Politik
Misstrauen stärkt und bewahrt die Demokratie

Präventivmaßnahmen gegen autoritäre Umtriebe, Untersuchungsausschüsse, parlamentarische Anfragen: Eine gute Portion Misstrauen steckt in jeder Demokratie. Doch auch die etablierten Parteien werden derzeit stark in Frage gestellt.

Von Solmaz Khorsand |
Gebündelter Zeitungsstapel mit Schlagzeile "Großes Misstrauen"
Misstrauen zählt zum Fundament einer liberalen demokratischen Grundordnung und kann durchaus auch ein erkenntnisleitendes, gar investigatives Gefühl sein. (imago / stock&people)
„Jede (gute) Verfassung“, hat der Staatstheoretiker Benjamin Constant einmal gesagt, „ist ein Akt des Misstrauens.“ Misstrauen zählt - auf diese Weise betrachtet - zum Fundament einer liberalen, demokratischen Grundordnung. Es stärkt und bewahrt die Demokratie, die zwar Vertrauen braucht, sich aber Formen und parlamentarische Praktiken gegeben hat, etwa Untersuchungsausschüsse oder kleine Anfragen, die von einem gesunden Misstrauen zeugen.
Seinen Ausdruck findet das Misstrauen in den ausformulierten Verfassungen, in denen diverse Präventivmaßnahmen gegen autoritäre Umtriebe eingebaut wurden. Allein die Gewaltenteilung von Legislative, Exekutive und Judikative ist als solche zu erachten. Sie soll den Souverän vor der möglichen Übergriffigkeit eines Staates und diktatorischen Herrschaftsgelüsten schützen.
Wie wenig Misstrauen es allerdings gegenüber jenen Parteien gibt, die gestärkt aus der Europawahl hervorgegangen sind, obwohl sie ein problematisches Menschenbild haben und von der Demokratie wenig halten, ist erstaunlich. Längst lässt sich das Erstarken der Rechten nicht mehr als Protestwahlverhalten abtun. Vielleicht bedarf es einer neuen Schule des Misstrauens.
Der vorliegende Essay ist ein Auszug der Festschrift zu dem österreichischen Ideenfestival „Tage der Transformation“, das im Oktober 2024 stattfindet.
Solmaz Khorsand ist Journalistin, Buchautorin und Podcasterin. Sie hat u.a. für Die Zeit, derstandard.at, die Wiener Zeitung und das Magazin Republik gearbeitet. 2021 erschien ihr Buch „Pathos“, 2024 ihr aktuelles Buch „untertan. Von braven und rebellischen Lemmingen“.

Es gibt einen Körperteil, in dem Menschen das Misstrauen verorten. Im Bauch. Wenn sie misstrauen, haben sie ein mulmiges Bauchgefühl. Es ist etwas Unangenehmes, etwas, das am besten vernachlässigt wird, ignoriert und bei zu viel Vehemenz regelrecht unterdrückt.
Das passiert nicht immer. Es wird nur bei bestimmten Gelegenheiten unterdrückt, bei bestimmten Personen und Organisationen. Bei jenen, deren Glanz und Gier nicht blendet und abstößt, sondern umschmeichelt und anzieht, deren Erfolg und Netzwerke keine Fragen aufwerfen, sondern beeindrucken, und deren Macht fasziniert, nicht abschreckt.
Bei anderen kommt das Misstrauen hingegen bereits präventiv zum Einsatz. Wenn eine Misstrauenskulisse existiert, aufgebaut von Politik, Medien und Gesellschaft. Dann darf darauf gehört werden, auf das mulmige Bauchgefühl, darf es auch mit voller Inbrunst gelebt werden, danach gehandelt und mit voller Wucht auf das zu misstrauende Objekt gerichtet.
Und dieses Objekt hat dann die Wahl, wie es damit umgeht: Es kann versuchen, dieses Misstrauen zu entkräften, ausgelaugt und erschöpft vorbildhaft ständig den Gegenbeweis antreten zu wollen. Zu versichern, dass dieses Misstrauen nicht gerechtfertigt ist.
Oder es kapituliert.
