Als im November 1989 die Mauer fällt, beginnt für viele DDR-Athleten und -Athletinnen erstmal eine Zeit der Ungewissheit. "Das war schon eine schwierige Zeit, das ist klar", erinnert sich Diskuswerfer Lars Riedel aus Ostberlin:
"Ich weiß von einigen, die schnell geschaut haben, dass sie beruflich Fuß fassen, und dann eben nicht mehr so in Richtung Leistungssport gedacht haben. Keiner wusste so richtig, wie ist denn der Leistungssport dann und wie der Leistungssport weitergeht. Dann, als die Mannschaften zusammengekommen sind, hat man schon gemerkt von Jahr zu Jahr, dass da nicht mehr das ganz große Interesse bestand. Für mich war der Leistungssport zu DDR-Zeiten professioneller gewesen als danach."
Zentral gesteuertes versus liberales Sportsystem
Das Sportsystem der DDR: Zentral geregelt, frühe Talentselektion, starke Förderung und vor allem ein Ziel: Medaillen. Jetzt nach der Wende mussten zwei völlig unterschiedliche Sportsysteme zusammengeführt werden. Im liberalen System des Westens nicht möglich. Für die DDR-Athletinnen und Athleten, wie Turner Jens Milbradt, erstmal eine Umstellung.
"Das ist natürlich auch ein Prozess gewesen. Wir hatten da auch so einen schrittweisen Peu-à-Peu-Übergang und man konnte sich damit sicherlich im Zuge der Zeit doch ganz gut arrangieren. Sicherlich für die Ostdeutschen aufgrund der Leistungsfähigkeit, die ja schon höher war als das westdeutsche System, ist es den Sportlern sogar fast ein bisschen leichter gefallen. Für die westdeutschen Turner war es natürlich extrem hart."
Über die sportliche Konkurrenz hinaus half der Sport aber auch, erinnert sich Diskuswerfer Riedel. Man habe gespürt: ob BRD oder DDR, alle seien ja Deutsche. "Das war so ein bisschen eine Willkommensatmosphäre. Und es ging um Sport und Sport vereint einfach unwahrscheinlich schnell die Menschen. Das sind Sport, Musik, Kunst - das sind die Dinge, wo es ganz, ganz schnell geht und wo dann einfach Dinge viel, viel schneller passieren. Die Sprache versteht halt jeder."
DDR-System organisiert sich nach westlichem Vorbild
Die konkrete Zusammenführung der Sportsysteme bot aber eine Reihe von Problemen und erforderte viel Fingerspitzengefühl. Die insgesamt 12.000 Hauptamtlichen im Deutschen Turn- und Sportbund der DDR hätten im Westen weder eingesetzt noch bezahlt werden können. Das DDR-Sportsystem muss sich also nach westlichem Vorbild neu strukturieren: Landessportbünde werden gegründet und man gliedert sich in die Sportfachverbände des Westens ein.
"Wir mussten lausig darauf aufpassen, dass wir nichts vom DDR-Sport übernehmen", erinnert sich Jochen Kühl, damaliger Justiziar des Deutschen Sportbundes: "Es ging zum Beispiel um das Haus des Sports in Ost-Berlin. Und es gab damals den Berliner Sportpräsidenten, der sagte: 'Das kriegen wir für 'nen Appel und ein Ei. Das können wir in das Eigentum des Deutschen Sportbundes übernehmen.' Dann wurde aber doch sehr bald deutlich: Nein, das nehmen wir nicht für 'nen Appel und ein Ei. Erstens mal: Wer ist denn überhaupt der Eigentümer? Und zweitens: Wir wollten in keiner Weise in die Haftung eingebunden werden für Schädigungen, die Sportlerinnen und Sportler durch den DTSB-Sport erlitten hatten."
