Oliver Ramme: Walter Scheel hat einige historische Meilensteine gesetzt. Er war der erste Entwicklungshilfeminister der Bundesrepublik. Scheel war auch der erste Bundespräsident, der die Sowjetunion besuchte - 1975 war das. Und er konnte sich, wie eingangs angedeutet, schmücken mit goldenen und Platinschallplatten. Gewürdigt wurde der vierte Bundespräsident der Bundesrepublik von vielen heute. Für einen seiner Nachfolger, Joachim Gauck nämlich, war Walter Scheel ein Politiker, der die Geschicke unseres Landes viele Jahre mitgestaltet hat. Walter Scheel starb heute in Bad Krozingen im Alter von 97 Jahren.
Am Telefon begrüße ich jetzt einen langjährigen Weggefährten von Walter Scheel, den ehemaligen Bundestags-Vizepräsidenten Burkhard Hirsch. Guten Abend, Herr Hirsch.
Burkhard Hirsch: Guten Abend!
Ramme: Sie haben so wie wir alle heute vom Tod Walter Scheels erfahren.
Hirsch: Ja!
Ramme: Was waren Ihre ersten Gedanken?
Hirsch: Es hat mich erschrocken und ich bin wirklich betroffen. Scheel war ja ein sehr eindrucksvoller Mann mit außerordentlichen Verdiensten für uns alle und auch für mich Mitteldeutschen und er war gleichzeitig ein fröhlicher Mensch. Die meisten haben ihn in Erinnerung mit dem "Hoch auf dem gelben Wagen", mit diesem Lied. So war er auch wirklich. Aber er war gleichzeitig ein hervorragender und äußerst bedeutender und entschlossener Politiker.
Ramme: Er hat ja sehr viel erlebt in seiner politischen Karriere. Er war Außenminister, er war Parteivorsitzender der Liberalen, er war natürlich auch der Bundespräsident. Schauen wir erst mal auf den Außenminister. Er gilt ja auch als Architekt der Ostverträge. Steht er da aber nicht so ein bisschen im Schatten von Willy Brandt und vielleicht sogar von Egon Bahr?
Hirsch: Man muss sagen, dass die drei gemeinsam gegen alle Widerstände der Konservativen, gegen alle Widerstände die Grundlagen für die Wiedervereinigung gelegt haben, und zwar mit dem Moskauer Vertrag, mit dem Grundlagenvertrag, mit dem Warschauer Vertrag, die Erklärungen, mit denen wir die Änderung der Grenzen, die der Krieg erzeugt hatte, mit Gewalt ablehnten, jede Gewalt ablehnten, wo wir eine gewisse Anerkennung der Tatsachen, die der Krieg geschaffen hatte, akzeptierten und damit eine Grundlage dafür legten, mit unseren Partnern und mit unseren Nachbarn im Osten überhaupt Gespräche zu führen, wie es denn weitergehen sollte. Und ohne diese Grundlagen wäre die von der CDU/CSU massiv bekämpfte (bis zum Misstrauensantrag durch Rainer Barzel), ohne diese hätte es in Deutschland keine Wiedervereinigung gegeben. Diese drei gemeinsam haben das erreicht. Das ist das große gesamtpolitische Verdienst von Walter Scheel.
"Gegen alle Widerstände die Grundlagen für die Wiedervereinigung gelegt"
Ramme: Und was machte ihn so sicher, mit dem vermeintlichen Feind zu paktieren? Wieso war er sich sicher, das Richtige zu tun zu dem Zeitpunkt?
Hirsch: Der Gedanke war die Wiedervereinigung durch Annäherung. Bis zur ersten Regierung Brandt/Scheel galt ja die Hallstein-Doktrin, dass wir sozusagen krass jede Verhandlung mit der DDR, mit dem Ostblock ablehnten, dass man mit denen überhaupt nicht mehr sprechen durfte, dass sie sozusagen unsere Feinde waren, die wir auch nicht anerkannten. Und die Vorstellung, die die CDU hatte, dass man mit einer Politik des Rollback sozusagen die Sowjetunion überwinden könnte, hat man wirklich für eine platte Illusion gehalten.
Das heißt, der Schlüssel zur Wiedervereinigung lag darin, ob man das nun wollte oder nicht, die Oder-Neiße-Linie anzuerkennen und die Gewaltlosigkeit zu fordern, die absolute Gewaltlosigkeit innerhalb Europas. Das haben die drei zu einem umstrittenen, aber richtigen Zeitpunkt durchgesetzt. Es war hohe Zeit. Ich darf Sie daran erinnern: Ich bin Anfang der 70er-Jahre zum ersten Mal wieder in die DDR gefahren und als ich zurückkam, habe ich meinen Sohn gefragt: Was hat Dich denn am meisten beeindruckt? Der war erst acht Jahre alt. Da hat er mir gesagt, dass die alle Deutsch sprechen. Wir waren dabei, uns völlig auseinanderzuleben.