Verinnerlicht den Verdacht gegen die eigene Person und all die Zuschreibungen, die damit einhergehen, und liefert letztlich exakt die Version seiner Selbst, der es permanent verdächtigt wird. Bereit, jederzeit mit einem Geständnis in Vorleistung zu gehen.
Und vielleicht ist ja auch etwas dran, an diesem Misstrauen in sich selbst. Sollte es öfter aktiviert werden. Vielleicht lohnt sich ein genauer Blick in die eigenen Entscheidungen, die eigene Biografie. Gar in die eigenen Zellen. Was haben sie mir alles mitgegeben, meine Vorfahren? Wie viel von ihnen ist in mir? Im Guten wie im Schlechten? Wie viel vom Opa, der sich an nichts erinnern wollte, der Mutter, die zu viel Alkohol trank, dem Vater, dem die Hand immer wieder ausgerutscht ist?
Verdächtig, so ein Misstrauen in sich selbst, nicht wahr? Kann es doch Gewissheit über etwas geben, über das man niemals Gewissheit haben wollte. Aber es kann auch ein Startpunkt sein. Ein sauberer Anfang im vollen Bewusstsein aller Dämonen der Vergangenheit.
In Deutschland oder Österreich stellt man sich ihnen bekanntlich ja nur ungern. Man ist sparsam mit dem Misstrauen in die eigene Geschichte. Zu selten wird nachgefragt, wie es denn damals war: Was hat denn der Großvater, die Großtante, die Mutter getan, gedacht. Dieser Widerwillen mag aus Angst genährt sein, darüber, was all diese Fragen in Erfahrung bringen könnten. Es mag aber auch an einer gewissen Gleichgültigkeit liegen. Was sollte es denn auch jetzt für eine Rolle spielen, was wann mit wem passiert ist? Es ist schließlich vorbei. Und wer sich erinnern will, ist selbst schuld. Schuld am eigenen mulmigen Bauchgefühl, das sich sofort einstellt, wenn wieder eine Sprache, ein Denken und Handeln zutage tritt, von dem versprochen wurde, dass es auf ewig begraben ist.
Es wird mir immer ein Rätsel bleiben, mit welcher Hartnäckigkeit Teile der Gesellschaft in der Lage sind, dieses Bauchgefühl zu unterdrücken. Insbesondere bei Wahlen. Wie wenig Misstrauen gegenüber jenen Parteien besteht, die immer wieder bewiesen haben - in der Theorie wie in der Praxis -  welches Menschenbild sie haben und was sie unter Demokratie verstehen. Wie wenig Misstrauen auch bei der Konkurrenz vorhanden zu sein scheint, wenn sie leichtfertig die Tore zu den Hebeln der Macht öffnet, nur um selbst an der Macht bleiben zu können. Ist es blindes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten? Erliegt sie der Illusion, dass schon nichts passieren wird, dass die eigene Anwesenheit ausreicht, um den Partner in Schach zu halten? Es ist beängstigend, mit welcher Nonchalance sie Risiken eingeht, deren Preis andere am Ende zahlen müssen. Und das alles im Namen eines Kompromisses, den sich die Mitte einer demokratischen Gesellschaft so sehr wünschen würde. Diese edle Mitte, die vor jedem Extrem gefeit ist. Doch welchen Wert hat ein Kompromiss für diese Mitte, dem die Würde fehlt? Der keine Brücken schlägt, sondern verbrannte Erde hinterlässt?
Ist es dann nicht angebracht, in seine Fähigkeiten der Zähmung des Extrems zu misstrauen? Sich einzugestehen, dass man dem Extrem viel näher ist, als man glaubt, trotz all der Nie-Wieder Maskottchen, die man sich als Feigenblatt und als Reinwaschung des eigenen Gewissens hält? Ist es nicht an der Zeit zuzugeben, dass man in Wahrheit zum Extrem selbst geworden ist.
Vermutlich ist es vergebens, sich derartige Überlegungen an der Spitze der Macht zu wünschen, und auch bei jenen, die noch unten stehen und sehnsüchtig nach oben schielen. Vermutlich können sie nur mehr dort stattfinden, wo die Macht ihren Anfang nimmt. Bei jenen, die sie geben: den Bürgerinnen und Bürgern. Ohne ihr Vertrauen ist kein Staat zu machen. Ohne ihr Misstrauen ebenso wenig.
