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Zwei Belgien in einem

Belgien ist nicht nur durch die Existenz zweier Sprachen ein geteiltes Land. Der Dauerkonflikt zeigt sich im kulturellen wie auch im politischen Leben: so haben Flamen und Wallonen jeweils eigene Schulen und eigene Parteien. Was das Land im Innersten zusammenhält ist der König, die Kunst und der Fußball.

Eine Sendung von Alois Berger |
    Eine Flämin erinnert sich an ihr Elternhaus in Löwen:
    "Wir sprachen Französisch und Niederländisch zu Hause."
    …und ein BWL-Student über den Alltag zwischen Flamen und Wallonen:
    "Wenn man in Flamen wohnt begegnet man eigentlich keinem Wallonen."

    In diesem Jahr feiert Belgien 175 Jahre Unabhängigkeit, als Bürger einer Nation verstehen sich die meisten Belgier aber bis jetzt noch nicht. Die Gründe gehen bis ins 19. Jahrhundert zurück.. Napoleon hatte sich die katholischen Gebiete zwischen Maas und Meer einverleibt. Nach seiner Niederlage bei der Schlacht von Waterloo (südlich von Brüssel), wurden diese Gebiete 1815 beim Wiener Kongress aus diplomatischem Kalkül dem calvinistischen Nachbarn - den Niederlanden- zugeschlagen. Die Zwangsehe hielt nicht. 15 Jahre später entwarfen die Großmächte wieder am Konferenztisch einen neuen Staat: ein Kunstprodukt, eine Gemeinschaft verschiedener Volksgruppen: Belgien! das Ergebnis gegenläufiger Interessen, außenpolitisch zur strikten Neutralität verpflichtet. Auch dies war keine Liebesheirat. Kaum war der Staat aus der Taufe gehoben, formierte sich die flämische Bewegung, gegen die sprachliche und politische Übermacht der französisch sprechenden Wallonen.

    Bis heute ist das Verhältnis zischen den knapp 6 Millionen Flamen im Norden und den rund 4 Millionen Wallonen im Süden kompliziert. Doch auch wenn man nicht dieselbe Sprache spricht hat man sich vielerorts arrangiert, und auf persönlicher Ebene oft auch lieben gelernt:

    Frau Viersets Mischehe – oder eine alte Liebe zwischen einer Flämin und einem Wallonen

    Die Avenue Leonore liegt in einem belebten Wohnviertel von Brüssel. Es gibt viele Geschäfte und Restaurants in der Nähe, der Bus hält gleich um die Ecke. Christiane und Josephe Vierset sind vor zwei Jahren hierher gezogen. Ihr Haus auf dem Land haben sie verkauft. Sie wollten auf ihre alten Tagen wieder in der Stadt wohnen. So wie damals, vor fünfzig Jahren, in der Universitätsstadt Löwen, wo sie sich kennen lernten. Josephe studierte Ingenieurwesen, Christiane lebte bei ihren Eltern. Ihre Heirat sei unvermeidlich gewesen, erzählt Christiane und lacht:

    "Wenn ein junger Mann wegging um in Löwen zu studieren, dann sagten die Eltern damals: Noch einer, der mit einer Flämin heimkehren wird!"

    "So ist es, ganz ganz viele haben damals Fläminnen geheiratet."

    Mit viel Zuneigung schaut Christiane zu ihrem Mann hinüber. Der Gegensatz könnte nicht krasser sein: Hier die rüstige Siebzigjährige, sportlich gekleidet und voller Energie. Auf dem Sofa ihr Mann, der kaum älter ist als sie, aber gezeichnet von Leukämie. Dem früheren Bauunternehmer fehlt die Kraft, um zu reden. Aber als seine Frau von ihrem Löwener Elternhaus erzählt, da nickt er zustimmend.

    "Wir sprachen Französisch und Niederländisch. Die Mutter meines Vaters war Flämin, sprach aber gut französisch, meine Eltern sprachen auch französisch. Aber wir hatten Hausmädchen und die sprachen nur niederländisch, die kamen aus Flandern oder aus Limburg, und mit denen sprachen wir niederländisch. Ich war nie auf einer niederländischsprachigen Schule. Nie! Immer französisch."

