"Der 'Baltische Weg', ich glaube, das war schon so ein ganz wichtiger Punkt."
Es war ein eher kühler Spätsommertag, dieser 23. August 1989. Ein Mittwoch.
"Diese Menschenkette, das man sieht: 2 Millionen Menschen können sich die Hand reichen und sagen: Wir gehen diesen Weg zur Unabhängigkeit!"
Um genau 19:00 Uhr und für genau fünfzehn Minuten verband eine 600 Kilometer lange Menschenkette die Hauptstädte der drei baltischen Republiken Riga, Tallinn und Vilnius.
600 Kilometer lange Menschenkette
Andrejs Urdze war zwischen 1988 und 1992 erst Vertreter der Bürgerbewegung "Lettische Volksfront" und dann bevollmächtigter Vertreter der Republik Lettland in der Bundesrepublik:
"Dadurch wurde die ganze Kraft sichtbar, dadurch wurde klar: Hallo, von insgesamt - was sind das? Zu der Zeit knapp 8 Millionen Einwohner. Und wenn von acht Millionen zwei Millionen sich die Hand geben, dann ist das schon was ganz Besonderes."
Die Hymne, die aus Anlass des "Baltischen Wegs" entstand, fing den Geist der Aktion perfekt ein.
50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes
Der Termin für die Menschenkette war klug gewählt: Es war der 50. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes, in dessen geheimem Zusatzprotokoll Deutschland und die Sowjetunion Osteuropa unter sich aufgeteilt hatten. Nach dem Krieg wurde die völkerrechtswidrige Annexion des Baltikums nicht rückgängig gemacht. Ganz im Gegenteil: Zwischen 1944 und 55 ließ Moskau etwa 500.000 Esten, Letten und Litauer nach Sibirien deportieren, um den Widerstand im Baltikum zu brechen.
Im Demonstrations-Aufruf hieß es darum:
Zitat Aufruf zum Baltischen Weg
Der Hitler-Stalin-Pakt ist nach wie vor die Grundlage, auf der sich das heutige Europa stützt, das Europa, zu dem auch wir einst gehörten.
Der Zusammenbruch des Ostblocks erhielt seinen entscheidenden Anstoß durch die sowjetische Perestroika. Doch während die Tschechoslowakei und die DDR 1989 friedliche Revolutionen erleben, herrscht im Baltikum Stillstand. Der Grund: Lettland, Estland und Litauen waren seit 1940 keine unabhängigen Staaten mehr. Als die Parlamente der drei Sowjetrepubliken im Frühjahr 1990 die Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit erklären, verweigert Moskau die Anerkennung. Der Westen auch.
"Man brachte sehr viel Sympathie entgegen, schöne Worte. Aber wenn es darum ging, das konkret mit zu fördern, dann hörte es auf. Zumindest bis Januar 1991, eigentlich mit den blutigen Ereignissen in Vilnius."
Bei dreitägigen Zusammenstößen mit sowjetischen Soldaten sterben Mitte Januar 1991 dreizehn Menschen in Vilnius, 700 werden verletzt. Eine Woche danach gibt es auch in Riga sechs Tote. Die Führung in Moskau und lokale Hardliner versuchen mit allen Mitteln, den Zerfall der Sowjetunion zu verhindern.
Anerkennung der staatlichen Souveränität
Nur zwischen Boris Jelzin, zu diesem Zeitpunkt Sprecher des Parlaments der Russischen Sowjetrepublik, und seinen baltischen Kollegen herrscht Einigkeit:
"In ihrer gemeinsamen Erklärung verurteilen die vier Parlamentspräsidenten das Vorgehen der sowjetischen Führung gegen die baltischen Staaten als Bedrohung ihrer Souveränität und als Verletzung der Menschenrechte aller Bürger dieser Staaten ungeachtet ihrer Nationalität. Die vier Republiken erkennen gegenseitig ihre staatliche Souveränität an."
Jelzin wendet sich damit frontal gegen Michail Gorbatschow. Doch noch hat er in Moskau nicht die Oberhand. Als Jelzin aber Ende August 1991 den Putsch gegen Gorbatschow niederschlägt und in Moskau de facto die Macht übernimmt, steht der Unabhängigkeit des Baltikums nichts mehr im Wege. Jetzt traut sich auch der Westen.
"Deshalb wollen wir jetzt, da es möglich geworden ist, unsere Beziehungen zu Estland, Lettland und Litauen wieder aufnehmen."
Außenminister Genscher am 27. August 1991. Zwei Jahre nach der großen Menschenkette zwischen Vilnius, Riga und Tallinn haben Estland, Lettland und Litauen ihre staatliche Unabhängigkeit zurückgewonnen.