Misstrauen zählt zum Fundament einer liberalen demokratischen Grundordnung. Es als Problem zu stigmatisieren, das es zu überwinden gilt, wird seiner Ur-Kraft nicht gerecht, die es gerade in der Entwicklung demokratischer Gesellschaften im Westen gespielt hat, gibt der Politikwissenschaftler Florian Mühlfried zu bedenken. Er bricht eine Lanze für das konstruktive Potenzial dieser Urkraft und er ruft in Erinnerung, welche „konstitutive Rolle“ das Misstrauen „für die Bewahrung und Stärkung von Demokratie“ spielt. Dass eine Demokratie zwar ohne Vertrauen nicht bestehen kann, genauso wenig aber auch nicht ohne Misstrauen.
Ein Blick in die Geschichte zeigt, wie die Staatswerdung früher westlicher Demokratie genau auf der Tatsache fußt, dass den Regierenden als Tyrannen in spe misstraut wurde. Ihren Ausdruck findet dieses Misstrauen in den ausformulierten Verfassungen, in denen diverse Präventivmaßnahmen gegen autoritäre Umtriebe eingebaut wurden. Allein die Gewaltenteilung von Legislative, Exekutive und Judikative ist als solche zu erachten. Sie soll den Souverän vor der Übergriffigkeit eines Staates sowie diktatorischen Herrschaftsgelüsten einer Regierungsspitze schützen. „Jede (gute) Verfassung ist ein Akt des Misstrauens“ sagt der Staatstheoretiker Benjamin Constant.
Doch um das Misstrauen als - wie Mühlfried sagt - „Herrschaftsregulativ“ und „progressives Element“ gegen „unterdrückerische und willkürlich agierende Herrschaftsinstitutionen“ betrachten zu können, muss es vom abwertenden Stigma befreit werden. Das heißt unter anderem, dass verstanden werden muss, was Misstrauen überhaupt bedeutet. Dass es nicht auf Grund des Präfixes „Miss“ die Abwesenheit oder das Gegenteil von Vertrauen sei, was Lähmung, Angst und Passivität zur Folge hätte, sondern, dass es als eine „Haltung des Engagements“ gesehen werden kann, die ihren Ausdruck laut Niklas Luhmann „in defensiven Vorkehrungen“ finden würde. Es ist eine proaktive Praxis, kein passives Ergeben. Man geht nicht blauäugig immer vom Besten aus, sondern kalkuliere das Scheitern mit ein und würde daher für den Ernstfall „alternative Handlungsoptionen in Stellung bringen.“
Das heißt: Man vertraut nicht blind auf die Regierenden und dass sie schon nichts Übles im Schilde führen, sondern man arbeitet an der Stärkung von Institutionen, die ein Auge auf sie werfen, sie prüfen, sie kontrollieren und darauf achten, dass sie im Dienste der Gemeinschaft und nicht des eigenen Egos oder einer bestimmten Gruppe schalten und walten, wie es ihnen beliebt.
Dem Misstrauen wohnt aber sogar ein revolutionäres Potenzial inne. Es kann ganze Herrschaftssysteme stürzen. Doch stellt Florian Mühlfried fest, dass das Misstrauen gerade in seiner revolutionären Tradition am meisten tabuisiert wird. Anfangs noch „Quelle der revolutionären Bewegungen“, wird es mit der Konsolidierung der neuen Machtverhältnisse und Machthaber schnell zur „verdammenden Grundeinstellung gegenüber der Regierung.“ Denn die neuen Regierenden wissen ja, wohin zu viel Misstrauen führen kann: zu ihrem Sturz.  Wie sie das handhaben? Sie verbieten es. Statt das Misstrauen der Bürgerinnen gegenüber dem Staat zu erlauben, säen sie es unter den Menschen. Der Regierung soll absolut vertraut werden, einander maximal misstraut. Menschen, die derartige Regime erlebt haben, berichten von dieser Misstrauensmaschinerie, die in den eigenen Reihen plötzlich angeworfen wurde. Wie sich der Verdacht plötzlich überall einschleicht, in die Schulen, am Arbeitsplatz, in Familien, Freundschaften und Beziehungen. So erodiert eine Gesellschaft, ihr Zusammenhalt wird zerstört und aus jedem Mitmenschen, jeder Nachbarin, jedem Kollegen, jedem Vertrauten eine Gefahrenquelle für das eigene Überleben.