Auch heute, über 30 Jahre nach der Wiedervereinigung ist das Thema Dopingopfer im deutschen Sport präsent. Damals bei der deutschen Einheit habe vielen auch Zeit und Wissen gefehlt, um manches bei der Verschmelzung im deutschen Sport anders zu gestalten, meint Lars Holger Niese, der heutige DOSB-Justiziar:
"In diesem bunten Strauß musste man sich dann in der Phase der Wiedervereinigung bedienen: Welche Blume zupfen wir aus diesem Strauß und was übernehmen wir davon? Und ich behaupte mal, dessen war man sich nicht vollends bewusst damals. Was zum Beispiel die Dopingthematik anging, aber auch die Details der Auswahlprozesse und der Betreuung. Aber man hat dann letzten Endes, als dann die Vereinigung so vollzogen wurde, wie sie vollzogen wurde, auch nicht mehr im maximalen Sinne nachgekartet."
Große Herausforderungen - für Sportler und Trainer
Das hieß auch, viele Athleten suchten sich ihren individuellen Weg. Manche wechselten den Beruf, wurden arbeitslos, andere wie Lars Riedel feierten im Westen ihre großen Erfolge, allen voran Olympia-Gold in Atlanta 1996. Er habe zusammen mit seinem westdeutschen Trainer ein optimales Diskustraining erschaffen:
"Das Trainingssystem, was ihn und seine Athleten erfolgreich gemacht hat, und mein Trainingssystem - das haben wir dann miteinander verbunden. Und man hat überall die guten Sachen herausgefiltert und die dann weiter trainiert. Wir haben mehrere Trainingssysteme zusammengebaut und zu einem wunderbaren System optimiert. Deshalb waren wir dann, denke ich mal, auch so erfolgreich. Das war auch eine riesengroße Chance, die wir dann auch gut genutzt haben."
Anders war es für die DDR-Trainer und -Trainerinnen. Sie mussten in Westdeutschland in einem für sie neuen System klarkommen. Nicht nur Trainingseinheiten, sondern auch jede Menge Organisation und Bürokratie gehörten dazu. Die damalige Leichtathletik-Bundestrainerin Hanne Keydel erinnert sich noch gut in die Zeit. Prägend ist für sie vor allem eine Szene bei einem Sommerfest:
"Also zwei Trainer aus dem Osten. Und der eine aus dem Osten, das war ein Oberchef früher, und der andere war ein Kollege, der ihm praktisch immer unterstellt war. Jetzt ging es ans Bierzapfen, und der Obere zapft sich sein Bier und der Unterstehende steht daneben und sagt: Siehst du, so ist es, jetzt musst du dir dein Bier selber zapfen. Früher haben wir es dir an den Tisch gebracht."
"Ihr wisst gar nicht, wie das einen Menschen steuert"
Es habe gedauert, bis sich die ehemaligen DDR-Trainer und -Trainerinnen an die Gepflogenheiten im neuen System gewöhnt haben. Nicht alle Westtrainer haben ihnen Zeit gegeben. "Dann gab es oft: 'Mein Gott, jetzt ist er schon zwei Jahre hier im Team. Jetzt kann er es mal langsam kapieren' und so. Und da habe ich immer gesagt: Ihr täuscht euch. Ihr wisst gar nicht, wie das ist, wenn man 40 Jahre lang - sein Leben lang praktisch - seine Ausbildung in so einem System gehabt hat. Ihr wisst gar nicht, wie das einen Menschen steuert."
Hanne Keydel stammt aus Ost-Berlin, hat aber schon 1959 die Seiten gewechselt. Sie nennt sich selbst einen "Wossi", einen westostdeutschen Menschen: "Deswegen glaube ich auch, dass ich jetzt nicht so typisch bin für diese Ost-West-Situation, weil ich eben mit beiden Füßen auf beiden Seiten zu allen Zeiten war. Vor der Wende und nach der Wende. Aber ich denke, das, was mich begleitet hat in all den Jahren, war dieses Soziale, der Umgang mit den Menschen, egal, ob das dann die Trainer waren oder ob das dann die Athleten waren."