoider Präsident an die Macht kommt, und überraschend jemand, wo man sich nicht vorstellen konnte, dass das funktioniert. Na ja, das Ergebnis kennen wir ja alle.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
[*] Anmerkung der Redaktion: In der Live-Fassung nennt unser Gesprächspartner an dieser Stelle versehentlich den Titel eines anderen Buchs von Roth. Gemeint ist aber "Verschwörung gegen Amerika".