Die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller beschreibt in ihren Reden und Essays immer wieder diese Mechanismen. Aufgewachsen in Rumänien als Angehörige der deutschen Minderheit zu den Zeiten der Ceaușescu-Diktatur, hat sie miterlebt, wie ein Regime dieses Misstrauen in ihre Landsleute injiziert hat. Sie wurden sich einander dermaßen verdächtig, dass sie einander nur meiden oder denunzieren konnten. In einer Rede unterscheidet sie drei Kategorien von Menschen in diesen Regimen: die Angstmacher, die Angstbeißer und die Angstträger. Erstere machen Zweiteren Angst. Und die Dritten, die Angstträgerinnen, haben gelernt „ihre eigene Angst zu verwalten“ sowie von der Angst der anderen zu profitieren:
„Sie waren egoistisch, rücksichtslos und machten aus dem Elend mal ahnungslos, mal schamlos das Beste. Sie selber glaubten, sie machen sich nur ein glattes Leben und keine Politik. Aber war doppelte Angst wirklich unpolitisch? Ich glaube nicht. Sie verhinderte das politische Denken, das zum Selbstzweifel hätte führen können.“
Selbstzweifel würde ein Innehalten zur Folge haben. Vielleicht ein Abstandnehmen, gar ein Widerstand zum bisherigen Gehorsam. Daher setzen die Angstmacher alles daran, dass es bei den Angstträgern nicht zu diesem Selbstzweifel kommt. Sie dressieren sie weiterhin in der Angst. So wird aus den einander Misstrauenden und einander Angstmachenden eine Gesellschaft, die nicht nur politisch und materiell ruiniert ist, wie Herta Müller schreibt, sondern auch moralisch.
Misstrauen als unterdrückerische Zermürbungspraxis funktioniert nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb eines Regimes. Es dient Diktatoren zur potenziellen Ausweitung ihres Wirkungsradius‘, da es einen Nährboden der Verunsicherung schafft. Im Inselstaat Taiwan kennt man dieses Gefühl. Die taiwanische Regierung nennt es „kognitive Kriegsführung.“ Die Demokratie, die nur eine 130 Kilometer breite Meerenge von China trennt, wird von der kommunistischen Volksrepublik als abtrünnige Provinz betrachtet. Chinas Staatschef Xi Jinping lässt keine Gelegenheit aus, darauf hinzuweisen und eine „Wiedervereinigung“ mit dem Inselstaat anzustreben – notfalls mit Gewalt. Um die „Abtrünnigen“ auf das Szenario einer chinesischen Übernahme einzustimmen, wird unter anderem daran gearbeitet die Taiwanerinnen nicht nur mit Militärmanövern einzuschüchtern, sondern sie auch zu verunsichern und ihr Misstrauen gegenüber den eigenen Regierenden anzustacheln. Seit Jahren führt der Inselstaat die Liste jener Länder an, die laut Digital Society Project der Stockholmer Universität von einer fremden Regierung mit Desinformationen geflutet werden. Inhaltlich orientieren sich die Kampagnen vor allem darauf, Taiwans politische Elite und seine Verbündeten, allen voran die USA, als korrupt, unzuverlässig und nicht vertrauenswürdig darzustellen. So kursieren etwa vor allem in Wahlkampfzeiten Gerüchte, dass Taiwans Regierende mit den USA Deals ausgehandelt haben, dass sie sich im Fall einer chinesischen Invasion per Helikopter aus dem Land fliegen lassen, während die Bevölkerung allein auf sich gestellt ist. „Das ist das Hauptschlachtfeld: Die Angst, die Ungewissheit und der Zweifel sollen uns nachts wach halten", kommentierte Audrey Tang, Taiwans Ministerin für Digitales, in einem Interview mit der New York Times Chinas Desinformationsstrategie.
