Maja Ellmenreich: Die Kanzlerin hat es vor kurzem getan: Sie hat – beim CDU-Parteitag in Essen – die Delegierten dazu aufgefordert, ihr zu helfen. Ein Akt der Demut, der wahren Größe? Oder vielmehr ein Zeichen von Schwäche, von Hilflosigkeit? Ganz das Gegenteil von "Wir schaffen das"? Die Reaktionen waren vielfältig.
Um Hilfe bitten – Hilfe anbieten und leisten. In diesen Wochen, kurz vor Weihnachten, hat das Helfen bei uns Hochkonjunktur; ganz losgelöst von politischen Klein- und Großereignissen. Da wird gespendet und unterstützt, geholfen und Not – soweit es geht – gelindert wie sonst kaum im Jahr.
Der Historiker und Journalist Tillmann Bendikowski hat ein Buch geschrieben zum Thema: Vor wenigen Wochen ist "Helfen – Warum wir für andere da sind" erschienen.
Herr Bendikowski, das, was Angela Merkel da am Nikolaustag in Essen getan hat – nämlich um Hilfe gebeten –, ist etwas, was den meisten Menschen bei uns deutlich schwerer fällt, als Hilfe zu leisten. Teilen Sie diese Beobachtung?
Tillmann Bendikowski: Das ist schwierig zu operationalisieren. Es wird tagtäglich sehr viel geholfen und es wird viel um Hilfe gebeten - nicht immer so offensiv wie hier von der Bundeskanzlerin, aber ich sage mal, die Hilfe ist unser aller tägliches Geschäft. Dass das so auf dem Podium passiert, ist ungewöhnlich, hat aber interessante Fassetten.
Ellmenreich: Welche interessanten Fassetten finden Sie am interessantesten?
Bendikowski: Ich weiß gar nicht, ob die Bundeskanzlerin es wusste, oder ob die Zuhörer dort auf dem Bundesparteitag es eigentlich wahrnehmen: Das Bitten um Hilfe erhöht auch die Zuhörenden. Das heißt: Derjenige, der als Helfer angesprochen wird, wird in eine Position der Stärke gebracht, und von ihm erbittet man nun Hilfe. Das ist eine Aufwertung des Zuhörens, ein ganz interessanter Moment. Und ich habe mich sehr gefreut, weil zu unserer Kultur des Helfens gehört eine solche öffentliche Bitte unbedingt dazu und das fand ich sehr spannend.
"Helfen ist asymmetrisch"
Ellmenreich: Man wird einbezogen, wenn man um Hilfe gebeten wird. - Die andere Seite schauen wir uns mal an. Die US-Schauspielerin Halle Berry sagte vor kurzem, Bedürftigen zu helfen mache sie glücklich. Hat man es da nicht auch immer mit so einer Art Machtgefälle zu tun, der eine, der bitten, flehen muss, der andere, der leisten kann? Ist das nicht eigentlich eine schlechte Voraussetzung für eine Begegnung auf Augenhöhe?
Bendikowski: Da sind die Übergänge fließend. Wenn es sie glücklich macht soll sie helfen. Wunderbar! Und wenn sie damit einem Menschen auch hilft und die Hilfe ist gut und erwünscht und professionell, umso besser.
Nun ist das Helfen, Sie haben durchaus Recht, wir nennen das dann ein asymmetrisches Verhältnis. Der Helfer ist in der Hilfesituation im weitesten Sinne stärker und kann deshalb Hilfe leisten, und der Hilfeempfänger ist "schwächer". Tatsächlich: Hilfe ist asymmetrisch. Das muss so sein. Das heißt aber nicht, dass der Hilfeempfänger im nächsten Moment, in der nächsten Situation nicht selber wieder der Stärkere und der Helfer sein kann.
"Verdächtigung des Helfers begleitet die Geschichte des Helfens traditionell"
Ellmenreich: Dann sind wir bei der Gegenleistung, die manche erwarten, wenn sie geholfen haben?
