"In den letzten Jahrzehnten haben wir häufig die Tendenz gehabt: Als Volkskirche wollte man für alle da sein und das bedeutet, es wird so ein bisschen gräulich, das Wischiwaschi halt. Man versucht nichts Gefährliches anzusprechen. Und das ist manchmal auch überflüssig."
Sagt Gert Pickel, Religions- und Kirchensoziologe an der evangelischen Theologischen Fakultät der Uni Leipzig. Der stetige Mitgliederschwund ist für ihn auch Zeichen des stetigen Bedeutungsverlustes der ehemals großen Volkskirchen. Das müsse aber für den christlichen Glauben nicht abträglich sein.
"Christentum ist nicht die organisierte Kirche"
Pickel: "Man könnte es hier mit einem frühen Religionspsychologen, mit William James sagen, der hat mal die Kirche als verderbten Partner der Religiosität bezeichnet. Dass die Kirche eher hemmend ist für die wahre Religiosität als stärkend."
Denn der christliche Glaube muss sich nicht zwingend in Bistümern und Landeskirchen organisieren. Im Grunde stehe nicht die Institution im Vordergrund, sondern das menschliche Für- und Miteinander, sagt Religionssoziologe Pickel.
"Das Soziale an Religion, diese soziale Komponente. Es ist ja dem Christentum gegeben, für andere da zu sein. Das ist eine soziale Komponente. Aber das macht man ja nicht allein. Also das Frühchristentum war ja auch nicht jeweils eine Person, die nur für sich gedacht hat, sondern das waren kleine Gruppen, die unter Verfolgungsdruck besonders viel Vertrauen ineinander entwickeln mussten. Vielleicht müssen die Kirchen lernen: Das, was Christentum ist, ist nicht die organisierte Kirche in organisierten Gemeinden, wo viele nicht da sind, sondern es sind die Personen, die sich irgendwie treffen können."
Die elastische Volkskirche
Schon Anfang des 20. Jahrhunderts formulierte der evangelische Theologe Ernst Troeltsch die Idee der "elastischen Volkskirche". Das Christliche zeige sich in drei grundlegenden Sozialgestalten: erstens in der verfassten Kirche, zweitens in ausgelagerten Vereinen, Initiativen, Gebetskreisen und Splittergruppen, die Troeltsch Sekten nannte, und drittens in einer individuellen Frömmigkeit und Mystik.
"Eine der Pointen seiner Behauptung dieser Trias ist ja, dass diese drei Gestalten wechselseitig voneinander abhängig sind. Sowohl die Sekte-Freikirche als auch die religiösen Individualisten sind in einer bestimmten Weise von der Großkirche abhängig, nämlich als derjenigen Größe, in der wesentlich die Überlieferung des Christentums stattfindet und eine Vermittlung des Christlichen in der ganzen Breite. Sie ist Kirche für das Volk, bietet auch so was wie die religiöse Grundversorgung an, Beerdigungen, Taufen, Trauungen auch für diejenigen, die nicht intensiv am Gemeindeleben teilnehmen."
Sagt Martin Fritz, theologischer Leiter der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin. Was aber, wenn die Kirche ihren Aufgaben nicht mehr nachkommt? Vielfältig sind die Klagen, die Predigten würden immer schlechter. Im Konfirmanden-Unterricht werde kaum noch biblisch-theologisches Wissen vermittelt. Wer einen nahen Verwandten beerdigen lassen möchte, erreiche den Ortspfarrer nicht und bestelle lieber gleich einen freien Trauerredner. Wo aber Kirche ihren Grundaufgaben nicht mehr nachkommt, hat sie auch ihre Existenzberechtigung verloren. Evangelisch gesprochen:
"Kirche ist da, wo das Evangelium gepredigt und die Sakramente gefeiert und verwaltet werden. Da braucht es sonst gar keinen Überbau, keinen kirchlichen. Das ist erst mal eine Funktion und keine Institution, welche die Kirche ausmacht", sagt Martin Fritz.
Gefahr der Abschottung
Wird es christliche Existenz künftig also vor allem in Vereinen und Splittergruppen geben? Eine individuelle Frömmigkeit ohne großkirchliche Anbindung? Ja, sagt Religionssoziologe Gert Pickel, das gebe es schon lange in den USA. Aber dort eben mit Risiken und Nebenwirkungen.
Pickel: "Da habe ich eine bunte Pluralität sehr unterschiedlichen Glaubens. Hat nur das Problem, dass Gruppen, wenn sie nur nach innen gerichtet sind und mit anderen nicht kommunizieren, sehr schnell, was wir negativ betrachten, als Sekten daherkommen. Also Gruppen, die sehr überzeugt sind nach innen. Die haben allerdings auch einen Stacheldrahtzaun außen rum und sind gut bewaffnet. Eine Entwicklung nicht zum Liberalen, sondern eher zum Dogmatisch-Religiösen hin. Wenn ich so eine kleine religiöse Gemeinschaft dann habe - die überlebt dadurch, dass sie sich abgrenzt. Ich würde nicht sagen, dass das eine schwache Theologie ist. Es wird wahrscheinlich sogar eine sehr starke sein. Aber vielleicht eine doch stark vereinfachte."