Doch auch in Demokratien weiß man Misstrauen so einzusetzen, dass es eine Gesellschaft nachts so lange wachhält, dass es ihr ethisches Fundament porös werden lässt, bis es Gefahr läuft zusammenzukrachen. In den USA hat sich eine ganze Industrie darauf spezialisiert, aus dem Zweifel ein Geschäft zu machen: „Doubt is our product.“ Zweifel ist unser Produkt. Der Satz fällt in der Dokumentation Merchants of Doubt von 2014. Darin zeigen die Macher, wie es einer Gruppe von PR-Männern über Jahrzehnte gelungen ist, wissenschaftliche Erkenntnisse für ein Gros der Bevölkerung als unglaubwürdig darzustellen - und das mit einer einzigen Strategie: Zweifel zu säen.
Begonnen haben sie damit bereits in den 1950er Jahren, als nach und nach klar wurde, dass Nikotin abhängig macht und Rauchen Krebs und andere Krankheiten verursacht. Schlichtweg: tödlich ist. Ein herber Schlag für die Tabakindustrie, den sie dank der New Yorker PR-Agentur Hill & Knowlton zu kontern wusste. In einem Meeting mit den führenden Zigarettenbaronen des Landes wurde erklärt, wie die Konzernbosse auf die wissenschaftlichen Ergebnisse über die Gefahr ihres lukrativen Produkts reagieren sollten: nicht leugnen, aber in Frage stellen. In aufgeklärten Gesellschaften kann schließlich niemand etwas gegen das Fragen und Hinterfragen haben, steht es schließlich am Anfang jeder Erkenntnis. Kann man mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass Rauchen Krebs verursacht? Es kann sein, es kann aber auch nicht sein, oder?
Egal, wer etwas über die Gefahr ihres Produkts wissen wollte, ob Journalistin oder Kongressabgeordnete, immer und immer wieder ließen sie die unverdächtigen Misstrauensgranaten hochgehen, in dem sie die Lüge als harmlose Fragen tarnten. Und fragen wird man ja wohl noch dürfen, ob den Ergebnissen wirklich zu trauen ist, nicht wahr?
Der dabei hervorgerufene Zweifel beschränkte sich nicht nur auf die Erkenntnisse der Experten, sondern auch auf die Wissenschaftler selbst. Es wurde persönlich. Ihnen wurde vorgeworfen, nicht wissenschaftlich zu agieren, sondern politisch. Man diskreditierte sie und ihre Arbeit und schrieb so das Drehbuch, an dem sich noch Jahrzehnte später Vertreter verschiedener Industrien zu unterschiedlichen Themen orientierten. Ob Fast Food, Pharma, Erdöl, das Ozonloch, saurer Regen, die globale Erderwärmung.
„All diese Themen haben eine Sache gemein: Sie erfordern staatliches Handeln“, erklärt die Wissenschaftshistorikerin Naomi Oreskes in der Dokumentation. Auf ihrem gleichnamigen Buch basiert Merchants of Doubt. Gemeinsam mit ihrem Kollegen Erik Conway dokumentierte sie, wie eine Industrie von PR-Strategen vermeintlich unabhängige Möchtegernexpertinnen in Talkshows, Radiosendungen und vor den US-Kongress schickt, um mit Scheinexpertise das Vertrauen der amerikanischen Bevölkerung in die echte Wissenschaft zu untergraben.
Auf das Thema ist Oreskes gestoßen, als sie begonnen hatte, zu Debatten rund um den Klimawandel zu recherchieren. Sie wollte herausfinden, ob es hier - wie in den Medien suggeriert wurde - tatsächlich konkurrierende wissenschaftliche Erkenntnisse gab, eine echte Debatte, in der jemand in Frage stellen würde, dass die zunehmend steigenden Treibhausemissionen für die Erderwärmung verantwortlich sind. Dafür untersuchte sie die gesamte wissenschaftliche Literatur zwischen 1992 und 2002 zu dem Thema. Ihr Ergebnis: Kein einziger Kollege widersprach dieser Erkenntnis.