Bendikowski: Ja da bin ich ein bisschen skeptischer geworden im Laufe meiner Recherchen. Was passiert, wenn ein Mensch dem anderen hilft, ist erstaunlich. Es kommt immer ein Dritter und fragt nach den Motiven: Warum tut er das, was will die eigentlich, welche Absicht steckt dahinter, will die Geld, will der Einfluss, hat der ein schlechtes Gewissen, gibt der nur Geld, weil Weihnachten ist? Das heißt, uns allen ist eine eigentümliche Verdächtigung des Helfers zu eigen. Wir unterstellen viele Motive und wir fragen immer nach Motiv oder häufig, sehr viel häufiger als nach der Qualität der Hilfe. Das hat mich skeptisch gemacht.
Ellmenreich: Das spräche eigentlich dafür, dass man eine Selbstlosigkeit gar nicht mit ins Kalkül zieht.
Bendikowski: Genau. Das ist meistens so, dass eine Absicht dahinter vermutet wird. Bei der Hilfe für die Flüchtlinge war das sehr deutlich zu erkennen, dass man die Helfer verdächtigt hat, entweder als Gutmenschen, als Naivlinge, oder weil sie ein schlechtes Gewissen haben oder die NS-Zeit kompensieren müssen, oder was immer dort vorgebracht wurde. Die Verdächtigung des Helfers begleitet die Geschichte des Helfens traditionell.
"Helfersyndrom ist ein Kampfbegriff"
Ellmenreich: Verdächtigen ist das eine und das andere, was man immer wieder beobachtet, ist die Pathologisierung. Da gibt es das Helfersyndrom, ein Begriff aus dem Medizinischen, und damit wird ja die Unterstützung anderer als Krankheitszeichen bezeichnet. Woher kommt eigentlich dieser Impuls, wie Sie es auch gerade schon gesagt haben, die Hilfsbereitschaft zu verdächtigen beziehungsweise die Hilfsbereitschaft anderer schlecht zu machen, was ja noch mal eine erhöhte Stufe ist?
Bendikowski: Das Helfersyndrom, ähnlich wie der Gutmensch, ist ein Kampfbegriff. Den müssen wir auch als solchen nehmen. Wo dieser Begriff auftaucht dürfen Sie sicher sein, dass die Helfer gezielt denunziert, pathologisiert werden. Nach meiner Beobachtung ist dies immer der Fall, wenn das politische Argument oder das rationale Argument aufgebraucht ist. Wenn Sie in der Flüchtlingsdebatte politisch nicht mehr weiterkommen, dann denunzieren Sie die Helfer. Wenn Sie mit einem Hilfeakt oder einer Hilfeleistung unzufrieden sind, aber kein Argument mehr finden, um sich damit inhaltlich auseinanderzusetzen, dann greifen Sie zu dem Begriff des Gutmenschen oder des Helfersyndroms, um sich dort Luft zu verschaffen. In der Regel ist das Argument dort einfach aufgebraucht.
Ellmenreich: Oder kann das auch eine Legitimierung dafür sein, warum man selbst nicht hilft? Mir ist da ein Zitat von Marie von Ebner-Eschenbach begegnet, die sagte, man kann nicht allen helfen, sagt der Engstirnige und hilft keinem.
"Wir alle haben Grenzen des Helfens"
Bendikowski: Das Zitat führt leider ein wenig in die Irre. Ich habe nämlich auch beobachtet, dass es sehr wohl Grenzen des Helfens gibt, und die sind völlig legitim. Wir alle haben Grenzen des Helfens. Wir können nicht immer überall allen gleichermaßen helfen. Das beginnt bei uns selber individuell - denken Sie an die Menschen, die Familienangehörige pflegen, die vielleicht auch noch Kinder im Haus haben, die sich ehrenamtlich engagieren. Dort gibt es eine Grenze des Machbaren, was die Hilfe angeht. - Denken Sie an den Sozialstaat. Wir brauchen das ja gar nicht politisch diskutieren. Es ist die Frage: Wo verlaufen eigentlich die Grenzen des Helfens für den Sozialstaat? Wer bekommt welche Leistung wann in welcher Höhe? Das müssen wir politisch entscheiden. Wir können darüber moralisch schlecht uns austauschen, die Grenzen des Helfens werden, wenn Sie so wollen, jeden Tag permanent neu gezogen, wir müssen sie verhandeln.