Wer künftig keine amerikanischen Verhältnisse in Deutschland haben wolle, müsse vor allem auf Bildung und Aufklärung setzen. Und dafür seien schon heute nicht mehr Kirchenräume entscheidend.
"Der Schlüssel ist guter Religionsunterricht"
Pickel: "Die Berührung zur Religion findet an zwei Stellen statt. Das ist in der Familie und das zweite ist im Religionsunterricht. Es lernt ja keiner in der Kirche Religion, um das mal ganz ehrlich zu sagen, sondern man lernt es an diesen beiden Stellen. Wenn die Eltern nicht religiös sind, dann werde ich keine Kirche von innen sehen. Und wenn ich nicht im Religionsunterricht die Basis des Wissens erfahre, dann weiß ich auch gar nicht, was dort getan wird."
Der Schlüssel liegt für Pickel vor allem in einem guten Religionsunterricht. Wenn es künftig keine Großkirchen mehr geben sollte, werde es auch keine akademische Pfarrerausbildung mehr geben, sprich: Die Theologische Fakultät wäre ein Auslaufmodell. Was es aber weiterhin brauche: religionswissenschaftliche Institute zumindest für die Lehramtsausbildung. Auch wenn er die Gefahr sieht, dass künftig theologisches Wissen verloren geht, Pickel ist zuversichtlich, dass historisch-kritische Wissenschaft nicht zwangsläufig verloren gehen müsse.
"Theologische Fakultäten würden sich auflösen"
Pickel: "Die theologischen Fakultäten würden sich auflösen. Aber es wird so sein, dass Theologen und die Theologie als Wissenschaft in bestimmten Bereichen innerhalb der Geisteswissenschaften überleben würde, dass es Zuordnungen zu philosophischen Fakultäten oder so etwas gibt. Ob das dann aber für alle die Vorgabe ist, das ist ja eine andere Frage."
Eine Verzwergung der Großkirchen müsse also nicht zum Ende der Theologie führen. Sie werde aber zu anderen Organisationsstrukturen führen: vor allem zu kleineren Vereinen. Und Ironie der religionssoziologischen Geschichte: Nicht die Großkirchen wären dann weiterhin Vorbild für andere Religionen, sondern umgekehrt würden sich Christen an den Vereinsstrukturen anderer orientieren müssen, meint Gert Pickel.
"Schauen wir uns zum Beispiel die Muslime in Deutschland an. Deren Organisationsform ist ja gemeinschaftsorientiert. Die haben verschiedenste Gemeinschaften um die Moscheen herum, aber die sind ja relativ singulär. Dort haben wir nicht die Kirche, die alles zusammenhält, sondern es sind viele Gemeinschaften", so Pickel.
Gelegenheits-Strukturen und soziale Angebote
In Zukunft könnte es also vielfältige Formen von Gemeinschaft und Gemeinde geben. Von der christlichen Motorradgruppe bis zum Strickkreis, vom Singe-Club bis zum Kochkurs, Gelegenheits-Strukturen und soziale Angebote, die auch von Nicht-Gläubigen akzeptiert werden können.
Pickel: "Man könnte sagen, das könnte auch im Bürgerhaus sein. Aber man hat dort nicht das Flair der sozialen Vergemeinschaftung. Wir haben in Ost-Deutschland mehr Personen, die in Gruppen um Kirchen herum sind, als Mitglieder. Und das ist urchristlich, finde ich, dass man Sozialformen ermöglicht."
Klar ist auf jeden Fall, dass die Kirchen an Macht und Einfluss verlieren werden. Die kleineren christlichen Vereine werden kaum die bisherigen Strukturen aufrechterhalten können.
"Um ein aufgeklärtes Christentum ist mir schon bang"
Pickel: "Jede dieser einzelnen Gemeinschaften würde gegenüber dem Staat kaum Durchsetzungskraft haben. Da gibt’s ein Grüppchen und da gibt’s ein Grüppchen. Da ist dann die obere Organisationsform doch ganz hilfreich."
Pickel selbst kann sich daher so etwas wie einen EKD-Dachverband als politische Repräsentanz weiterhin vorstellen. Die Landeskirchen aber hält er für überholt. Und Theologe Martin Fritz glaubt schon an so etwas wie die Wirkmächtigkeit des Wortes Gottes oder eben des Heiligen Geistes. Auch in Zukunft werden die Deutschen Bibel lesen, beten oder christliche Lieder singen. Ob aber das theologische Niveau ohne Landeskirchen und akademisch ausgebildete Pfarrer zu halten sein wird, weiß er noch nicht.
Fritz: "Ich bin nicht besonders pessimistisch, was das Christentum angeht. Da rechne ich mit einer gewissen Selbstwirksamkeit des Wortes, mit einer gewissen grundlegenden Religiosität des Menschen, die im Christentum dann eine besonders schöne und wahre Form findet. Um das Christentum ist es mir nicht bang. Um ein aufgeklärtes Christentum ist mir schon bang."