Man war sich unter den echten Expertinnen also einig. Das publizierte Oreskes und wurde prompt attackiert. Dabei stellte sie fest, dass es nicht irgendwelche Personen waren, die sie beschimpften und diffamierten: Es waren dieselben Leute, die in den Jahren zuvor andere Wissenschaftlerinnen zu anderen Themen ins Visier genommen haben. Oreskes hat festgestellt, dass all diese Themen eine Sache verbindet: ein Einlenken des Staates. Womit all diese Themen sich für ideologische Grabenkämpfe hervorragend eignen, insbesondere unter jenen, deren Betriebssystem aus dem Kalten Krieg stammt und damit jede Einmischung des Staates als Weichenstellung für eine kommunistische Übernahme interpretiert wird. Jede potenziell regulierende Maßnahme des Staates zum Schutz der Bürgerinnen wurde rasch zu einem Referendum über den Zustand der Identität der Nation erhoben. Was würden sie noch alles regulieren, ja verbieten wollen? Früher das Rauchen, später, was wir essen, unseren Energieverbrauch, und jetzt zwingen sie uns noch, in einer Pandemie Masken zu tragen und Abstand zu halten? Kommt bekannt vor, nicht wahr?
Wissenschaftlerinnen, die oftmals keine begnadeten Kommentatoren sind, stehen in so einer Situation auf verlorenem Posten. Sie sollen in einer Arena ihre Arbeit verteidigen, in der sie auf Lobbyisten treffen, deren einziges Ziel ist, mit Zweifel genug Dissens zu erzeugen, um jede staatliche Regulierung abzuwehren. Und die Medien bieten diese Arena und befeuern einen Mechanismus: die false balance.
Der deutsche Virologe Christian Drosten hat dieses falsche Gleichgewicht, das in den Medien stattfindet, während der Corona-Pandemie am eigenen Leib gespürt. Er war erstaunt, wie eine Mehrheitsmeinung in der Wissenschaft durch nur ein oder zwei Gegenstimmen plötzlich zu einem 50:50 Meinungskonflikt wurde. „Und dann passiert das, was eigentlich das Problem daran ist, nämlich dass die Politik sagt: ‚Na ja, dann wird die Wahrheit in der Mitte liegen.‘ Das ist dieser falsche Kompromiss in der Mitte“, sagt er in einem Interview.
Zweifel an der Ursache von Krankheiten sind nicht neu. Etwa in der Frühphase von Aids war es der Wissenschaft nicht möglich, zufriedenstellend zu beantworten, warum es lange braucht, bis die Krankheit ausbricht, oder warum nicht alle Zellen mit dem Virus infiziert werden und jene, die es werden, nicht isoliert werden können. „Die Wissenschaft hat die Tendenz, Dinge als selbstverständlich richtig darzustellen. Raum für Zweifel oder Nachfragen kommt da manchmal zu kurz"“, gestand der leitende Virologe der Uniklinik Heidelberg Hans-Georg Kräusslich einmal in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung.
Es benötigt in einem demokratischen Gefüge einen kontrollierten Raum des Zweifels, damit er nicht irgendwann alles unter sich begräbt. Ein schwieriges Unterfangen. Die Merchants of doubt machen sich die manchmal verabsolutierende Unbeholfenheit der Wissenschaft zu Nutze und wissen: Nur eine Gegenstimme reicht für das falsche Gleichgewicht von Expertenmeinungen.
Es ist eine kluge Strategie der Zweifelshändler. Sie spielt hinein in das nationale Narrativ einer liberalen Demokratie, die sich nicht vor ihren Bürgerinnen und ihrem Misstrauen fürchtet, sondern sich ihr furchtlos auszusetzen weiß. Es gilt, sich dem Souverän permanent zu beweisen und sein Vertrauen zu gewinnen. Der Souverän erfüllt seinen Teil der Gleichung, in dem er seiner Bürgerpflicht zu misstrauen nachkommt. Genau hier packen ihn dann die Merchants of doubt: in seiner demokratischen Sozialisation, und erhöhen die Dosis seiner Skepsis. Lassen das Misstrauen zu einem Zweifel werden, der über das Ziel hinausschießt, und sich in einen alles zersetzenden Argwohn verwandelt, orchestriert von einer Handvoll Lobbyisten, die mit der Fragilität einer demokratischen Gesellschaft spielen.
