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Zurück vor den Urknall

Physik. - Am Anfang war der "Urknall": Mit einem Mal entstanden Materie, Raum und Zeit, und zwar in etwas, das weniger war als ein Punkt, aber dafür unvorstellbar heiß und dicht. Dieses Etwas blähte sich auf. Es wuchs und kühlte ab, Atome entstanden, die ersten Sterne, die ersten Galaxien - und irgendwann wanderten auf dem dritten Planeten einer unbedeutenden Sonne am Rande eines x-beliebigen Spiralnebels zweibeinige, großköpfige Wesen, die sich über den Anfang von allem Gedanken machen.

Von Dagmar Röhrlich |
    Dazu ersannen sie die Relativitätstheorie, die Quantenphysik, redeten von Strings und noch viel mehr, so dass sie bis auf winzige Bruchteile der ersten Sekunde nach dem Urknall zurückrechnen konnten - jedenfalls ein paar von ihnen, die als Eingeweihte mit der "Geheimwissenschaft" der theoretischen Physik umzugehen verstanden. Aber dieses letzte Sekundenstückchen vor der "Stunde Null" blieb auch ihnen verschlossen, denn dort versagt ihre Physik. Bislang.

    Aber Rettung ist in Sicht. Der junge Physiker Martin Bojowald hofft mit Hilfe der Mathematik die derzeit letzten Geheimnisse enthüllen zu können. Das teilt er uns in seinem Buch "Zurück vor dem Urknall" mit, in dem er uns seine Idee von der "Schleifen-Quantengravitation" oder auch "Loop-Theorie" näher bringen möchte.

    Die Idee stammt aus den 70er Jahren und wird derzeit parallel zur Stringtheorie weiterentwickelt. Diese beiden Lager von theoretischen Physikern kümmern sich derzeit um die letzten Fragen - oder besser: um die derzeit letzten, denn es werden bestimmt wieder neue auftauchen, falls es einer der Gruppen gelingt, eine Antwort zu finden. Während sich die Anhänger der Stringtheorie bereits 2005 mit dem von Lisa Randall geschriebenen Buch "Verborgene Universen - Eine Reise in den extradimensionalen Raum" über einen Bestseller freuen konnten, sind nun mit Martin Bojowald die Freunde der mathematischen Schleifen (Loops) dran. Auch dieses Buch geht über die Ladentische wie geschnitten Brot: Den Fischer-Verlag wird es freuen, schließlich hat er beide Autoren unter Vertrag.

    "Zurück vor den Urknall" beginnt klassisch, mit einer Einführung in Newtons Gravitationsgesetz. Die fällt - im Vergleich zu anderen Büchern dieser Art - ausgesprochen karg und blässlich aus, ebenso wie die Erläuterungen von Quanten- und Relativitätstheorie. Da gibt es auf dem Markt viel anschaulicher geschriebenes, beispielsweise von String-Konkurrentin Lisa Randall, obwohl auch deren Buch eigentlich das Prädikat "populärwissenschaftlich" nur in Teilen verdient. Doch zurück zum Urknall. Ob die Rolle der Mathematik in der Kosmologie, Dunkle Energie oder Schwarze Löcher, das Buch liest sich eher wie ein Vorlesungsskript - trotz einiger netter Passagen wie der des Flugs einer fiktiven Sonde namens Kruskal in ein Schwarzes Loch, die in wenigen Worten dem Laien viel mehr illustrieren als viele Seiten Text. Man sucht unwillkürlich nach den Formeln - und ein paar sind tatsächlich auch drin.

    Für Physikbegeisterte wird es nach rund 100 Seiten richtig interessant. Bojowald beginnt zu erläutern, was ihm seine Berechnungen verraten. Danach leidet das Universum unter so etwas wie "tragischer Vergesslichkeit" für das, was vor ihm war: Das sei wie mit einem Vorhang verhüllt, "den die Gleichungen der Schleifen-Quantenkosmologie" jedoch zu durchdringen vermögen. Stimmt Bojowalds Ansatz, wird der Urknall zu so etwas wie einem Nadelöhr, durch dass sich ein arg geschrumpfte Universum fädelt, um sich auf der anderen Seite wieder auszudehnen, wobei es sich bei der Passage umgestülpt hat. Nachdem es unter seinem eigenen Gewicht kollabiert ist, schrumpft das Universum so lange, bis es klein genug ist, dass die Quanteneffekte messbar ins Spiel kommt. Es wird gebremst, gestoppt - und dann kehrt es sich um, eine Expansionsphase beginnt, bis es wieder kollabiert.

    Das Buch ist - anders als sein Platzes auf den Bestsellerlisten es vermuten lässt - keineswegs einfach oder vergnüglich zu lesen. Es zwängt viele höchst schwierige Konzepte auf engen Raum, gibt seinem Leser selten Luft und bleibt wahrscheinlich für viele hermetisch. Außerdem wird darin auch eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Konkurrenztheorie der Strings geführt, die für den Laien aber daran krankt, dass er die einseitige Sicht der Loop-Anhänger präsentiert bekommt. Es ist ein Werbebuch für die Schleifen, so wie das von Lisa Randall eines für die Strings war. Auf jeden Fall ist "Zurück vor den Urknall" etwas für Physikfans. Sie werden begeistert sein. Alle anderen legen es wohl eher mit einem Achselzucken beiseite. In seinem Vorwort fragt sich Martin Bojowald, was denn wissenschaftlicher Fortschritt wert sei, wenn man ihn nicht vermitteln könne. Tja - das werden sich am Ende der Lektüre auch viele seiner Leser fragen. Aber spannend ist die Theorie. Mal sehen, wer von beiden Physiklagern weiter kommt.

    Martin Bojowald: Zurück vor den Urknall. Die ganze Geschichte des Universums
    ISBN: 978-3-10-003910-1
    S. Fischer Verlag, 343 Seiten, 19,95 Euro