    Christiane mit ihrer flämischen Herkunft und ihrem frankophonen Selbstbewusstsein steht für ein Belgien, das mit ihrer Generation verschwinden wird: Das Belgien der gut situierten Bourgeoisie in den alten flämischen Städten. Niederländisch galt in diesen Kreisen als die Sprache der Arbeiter, Bauern, Dienstboten. Man sprach Französisch und fühlte sich auch so. Natürlich gingen auch die vier Kinder von Christiane und Josephe auf französischsprachige Schulen. Sie bedauert das nicht, trotzdem würde sie manches anders machen.

    "Wenn ich belgische Erziehungsministerin gewesen wäre, dann würden heute alle Kinder zweisprachig sein. Aber man macht es nicht richtig."

    "Ich wäre für eine gemischte Schulausbildung: Die Hälfte der Fächer auf französisch, die andere auf niederländisch, das brauchen wir wirklich. Und dann wäre Schluss mit diesem dauernden Streit der politischen Ebenen.'"

    Der politische Streit, von dem Christiane spricht, erscheint inzwischen vielen Belgiern wie eine alles zersetzende Krankheit - er lähmt und kostet Energie und Geld. Da sind die Regionen: Flandern, Brüssel und die Wallonie, die sich ständig untereinander und mit der belgischen Regierung anlegen. Daneben die Sprachgemeinschaften, die nur teilweise mit den Regionen übereinstimmen. Fünf Parlamente hat das kleine Belgien, sieben Regierungen und Teilregierungen mit insgesamt mehr als 50 Ministern.
    Um den Dauerkonflikt der Flamen und Wallonen zu entschärfen hat die Zentralregierung immer mehr Kompetenzen an die Regionen und Sprachgemeinschaften abgegeben, so dass es heute nur noch wenige Dinge (Entscheidungen) gibt, die wirklich alle Belgier betreffen.

    "Jeden Tag um sieben Uhr abends schaue ich mir die flämischen Fernsehnachrichten an - und um halb acht dann die französischsprachigen. Das sind meistens völlig unterschiedliche Nachrichten, in denen es um ganz andere Themen geht. Ich möchte aber wissen, was in meinem Land passiert. Also informiere ich mich über die flämische Politik in deren Fernsehen, denn darüber spricht man nicht auf den frankophonen Kanälen. Aber ich möchte es wissen."

    Dass in Belgien heute niederländisch genauso wichtig ist wie französisch, das findet die alte Dame ganz in Ordnung. Dass die einst gering geschätzten Flamen gegenüber den inzwischen ärmeren Wallonen die Muskeln spielen lassen: na und, das sei eben so. Aber wenn sie das Gefühl hat, dass sich das flämische Nationalbewusstsein gegen Belgien richtet, dann wird sie wütend:

    "Was mich wirklich stört, ist, wenn ich mir die Tour de France im Fernsehen anschaue und ich dann all diese flämischen Flaggen sehen, mitten in Südfrankreich. Dann frage ich mich wirklich, was hat das da zu suchen. Das verletzt mich richtig."

    Energisch fährt sich die alte Dame mit den Fingern durch ihre Kurzhaarfrisur. Sie zieht die Augenbrauen hoch, fixiert ihr Gegenüber, zögert einen kurzen Augenblick. Dann bricht es aus ihr heraus:

    "Ich fühle mich wohler unter Frankophonen. ich bin seit langem in Brüssel und bin frankophon geblieben. Ich fühle mich kaum noch mit den Flamen verbunden. Die Verletzungen aus der Zeit des Separatismus in den sechziger Jahren habe ich nicht verwunden. Damals, als ganze Busladungen in die Kirche kamen und auf die Bänke hämmerten, wenn die Messe auf französisch gelesen wurde. Das waren Extremisten aus Antwerpen, die wollten in Flandern keine Messen mehr auf französisch haben."

    Christianes Mann hat die ganze Zeit schweigend vom Sofa aus zugeschaut. Es ist ihm nicht anzusehen, was er denkt. Seine Frau hält die Augen auf die Vase gerichtet. Für einen Augenblick hört man nur das Ticken der großen Uhr. Es ist die erste Pause in diesem Gespräch. Aber dann will Christiane Vierset noch etwas loswerden: dass es da doch etwas gibt, was sie mit den Flamen verbindet: Wenn sie ganz ehrlich sei, dann sehe sie sich im Fernsehen eigentlich lieber die flämischen Sendungen an, vor allem die Familienserien. Der flämische Witz, der liege ihr einfach mehr, sagt sie und muss dann selber lachen:

    "Ich mag diesen Witz, denn trotz allem ist das irgendwo doch auch ein Teil von mir. Ich bin doppelt, beides!"

