Doris Schäfer-Noske: Erst die Euro- und Schuldenkrise, dann das Zerwürfnis in der Flüchtlingspolitik, der Brexit. Und inzwischen werden in Europa nationalistische Strömungen immer stärker. Manche Regierungen haben sich von einer liberalen Demokratie bereits verabschiedet. Und auch in Deutschland fühlen sich viele Bürger von den Politikern nicht mehr vertreten.
In München ist heute eine kulturelle Veranstaltungsreihe gestartet worden - unter dem Motto "Drinnen oder draußen? Zusammenleben in Europa". Beteiligt sind daran 60 Kultureinrichtungen. Es soll Ausstellungen, Diskussionen, Filme und Konzerte geben. Vor der Sendung habe ich darüber mit dem Münchner Kulturreferenten Hans-Georg Küppers gesprochen. Und ich hab ihn gefragt, was denn eigentlich noch übrig ist, von der europäischen Idee.
Hans-Georg Küppers: Von der europäischen Idee sollte übrig sein – und das würde ich jetzt für München, aber für die Bundesrepublik auch in großen Teilen in Anspruch nehmen – das Thema der Gleichheit, das Thema der Freiheit, das Thema des Pluralismus, das Thema der Toleranz und auch das Thema der Solidarität. Und ich glaube, darum sollten wir gemeinsam kämpfen, dass diese Werte, die so wichtig sind für Europa, auch weiterhin erhalten bleiben und nicht in nationalstaatlichen Egoismen untergehen.
Das heißt, der europäische Gedanke ist ja nicht nur ein Gedanke, der sich auf die Wirtschaft bezieht. Irgendwann hat die Bundeskanzlerin mal gesagt, wenn der Euro scheitert, scheitert Europa. Ich fand das viel zu kurz gesprungen. Wenn diese Werte, die ich vorhin genannt habe, wenn die scheitern, dann kann Europa scheitern, und ich glaube, für diese Werte lohnt es sich einzutreten und zu kämpfen.
"Erstarken von nationalstaatlichem Gedankengut ist besorgniserregend"
Schäfer-Noske: "Drinnen oder draußen" heißt ja auch der Obertitel der Veranstaltung. Ist denn zum Beispiel Polen für Sie noch drinnen?
Küppers: Natürlich sind alle Länder zunächst mal noch drin in diesen Bereichen, bis auf Großbritannien, die sich ja verabschiedet haben, und man muss sehen, dass natürlich große Teile der Bevölkerung auch in Polen oder in Frankreich natürlich zu Europa stehen. Aber das Erstarken von nationalstaatlichem Gedankengut ist doch in der Tat schon besorgniserregend. Ich glaube, dass Europa wächst aus uns heraus, denn Europa findet in den Städten statt. Es wächst aus der Bevölkerung. Und wenn die Köpfe und die Herzen nicht für Europa schlagen, dann wird es in der Tat gefährlich werden.
Schäfer-Noske: Sie haben in Ihrem Programm auch Gesprächspartner zum Thema Polen oder auch Ungarn eingeladen. Aber zum Beispiel Viktor Orbán ist natürlich jetzt nicht dabei. Was kann denn Kultur hier erreichen, wo die Politik gescheitert ist?
Küppers: Ich glaube, dass die Kultur, ob es das Theater, ob es der Film ist, ob es die Literatur ist, immer eine verbindende Wirkung hat. Da kann Kultur Möglichkeiten offenlegen, zeigen, wie es denn gehen könnte, ohne dass sie endgültige Antworten hat. Aber das Argument, was in der Kultur sicherlich immer wieder vorgetragen wird, darauf setzen wir. Das heißt, wir setzen auf Rationalität und Verstand und hoffen, darüber auch die Herzen der Menschen zu erreichen.
Schäfer-Noske: Es ist natürlich immer wieder das Problem, dass man oft ein Publikum hat, das dann eigentlich mit dieser Meinung schon einverstanden ist, und man die Leute, die die konträre Auffassung vertreten, gar nicht erreichen kann.
Küppers: Ja, das kann natürlich ein Problem sein. Gleichwohl ist das Bestärken derjenigen, die unsicher geworden sind, oder nicht sicher sind, ob Europa uns wirklich noch etwas nützt, vielleicht ist das auch schon etwas, was eine solche Reihe, wie wir sie hier machen, nämlich wie wollen wir in Europa zusammenleben, rechtfertigt.
Schäfer-Noske: Was ich in Ihrem Programm nicht gefunden habe ist das Thema Türkei. Stimmt das, oder habe ich das nur nicht gesehen?
Küppers: Nein, das Thema Türkei ist dort nicht vorhanden – wahrscheinlich, weil die Programmplanung schon so weit fortgeschritten war. Aber ich kann mir sehr gut vorstellen, dass innerhalb einzelner Podiumsdiskussionen auch das Thema Türkei eine Rolle spielen kann. Es würde mich wundern, wenn es nicht einfließen würde.
"Ohne das Thema Flüchtlinge kann man über Europa nicht diskutieren"
Schäfer-Noske: Das zeigt ja auch, wie große Auswirkungen Europa auf die Gemeinden in Deutschland haben kann – Stichwort Gaggenau. Aber auch bei der Integration von Flüchtlingen ist das ja so. Nun ist aber gerade das Thema Flüchtlinge eines, bei dem die europäische Nachbarschaft ja irgendwie grandios gescheitert ist. Kommt das in München auch noch mal auf den Tisch?
Küppers: Das Thema "drinnen oder draußen" heißt auch, wie gehen wir denn mit den Flüchtlingen, das heißt, mit den Menschen um, die zu uns gekommen sind. Nehmen wir sie mit hinein, oder lassen wir sie außen vor, gestalten wir gemeinsam mit ihnen Europa oder trauen wir ihnen das nicht zu. Das wird diskutiert werden, denn ohne das Thema Flüchtlinge kann man über Europa nicht diskutieren, zumal Europa ja, wie Sie gerade richtigerweise sagten, in einigen Fällen an der Flüchtlingsfrage völlig auseinanderdriftet und sich völlig verhärtet.
Schäfer-Noske: Im Programm geht es auch viel um Geschichtliches: die italienischen Gastarbeiter, die NS-Vergangenheit, Erinnerungskonflikte. Welchen Einfluss hat das denn noch auf die heutige Lage?
Küppers: Wenn man Europa betrachtet, so ist Europa ja entstanden aus den Erfahrungen von zwei Weltkriegen, und im März vor 60 Jahren wurden auch die Römischen Verträge unterschrieben und sie waren die Geburtsurkunde der Europäischen Union und Europa war immer ein Friedensprojekt. Das heißt, Europa ist nicht etwas Selbstverständliches, sondern Europa ist etwas, was man sich wieder erkämpfen muss, um nicht in alte Zustände zurückzufallen. Auf den Punkt gebracht hat es Jean-Claude Juncker einmal sehr schön, der gesagt hat, wer an Europa zweifelt oder verzweifelt, der möge bitte Soldatenfriedhöfe besuchen. Da kann man sehen, was das europäische Gegeneinander am schlimmsten bewirken kann. Allein das, denke ich mir, ist Grund genug, um dieses Europa zu kämpfen, auch hier in München und in anderen Städten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.