Heuer: Welchen Grund kann ein 19-Jähriger, ein Mensch wie Walter Jens, so wie Sie ihn gerade geschildert haben, denn Anfang der 40er Jahre gehabt haben, trotz seiner Antipathie für den Nationalsozialismus, in die NSDAP einzutreten?
Giordano: Da frage ich mich, ohne in dem konkreten individuellen Fall eine Antwort zu haben. 1942 war Hitlerdeutschland auf dem Höhepunkt seiner politischen und militärischen Macht. Stalingrad war noch nicht gewesen, die Ausdehnung des deutschen Machtbereiches zwischen Atlantik und Kaukasus, den Polarkreisen und der Sahara, war gewaltig. Dass es drei Jahre später zu Ende war, konnte keiner ahnen. Vielleicht haben viele gedacht, auch, die keine Nazis waren, dass dieses System, wenn nicht ewig, aber so doch lange dauern würde. Aber das sind Spekulationen.
Heuer: Aber diese Spekulationen liefen ja darauf hinaus, dass sich Walter Jens etwas von seinem Beitritt versprochen haben muss, zum Beispiel berufliche Erfolge?
Giordano: Trotzdem, ich würde das nicht überbewerten, ich will hier auch nicht in den Verdacht kommen, diesen Schritt zu bagatellisieren. Natürlich, jeder, der nur die Hand zum Hitlergruß gehoben hat, hat ein Molekül und ein Atom dazu beigetragen, dieses System zu stärken. Ich will es weder bagatellisieren noch überschätzen. Ich möchte hier etwas loswerden, nämlich dass nach meinen eignen empirischen Erfahrungen in der Nazizeit es nicht sehr viel besagen wollte, ob jemand in der NSDAP war oder nicht. Sehen Sie, der Mann, der in einem kleinen Dorf in Mitteldeutschland zwischen Braunschweig und Magdeburg, in das wir nach unserer Ausbombung geflüchtet waren, meinen Bruder Egon und mich mit einem Stein erschlagen wollte, dieser Mann war nicht in der NSDAP. Aber unter den Leuten, denen meine Familie und ich unser Leben verdanken, weil sie uns versteckt haben und mit Lebensmitteln versorgten, die genau wussten, dass ihr eigenes Leben bei Entdeckung genauso verwirkt sein würde wie unseres, war auch ein Mitglied der NSDAP. Darum habe ich mich immer gesträubt, die Mitgliedschaft in der NSDAP als Kriterium zu nehmen, um davon abzuleiten, dass einer Nazi war oder nicht. Das kann man nicht, so einfach gestrickt ist das nicht und ich muss noch einmal sagen, an meinem Bild von Walter Jens ändert sich dadurch nichts.
Heuer: Nun ist aber die Tatsache, dass Walter Jens Mitglied der NSDAP war das eine, sein Umgang damit, dass das jetzt bekannt geworden ist, ist etwas anderes. Er spricht von einer absurden und belanglosen Sache. Tut er damit nicht eben dies, was Sie gerade für sich ausgeschlossen haben, bagatellisiert er nicht diese ganze Angelegenheit dann doch?
Giordano: Ja, ich kann mir schon vorstellen, dass das für einen Mann, der so in der Öffentlichkeit steht, dieses Bild von sich selbst entworfen hat, ein großer Rhetoriker und Wissenschaftler, dass der sich schon attackiert und diskriminiert fühlt und dass er sich fragen muss, ob er selbst dazu beigetragen hat. Natürlich, das gilt auch für diesen Fall, Offenheit wäre das Beste und ich hätte ein besseres Gefühl gehabt, wenn er nicht so getan hätte, dass er sich an gar nichts erinnert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass einer sozusagen in diese Mitgliedschaft hineinrutscht und davon gar nichts weiß, das will mir nicht so richtig einleuchten.
Heuer: Es gibt ja auch andere Geistesgrößen, die in dem Germanistenlexikon aufgeführt werden, ähnliche Fälle wie Walter Jens, Peter Wapnewski zum Beispiel war Gründungsdirektor des Berliner Wissenschaftskollegs. Er schließt es nicht aus, eine Unterschrift geleistet zu haben und sagt, das wäre nicht ehrenvoll gewesen. Sollte jetzt Walter Jens mit einer ähnlichen Erklärung an die Öffentlichkeit treten?
Giordano: Ich habe das alles sehr intensiv verfolgt, seitdem ich gestern von meinem Freund Günter Kunert davon informiert worden bin, ich habe vorher gar nichts gewusst, ich kenne die Sache erst seit gestern Nachmittag. Wapnewski hat mir imponiert, muss ich sagen, weil er sich dazu bekannt hat und das ist natürlich immer das Beste, die Wahrheit zu sagen. Aber ich weiß nicht, ob Walter Jens mit dem, was er da gesagt hat, wie er das abgewehrt hat, ob er Recht hat oder nicht. Ich bin in diesen 12 oder fast 24 Stunden, in denen ich davon weiß, eigentlich hin- und hergerissen. Ich wiederhole, dass mich das Ganze überrascht hat, aber ich sage genauso, dass sich an dem Bild, was ich von Walter Jens gewonnen habe, nichts geändert hat, weil es für mich bedeutend war, ich will Ihnen ganz offen sagen, Walter Jens und die Erfahrungen, die ich mit ihm gemacht haben, haben ganz wesentlich dazu beigetragen, dass ich nach 1945 in Deutschland geblieben sind, weil vor der Befreiung für uns völlig klar war, dass wir Deutschland verlassen werden. Aber die Erfahrungen, die wir mit "guten" Deutschen gemacht haben, haben Bindungen hervorgerufen und Walter Jens hat in diesem Punkt in diesen sieben Jahren eine ganz große Rolle für mich gespielt.
Heuer: Das war Ralph Giordano, Schriftsteller und Journalist, vielen Dank für das Gespräch.