    Die Deutschen überfielen ihren neutralen Nachbarn 1914 und auch 1940. Beide Kriege forderten in Belgien viele Menschenleben und verschärfte die Spannung zwischen Flamen und Wallonen. Im zweiten Weltkrieg gerieten die Flamen in den Ruf Nazikollaborateure zu sein. Hugo Claus beschreibt in seinem Roman: Der Kummer von Flandern wie es war, als 1940 die Deutschen kamen. Luis erlebt seine Kindheit in dieser Zeit, als sie Walle, sein Heimatstädtchen überrennen, steht er am Straßenrand:

    Die Einwohner von Walle weigerten sich, ihre Häuser zu verlassen, sie wollten nicht, dass ihr Brücken gesprenkt werden. Frauen laufen mit weißen Oberhemden an Besenstielen herum. Die Offiziere sperren den Mund voller Goldzähne auf … Ist unser König geflohen? Aber nein doch, Rene, das ist ein Mensch, der auf seinem Posten bleibt, und der ist bei uns. Seine Proklamation lautet: "Offiziere, Soldaten, was auch immer geschehen möge, mein Schicksal ist das eure.

    Wer in Antwerpen, Gent oder Brügge im späten 19 Jahrhundert vor Gericht stand konnte unter Umständen unschuldig verurteilt werden, dann nämlich, wenn er Flame und des französischen nicht mächtig war. So wurden mehrfach Flamen zu Unrecht zum Tode verurteilt, weil sie die französisch sprechenden Richter nicht verstanden. Obwohl die Mehrheit der Bevölkerung flämisch sprach, war die Amtsprache lange Zeit französisch, wer dieser Anweisung am Arbeitsplatz nicht folgte machte sich strafbar. Erst 1898 wurde Niederländisch als Amt- und Gerichtsprache anerkannt.

    Brüssel, die Hauptstadt Belgiens und zugleich Hauptstadt Flanderns, ist offiziell zweisprachig. Straßenschilder, Fahrpläne und Strafzettel gibt es auf französisch und niederländisch. Allerdings geben nur 15 Prozent der Hauptstädter niederländisch als ihre Muttersprache an. Im Brüssler Alltag wird fast ausschließlich französisch gesprochen. Doch seit einigen Jahren melden immer mehr französischsprachige Eltern ihre Kinder auf niederländischsprachigen Schulen an. Sie wollen, dass ihre Kinder die zweite Landessprache von klein auf lernen. Wohl auch, weil Zweisprachigkeit bei den Bewerbungen in Belgien eine immer größere Rolle spielt. So übt sich früh, wer später in Wirtschaft und Verwaltung mitreden will.

    Früh übt sich – zweisprachige Erziehung in Brüssel

    "Lees hier: Hoeveel hazen zijn eer in de boomgaard? ... Allez!... Hoeveel schapen zitten noog in de weeid? ...lopen op het veld? Ses, nee dat is negen..."

    Die erste Stunde an der Grundschule Mooi Bos im Brüsseler Stadtteil Woluwe St-Pierre, ein paar Sechsjährige üben Lesen. Sie stehen und sitzen in kleinen Grüppchen in dem hellen Klassenzimmer. Juffrouw Isabelle, die junge, blonde Lehrerin sitzt an einem kleinen Tisch am Fenster und holt die Kinder einzeln zu sich, um mit jedem das Alphabet zu üben. Für die allermeisten Kinder hier ist Niederländisch nicht die Muttersprache.

    Bei Monji zum Beispiel wird zuhause Französisch gesprochen. Seine Eltern können beim Niederländisch-Lernen kaum helfen. Lehrerin Isabelle nimmt sich für Monji deshalb ein bisschen mehr Zeit.