Ramme: Was zog denn Scheel damals zu den Sozialdemokraten? Denn bisher waren die Liberalen ja immer quasi in einem Bett mit der Union. Er hat damals Heinemann als Bundespräsident mit durchgeboxt, dann die Koalition mit der SPD. War es damals politisches Kalkül, mit der SPD zu paktieren, oder war es vielleicht sogar Opportunismus, oder war es Herzsache von ihm?
Hirsch: Nein, es war kein Kalkül, sondern eine in sich konsequente Überlegung. Denn es ging ja nicht nur um die deutsche Wiedervereinigung, das war der wesentlichste Punkt, sondern es ging gleichzeitig um die Reform eines maximalkonservativ gewordenen Deutschlands. Wir haben ja durch die sozialliberale Koalition große innenpolitische Veränderungen durchgeführt. Denken Sie an das Freiburger Programm der FDP oder an Umweltpolitik, die begonnen wurde, an Veränderungen des Strafrechts, an den Anfang der Gleichberechtigung von Frauen. Das war ja alles liegen geblieben. Und durch die Wahl von 1969 hatte Brandt die Wahl, entweder die Große Koalition fortzusetzen mit Kiesinger, oder mit uns, mit der FDP zusammenzugehen. Da hat er Scheel gefragt, ob Scheel bereit sei, mit ihm die Koalition zu machen, und das haben wir getan. Das war die richtige, in meinen Augen nicht nur eine außenpolitisch richtige Entscheidung, sondern sie war für die Erhaltung des Friedens in Europa von größter Bedeutung.
"Entschlossen, alles auf die Waage zu setzen"
Ramme: Scheel galt ja auch als sehr volksnah. Auf der anderen Seite - das habe ich einmal von Ihnen gelesen - soll er ja auch ein knallharter Politiker gewesen sein. Worin bestand seine Knallhärte?
Hirsch: Wenn er sich zu einer Sache entschieden hatte, nach langen Überlegungen, wenn er sich entschieden hatte, dann war er bedingungslos. Dann hat er seine ganze politische Existenz auf die Durchsetzung der von ihm als richtig erkannten Ziele gesetzt. Wenn Sie die Rede nehmen, die er bei dem Misstrauensvotum von Barzel 1972 gehalten hat: Da hat er die Rolle der Liberalen in dieser Situation gesehen, da war er der Überzeugung, dass wir verlieren, dass Barzel Erfolg haben wird. Dann hat er eine Rede gehalten, die ich für eine der bedeutendsten liberalen Reden halte, die jemals im Deutschen Bundestag gehalten wurde. Er war wirklich entschlossen, seine ganze Existenz zu riskieren und auf die Waage zu setzen. Das hat er nicht nur in dieser, das hat er in mehreren Situationen so gehalten, und das ist schon für einen Jüngeren, der dabei steht, sehr eindrucksvoll, sehr eindrucksvoll, ja. Er war schon ein toller Bursche!
Ramme: Herr Hirsch, was unterschied denn den Scheel als Außenminister vom Bundespräsidenten? Oder war der quasi das Gleiche in Fortsetzung?
Hirsch: Er war eigentlich immer stolz darauf, kein Rheinländer, sondern ein Bergischer zu sein.
Ramme: Ein Solinger.
Hirsch: Er hat glänzende Reden auch als Bundespräsident gehalten über die Verantwortung, die jeder in unserer Gesellschaft hat, seine Aufgaben, seine Pflichten wahrzunehmen und nicht nur dem Egoismus zu verfallen, nicht nur alle Verantwortung den Politikern zuzuschieben, sondern seine eigene Verantwortung in einer Gesellschaft zu erkennen. Dieser Idee, diesem Gedanken ist er, glaube ich, konsequent nicht nur als Bergischer, sondern als Walter Scheel konsequent gefolgt. Ich habe den Mann wirklich bewundert und er war so fröhlich wie manche Bemerkung, die ich jetzt eben gemacht habe. Ich finde, er ist einer der größten Politiker der deutschen Nachkriegszeit gewesen, die man nicht vergessen kann und die in ihrer Bedeutung überhaupt nicht zu unterschätzen sind.
Ramme: Burkhard Hirsch, ehemaliger Bundestags-Vizepräsident und langjähriger Weggefährte, erinnerte sich an Walter Scheel. Das Gespräch haben wir vor der Sendung aufgezeichnet.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.