Ellmenreich: Von staatlicher Seite gibt es aber ja auch das deutsche Gesetz, das unterlassene Hilfeleistung unter Strafe stellt. Da gibt es offensichtlich doch keine Grenzen der Hilfsbereitschaft.
"In Deutschland gibt es eine intakte Kultur des Helfens"
Bendikowski: Ich habe für meine Recherchen einmal die Statistiken bemüht und habe festgestellt, dass Verurteilungen wegen unterlassener Hilfeleistung in Deutschland - und das liegt nicht daran, dass die Dunkelziffer besonders hoch sei - unglaublich gering ist. Das heißt, es werden wenig Menschen wegen unterlassener Hilfeleistung verurteilt. Es gibt immer wieder spektakuläre Einzelfälle, wo wirklich Menschen in Not nicht geholfen wird, aber es sind Einzelfälle. In der Regel wird ihnen geholfen, wenn sie in Not geraten. In Deutschland gibt es eine intakte Kultur des Helfens. Das haben wir nicht nur im vergangenen Jahr bei den Flüchtlingen gesehen, sondern das gilt auch im Alltag. Deutschland hat diese intakte Kultur des Helfens. Das heißt nicht, dass das immer so bleibt.
Ellmenreich: Weil das Helfen im Kern allzu menschlich ist, weil jeder Mensch am eigenen Leib erfahren hat, dass er ohne Hilfe insbesondere ganz am Anfang des Lebens nicht überleben könnte. Ist das der Ursprung aller Hilfsbereitschaft?
Bendikowski: Wenn Sie nach den Ursprüngen fragen, ist uns natürlich einerseits tatsächlich evolutions-psychologisch das Helfen mitgegeben. Der Mensch ist erst mal ein soziales Wesen, wenn Sie so wollen ein helfendes Wesen. Hinzu kommt, dass diese Kulturtechnik des Helfens auch erlernt und gepflegt werden muss. Zu dem Erlernen gehört vor allen Dingen das Erlernen in der Familie, durch Vorbild, durch Einbindung in soziale Formationen. Das heißt, das müssen Sie erlernen und dann auch als Erwachsener weiter pflegen. In dieser Kombination werden Sie zum Helfer erzogen und bleiben auch ein Helfer.
Ellmenreich: Herr Bendikowski, Sie haben gerade den deutschen Helfern eigentlich ein gutes Zeugnis ausgestellt. Nun hat Roger Willemsen in seiner sogenannten Zukunftsrede, "Wer wir waren", die jetzt posthum als Buch erschienen ist, noch geschrieben: "Wir ahnen vielleicht, dass wir künftig weniger mitfühlen, weniger solidarisch, weniger sentimental sein werden." Welche Zukunft sagen Sie, Herr Bendikowski, unserem Bedürfnis, für andere da zu sein, anderen zu helfen, voraus?
"Wir leben in einer ausgesprochen solidarischen Gesellschaft"
Bendikowski: Mit der Prognose ist es schwierig. Aber ich wäre in der Tat optimistischer. Die Hilfe, die wir im vergangenen Jahr als öffentlichen Akt erlebt haben, das war keine Eintagsfliege, das ist auch nicht mehr abgebrochen, dieses Engagement. Es gibt keine Krise des Ehrenamtes. Auch neue familiäre Strukturen wie Patchwork-Strukturen bringen immer wieder neue Formen von Hilfe hervor. Wir leben in einer ausgesprochen solidarischen Gesellschaft. Nein, ich bin da optimistischer. Ich glaube, dass die Herausforderungen, die kommen werden und die für uns wirklich neu sein werden, auch in ihrer Dimension, dass sie uns nicht als hilflose und nichthelfende Gesellschaft bloßstellen werden. Ich denke, unsere Kultur des Helfens wird uns auch durch die kommenden Herausforderungen tragen.
Ellmenreich: Tillmann Bendikowski – Autor des Buches "Helfen – Warum wir für andere da sind". Vielen Dank.
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