    Mooi Bos ist eine Brüsseler Gemeindeschule, aber für den Lehrplan, für die Ausbildung und die Bezahlung der Lehrer ist die Flämische Gemeinschaft zuständig. Das ist durchaus ein Vorteil. Denn die flämische Gemeinschaft möchte, dass in Brüssel wieder mehr niederländisch gesprochen wird und sie steckt deshalb viel Geld in die Schulen. Sie bezahlt auch die regelmäßigen Auftritte von Sprachberatern wie Gerda Brouckmans:

    "Wir müssen vor allem die Lehrer, die Schule unterstützen: Wie können Sie ihren Unterricht noch motivierender machen, sprachbewusster. Wir wollen, dass die Kinder auch außerhalb der Schulzeit an niederländischen Aktivitäten unternehmen teilnehmen. Eigentlich geht es darum, die unterschiedlichen Möglichkeiten aufzuzeigen, die die Schule aktiv verfolgen kann."

    Nur jeder zwanzigste Schüler in Mooi Bos kommt aus einer niederländischsprachigen Familie, fast überall wird zuhause französisch gesprochen. Das widerspricht zwar allen Vorschriften für niederländischsprachige Schulen, denn eigentlich sollte wenigstens ein Drittel der Kinder in jeder Klasse zuhause niederländisch sprechen. Aber so viele flämische Haushalte gibt es in Woluwe St. Pierre gar nicht. Umso mehr bemühen sich die Lehrer mit persönlichem Einsatz die fehlenden Sprachgrundlagen auszugleichen. Das spricht sich rum. Von Jahr zu Jahr melden mehr Eltern ihre Kinder in Mooi Bos an. Direktorin Sonja van den Hoef hat eine Umfrage gemacht:
    "Wir wollten wissen, warum immer mehr kommen. Und da lauteten die meisten Antworten: Die Qualität des Unterrichts hier ist besser, die Betreuung der Kleineren ist besser, die Schule ist in jeder Hinsicht einfacher zugänglich. Die Mundpropaganda für unsere Schule ist enorm, so dass wir regelrecht überflutet werden von französischsprachigen Kindern. Die Eltern haben den Eindruck, dass ihre Kinder hier besser betreut werden."

    In Mooi Bos gibt es eine Grundregel, die alle akzeptieren müssen: In der Schule und auf dem Schulhof darf nur niederländisch gesprochen werden. Das gilt auch für die Eltern, wenn sie ihre Kinder bringen oder abholen. Die meisten halten sich daran, erzählt Didier Colpaert. Anfangs, sagt er, musste er sich arg anstrengen:

    "Ich habe erst angefangen, richtig Niederländisch zu lernen, als meine Tochter Delphine vor sechs Jahren geboren wurde."


    Heute spricht Didier Colpaert täglich Niederländisch. Auch dort, wo er inzwischen arbeitet, kommt er allein mit Französisch nicht mehr weiter. Wie wichtig es gerade in Brüssel ist, neben französisch auch niederländisch zu sprechen, wissen längst auch die Kleinsten auf dem Schulhof:

    "Das ist gut, denn so kann man sich viel besser einen Beruf aussuchen, das geht viel einfacher."

    Auf demselben Schulhof toben ein paar Meter weiter die Schüler der französischsprachigen Schule Joli-Bois. Aber es ist, als ob eine unsichtbare Mauer zwischen den Kindern wäre. Dass die von Mooi Bos mit denen von Joli Bois spielen, das kommt so gut wie nie vor.

    "Nein, bloß nicht, die seien dumm und blöd, so klingt es unisono auf dem niederländischsprachigen Teil des Schulhofs. "

    Schulglocke. In Zweierreihen geht es zurück in die Klassen, die Schüler von Mooi Bos verlassen als erste den Schulhof. Klar gibt es manchmal Auseinandersetzungen zwischen ihren Schülern und denen von Joli Bois, erzählt Schulleiterin Sonja van de Hoef in ihrem kleinen Büro. Aber die gebe es immer, wenn sich zwei Schulen einen Hof teilten. Dafür freut sich die Direktorin über den Kontakt zwischen Lehrern und Elternvertretern beider Schulen:

    "Das klappt sehr gut. Wir verstehen uns gut, und haben das so geregelt: Jeder spricht in seiner Muttersprache, einfach aus Respekt. Wir sprechen Niederländisch, sie sprechen Französisch, wir antworten auf Niederländisch. Ganz selten versteht einer gar nichts, und dann übersetzen wir's halt schnell. Da machen wir kein Problem draus. Wenn wir Direktorinnen uns treffen, sprechen wir jede in unserer Muttersprache."