Ein Weg, den Merchants of Doubt nicht auf den Leim zu gehen, ist, sich dem Misstrauen gekonnt zu verweigern. Wie? In dem man sich voller Inbrunst der Unwissenheit hingibt. Sie glauben, das kommt nicht vor in unserer aufgeklärten Realität? Doch, kommt es. Unwissenheit kann sogar ein Segen sein. Viele möchten ihn als solchen so lange wie möglich genießen. Insbesondere, wenn der Verdacht besteht, dass Wissen Unangenehmes zu Tage fördern könnte. Ganze Nationen bevorzugen daher diese glückselige Ignoranz. In Österreich und in Deutschland ist diese Ignoranz Teil der nationalen Erinnerungskultur. Weitergegeben von Generation zu Generation. Zu selten will man der eigenen Familiengeschichte misstrauen und genau nachfragen, was denn der Großvater, die Großtante oder der Vater im Zweiten Weltkrieg gemacht oder nicht gemacht haben. Tut es einmal eine Außenstehende, wird sie schnell abgefertigt. Nein, nein, der Opa, der war kein Nazi. Auch, wenn man bei diesem Opa niemals genau nachgefragt hat. Niemals nachgehakt, wenn er einmal von damals zu erzählen begonnen hat. Eine Nachlässigkeit, die jede Erinnerungskultur unglaubwürdig wirken lässt, wie der Publizist Michel Friedman bei einer Gedenkveranstaltung für die Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen im Mai 2023 im Wiener Parlament ausgeführt hat: „Es gibt keine Erinnerungskultur dort, (...) wo kein kommunikatives Gedächtnis stattfindet. Denn das ist eigentlich, was wir Erinnerungskultur nennen. Die Großeltern erzählen es den Kindern, die Kinder den Enkelkindern und irgendwann wird es das kollektive gesellschaftliche Gedächtnis.“
Wenn diese Erzählung also nicht stattfindet, höchstens verfälscht oder geschönt, worauf baut dann ein gemeinsames Erinnern und ein kollektives Gedächtnis?
Die Wenigsten hinterfragen die eigene Familiengeschichte. 2018 haben Forscher der Bielefelder Universität und der Berliner Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ in ihrer Studie „Trügerische Erinnerung“ herausgefunden, wie viele Deutsche sich die eigene Geschichte schönreden. 69 Prozent haben angegeben, dass unter ihren Vorfahren keine Täter des Zweiten Weltkrieges gewesen seien; nur 18 Prozent bejahten das. Auf die Frage „Haben Vorfahren von Ihnen während des Zweiten Weltkrieges potenziellen Opfern geholfen (zum Beispiel Juden versteckt)?“ antworteten 18 Prozent der Befragten mit „Ja“, 36 Prozent mit „weiß nicht“ und 45 Prozent mit „Nein.“
18 Prozent sollen in der NS-Zeit Verfolgten geholfen, sie gar gerettet haben. Eine Illusion. Die Anzahl der nicht-jüdischen Deutschen, die ihren Mitbürgern in der Nazi‑Zeit geholfen haben, war verschwindend klein, wissen Historikerinnen. Ihr Anteil liegt im Promille-Bereich. Dennoch will fast ein Fünftel der Nachkommen glauben, dass Opa und Oma nicht nur Täter, Mitläufer und Nutznießerinnen eines Regimes waren, sondern fast schon Helden.