    In Belgien gibt es eine Sollbruchstelle zwischen dem Norden und dem Süden, den Flamen und den Wallonen. Der Dauerkonflikt zeigt sich im kulturellen wie auch im politischen Leben: so haben beide Völker eigene Schulen und eigene Parteien. Dieser Zustand ist auch verfassungsrechtlich abgesichert, 1988 beschloss das Parlament mit einer Verfassungsänderung Belgien von einem Zentralstaat in einen Bundesstaat umzuwandeln mit drei relativ autonomen Regionen: Flandern, Wallonien und Brüssel wurden weitreichende Kompetenzen von der Bildungspolitik bis zur Energieversorgung zugestanden, lediglich die Außen-, Sicherheits- und Währungspolitik bleibt bei der belgischen Zentralregierung.

    Was Belgien im Innersten zusammenhält ist der König, die Kunst und der Fußball.Wenn die Fußball Nationalmannschaft - die roten Teufel – gewinnen, liegen sich Flamen, Wallonen und Brüsseler in den Armen - denn beim Fußball gibt es das Gemeinschaftsgefühl, die gesamtbelgische Freude oder die gesamtbelgische Trauer, bei Niederlagen, die das Land häufiger eint als große Siege. Der Fußball ist eine wichtige Klammer, die das Land zusammenhält. Das macht den Fußballverband allerdings zur Zielscheibe der Politiker, die zum Beispiel einen selbstständigen Staat Flandern fordern.

    Der unbekannte Teammanager der belgischen Nationalmannschaft
    Auf einem Sportplatz in der Nähe von Brüssel: Die belgische Fußball--Nationalmannschaft trainiert das Kurzpassspiel. Ein Duzend Journalisten und paar hundert Zaungäste stehen herum. Und irgendwo dazwischen, im schwarz-roten Trainingsanzug, Andre Vanderheyden, der Teammanager. Untersetzt und stämmig sitzt er am Spielfeldrand, ein eher unauffälliger Mensch und ein unauffälliger Manager. Er ist keiner, den man kennt in Belgien. Dabei ist der 50-jährige Vanderheyden so etwas wie die rechte Hand des Nationaltrainers.

    "Ich kümmere mich darum, dass die Spieler gut untergebracht sind, dass die Verpflegung stimmt und um alles, was mit Verwaltung zu tun hat. Bei Auswärtsspielen fahr ich schon ein paar Tage vorher hin und schau, ob das Hotel in Ordnung ist und wie die Platzverhältnisse sind. Ich soll halt dem Trainer helfen und ihn die administrativen Aufgaben vom Leib halten."

    Nationaltrainer kommen und gehen. Andre Vanderheyden aber bleibt. Ende des Jahres bekommt er wieder einen neuen Chef. Aimé Antheunis wirft das Handtuch. Seine Roten Teufel, wie die belgischen Nationalspieler genannt werden, waren in letzter Zeit zu harmlos. Zum ersten Mal seit fast 30 Jahren haben sie die Qualifikation zur Weltmeisterschaft verpasst.

    Für André Vanderheyden wird es der achte Chef sein. Er macht sich da keine Gedanken, bisher ist er noch mit jedem zurechtgekommen. Vanderheyden gilt als unkompliziert, als geradlinig und nicht übermäßig ehrgeizig. Den schwarz-roten Trainingsanzug mit dem Belgienwappen trägt er nicht als Sportkleidung, sondern als Uniform. Fußball spielt er nur noch, damit er nicht noch mehr in die Breite geht.

    Seit 25 Jahren arbeitet André Vanderheyden für den belgischen Fußballverband. Angefangen hat es, wie so vieles in Belgien anfängt: Man kennt jemanden, der jemanden kennt.

    "Ich hatte Freunde, die schon beim Fußballverband gearbeitet haben und mit denen ich damals Fussball gespielt habe. Die haben mich gefragt haben, ob ich nicht mit ihnen bei der Nationalmannschaft spielen wollte. In der Arbeitermannschaft, das sind die Helfer. Da habe ich dann mitgemacht und nach ein paar Monaten bekam ich eine Anstellung in der Jugendarbeit des Verbandes. Seit 15 Jahren kümmere ich mich jetzt um die Nationalmannschaft."

    Wenn sich die belgische Nationalmannschaft auf ein Spiel vorbereitet, dann muss sie genau aufpassen, wo sie trainiert. Am einfachsten ist es, wenn die Vorbereitung exakt sieben Tage dauert, dann läßt Vanderheyden die Spieler drei Tage irgendwo in Flandern üben, drei Tage in Wallonien und einen Tag in Brüssel. Damit niemand sagen kann, die Nationalelf würde eine Region bevorzugen.

    Beim letzten Mal verbrachte die Mannschaft gut 500 Kilometer im Bus, um zwischen den Sportanlagen Belgiens hin und herzufahren. "Es gibt Schlimmeres", sagt Vanderheyden:

    "Die Politik steuert darauf zu, den Fußballverband aufzuspalten. Die Politiker machen da Druck. Die anderen Sportarten sind alle schon getrennt. Da gibt es einen niederländischsprachigen Verband und einen französischsprachigen. Das wollen sie mit dem Fußball jetzt auch machen. Wir werden dann höchstens noch eine nationale erste Liga haben und vielleicht noch eine gemeinsame zweite Liga und alles darunter wird in flämische und frankophone Clubs aufgeteilt. Ich halte das für keine gute Idee. Denn Fußball, das ist etwas Verbindendes, das ist eine große Familie. In den anderen Sportarten sieht man ganz deutlich: Da geht nichts besser, nur weil man die Clubs sprachlich sortiert hat."
    Noch wehrt sich der Königlich belgische Fußballverband gegen die Spaltung. Außer ein paar Politikern will das keiner, sagt Vanderheyden. Der Verband nicht, die Zuschauer nicht, und die Spieler schon gar nicht.

    "Die niederländisch- und die französischsprachigen Spieler haben keine Probleme miteinander. Von den Frankophonen spielen viele in flämischen Vereinen und umgekehrt. Die sprechen doch alle beide Sprachen, mit Ausnahme vielleicht von ein oder zwei Spielern, die sich deshalb beim Reden zurückhalten. Aber sie verstehen alles. Sie verstehen, aber sie haben manchmal Angst, was zu sagen. Beim Essen sitzen sie oft durcheinander, da gibt es keine Probleme. Jeder spricht in seiner Sprache und jeder versteht den anderen."

    Und trotzdem wird der Fußballverband auseinander driften. Dabei sind die Zeiten vorbei, in denen auch große Teile der Bevölkerung mehr Distanz zur anderen Sprachgruppe suchte. Doch die Idee von der Aufspaltung sämtlicher Lebensbereiche führt längst ein Eigenleben. Vanderheyden glaubt, dass es den Politikern vor allem um Posten geht, für sich und für ihre Freunde.

    "Man kann dann einen Sportminister für Brüssel ernennen und einen für Flandern und einen für die Wallonie. Und dazu gibt es noch viele interessante Jobs für alles, was so rund um die Minister alles gebraucht wird."

    Aber für den Fußball, meint Vanderheyden, für den Fußball wäre das eine Katastrophe. Und einen vernünftigen Grund gebe es ohnehin nicht. Wallonen und Flamen haben zwar oft unterschiedliche Lebensart, auf dem Fußballplatz aber sind alle Belgier gleich, sagt Vanderheyden:

    "Nein in Belgien merkt man da keinen fussballerischen Unterschied. Die spielen alle ähnlich. Früher gabs das vielleicht, wenn man Enzo Scifo nimmt, der hatte einen etwas südländischeren Stil, aber der war auch italienischer Abstammung."

    Vanderheyden hat früher mal in der zweiten Liga gespielt, beim Sportclub Uccle. Uccle, das ist ein Stadtteil in Brüssel, in denen es viele Vanderheydens und Van Snicks und Vandenbroeks gibt. Lauter ehemals flämische Familien, in denen nun schon in der zweiten oder dritten Generation französisch gesprochen wird. Weil das eben lange Zeit die Sprache des gesellschaftlichen Aufstiegs war.

    Andre Vanderheyden lacht: Ob er nun mehr französisches oder mehr flämisches Blut in den Adern hat? keine Ahnung, sagt er. Für einen Brüsseler sei das ganze Gerede von den zwei Kulturen einfach Blödsinn. Nur den Politikern da oben sei das irgendwie nicht beizubringen. In fünf Jahren, meint er, werden sie sich leider doch durchgesetzt haben.