Der deutsche Journalist Hannes Leitlein zählt zu jenen, die sich dieser Illusion nicht hingeben wollen. Er beschreibt in dem Essay „Die Nazis, das waren wir“, wie er versucht herauszufinden, was seine Vorfahren im Zweiten Weltkrieg tatsächlich getan haben, und er reflektiert dabei auch die eigene Rolle desjenigen, der zu spät und zu wenige Fragen gestellt hat. Zu selten hat er die seinen der Grausamkeiten verdächtigt. Der Zweite Weltkrieg, das war etwas aus den Geschichtsbüchern. Nichts, das mit ihm selbst im Entferntesten zu tun hatte. Zwar hat Leitlein gelernt, was die meisten Deutschen in dieser Zeit getan haben, ist das antifaschistische Standardprogramm während der Schule durchlaufen - vom Lesen von Anne Franks Tagebuch bis zum Besuch im ehemaligen Konzentrationslager Dachau - und war tief betroffen und erschrocken. Doch war diese Geschichte eine Geschichte der anderen, nicht Teil der eigenen Biografie. Erst als Erwachsener begriff Leitlein, wie die Bilder aus dem Geschichtsbuch mit jenen aus dem Familienfotoalbum zusammenpassten: „Die Nazis, realisierte ich, das waren wir - und dieses Wir, das sehe ich heute, war nie wirklich weg.“
Spät begann er sich seinen Verwandten auf investigative Art zu nähern. Nur einmal hat er seine Großmutter, die im Krieg noch ein Kind war, gefragt, ob sie etwas mehr erzählen kann. Nach dem Tod seines Großvaters hat er es versucht, und hat sich dann doch nicht getraut, die relevanten Fragen zu stellen und nachzuhaken, als sie wieder nur das Leid der letzten Kriegstage Revue passieren lassen wollte: „Was hat Opa im Krieg gemacht? Wusste dein Vater, mein Uropa, als Eisenbahner nichts von den Deportationen?“
Leitlein bedauert seine Nachlässigkeit bezüglich der eigenen Biografie. „Mein Unterlassen fühlt sich an, als hätte ich nicht genug getan zur Wiedergutmachung und damit die deutsche Schuld fortgeschrieben“, schreibt er. Leitlein setzt das eigene Verhalten in einen größeren Kontext. Warum die Aufarbeitung der NS-Zeit in Deutschland nie konsequent stattgefunden hat. Wie es sein kann, dass so viele Deutsche nach einem Schlussstrich verlangen. Dass es endlich einmal gut sein soll, mit diesen „alten Geschichten.“ Warum die Erinnerungskultur, wie sie praktiziert wird, niemals glaubwürdig sein kann ohne den leisesten Verdacht in das Verhalten der eigenen Familie. Misstrauen kann hier also durchaus ein erkenntnisleitendes, gar investigatives Gefühl sein. Das Grundgefühl der Aufklärer vielleicht?
Intellektuelle begreifen sich ja oft in der Rolle von Mahnerinnen. Es sind diejenigen, die Vorsicht schreien, während der Rest bestenfalls planlos umherirrt. Die ewigen Kassandras, die Spielverderber, Besserwisser, die Korinthenkackerinnen, die in jeder noch so wohlmeinenden Intention und jedem noch so plausibel klingenden Argument den doppelten Boden erkennen und pedantisch jeden falschen Glanz wegkratzen, um den ekligen Kern freizulegen. Sie sind gewissermaßen Berufsmisstrauende. Das macht sie zu unangenehmen Gefährten. Wer möchte schließlich ständig darauf hingewiesen werden, dass immer etwas faul ist an einer Sache. Bestärkt werden im eigenen mulmigen Gefühl, das zu oft unterdrückt wird, um selbst nicht zum Spielverderber zu werden. Zu jenem, der die Harmonie zerstört, weil er dort zu graben beginnt, was seit Jahren, gar Jahrzehnten voller Absicht verschüttet ist. Und nicht jedes Misstrauen dient dem Erkenntnisgewinn. Allzu gern wird es von jenen gesät, die es als Nebelgranaten eines alles zersetzenden Argwohns für den eigenen Vorteil in einer Gesellschaft zünden, um genau das zu tun, wessen es immer verdächtig wird: zu spalten, zu verunsichern, für Dissens zu sorgen, wo das Gegenteil so dringend notwendig wäre. Kennt eine demokratische Gesellschaft den Unterschied zwischen jenen, die wohlmeinend für das Gemeinwohl misstrauen, und jenen, die es zum Eigennutz pervertieren, gar missbrauchen? Kann darauf vertraut werden, dass sie sich nicht in die Irre führen lässt von den Nebelgranatwerferinnen und den Geschäftemachern des Zweifels, welche für den eigenen Vorteil die einen unter Generalverdacht stellen, während sie anderen einen Freibrief erteilt?
Nein, kann es nicht.
Aber es kann daran gearbeitet werden, mit allen verdächtig Unverdächtigen. Voller Vertrauen.
Und Misstrauen.