    "Der Druck ist zu groß. Es ist eine Frage der Zeit, wann die Teilung kommt. Das einzige Problem für die Regierung ist, dass sie nicht weiß, was sie mit Brüssel und der Region rundherum machen soll. (Brabant ist zum Teil niederländisch- und zum Teil französisch-sprachig. Das macht das ganz delikat und verzögert die Sache). Da sind viele Dörfer offiziell französisch-sprachig, Bürgermeister, Verwaltung et cetera, aber drei Viertel der Bevölkerung reden niederländisch. Und die Fußballvereine dort sind zweisprachig. Das trifft für viele Orte zu, die nahe an der Hauptstadt Brüssel sind. Brüssel ist ein großes Problem für die Regierung. Nicht für den Fußballverband. Da will niemand die Trennung. Der Präsident hat vor kurzem wieder einmal klipp und klar gesagt, dass der Fußballverband belgisch ist und bleiben soll. Aber eines Tages wird uns nichts anderes übrig bleiben als die Spaltung zu akzeptieren."

    Jaques Brel war kein Franzose, wie viele glauben, sondern Belgier, Flandern nähert er sich eher satirisch, er besang das platte Land aber nicht nur französisch, sondern auch niederländisch. Neben dem Fußball ist auch die Kunst ein bindendes Glied in Belgien, hier wird nicht unterschieden zwischen Flame und Wallone hier wird improvisiert, inszeniert, gesungen und getanzt und das auf höchstem Niveau. Da ist zum Beispiel der Regisseur Gerat Mortier -gefeiert als Revolutionär der Salzburger Festspiele, da ist die Choreographin Anne Teresa De Keersmaker, ihre Schule gehört zu den weltweit wichtigsten für zeitgenössischen Tanz.

    Auch die Filmszene ist unangepasst, spannend und erfolgreich: mit mehreren Low-Budget Produktionen schafften es die Belgier in den letzten Jahren sogar in Hollywood zur Oskar-Nominierung für den besten ausländischen Film.

    Film, Oper, Ballett, Kammermusik und moderne Töne ... überall ist es egal, ob einer flämischer oder wallonischer Kopf dahinter steckt. Nur beim Theater gibt es ihn noch: den Unterschied, den Sprachkonflikt. Theaterdirektor Yves Larec leitet seit 17 Jahren das französischsprachige Theatre du Parc und fand in all den Jahren nie die Zeit ein paar Straßen weitern in das niederländischsprachige Theater zu gehen.

    Das Theater am Park und der Sprachkonflikt

    Theaterprobe: "Si vous étiez fidèle ... "

    Halb geflüstert: "C´est la Nuit de Valonges..."

    Was da geprobt wird, ist: "La nuit de Valognes", erzählt der Theaterdirektor, ein Stück von Eric Emmanuell Schmitt. Eine Variation der Geschichte von Don Juan. Eine Herzogin hat Don Juan eingeladen und mit ihm vier seiner früheren Opfer und dazu auch noch Angès, seine aktuelle Geliebte, die er vor kurzem verführt hat. Don Juan soll diese Agnès nun heiraten.

    Auf seine neueste Produktion ist Yves Larec, Direktor des Brüsseler Theatre du Parc, besonders stolz. Denn der französische Schriftsteller Eric Emmanuel Schmitt hat das Don Juan Motiv eigens auf sein Theatre zugeschrieben.

    "Er hat mir das Stück angeboten, indem er gesagt hat: 'Das Stück spielt im 18. Jahrhundert und da ist Ihr Haus ganz eindeutig das am besten geeignete.' In der Tat ist unser Theater eines der schönsten in Europa, jedenfalls in diesem Stil Louis XVI, der zu diesem Stück passt. Er hat gesagt, dass er für uns eine neue Version seines ersten Stückes 'La Nuit de Valognes' schreiben will und hat mich gefragt, was wir davon halten. Also: wenn Ihnen der erfolgreichste und meistübersetzte französische Autor anbietet, ein Stück für Sie umzuschreiben und sie können das dann neu auf die Bühne bringen, dann werden Sie nicht nein sagen. Da müsste man schon sehr seltsam sein."

    Yves Larec hat natürlich nicht nein gesagt. Don Juan ist zwar ursprünglich ein spanisches Motiv, aber längst fester Bestandteil der europäischen, vor allem aber der französischen Literatur. Kaum ein französischer Dichter, der sich nicht an einer Version des ewig suchenden Frauenhelden abgearbeitet hätte. Schon deshalb, findet Direktor Larec, gehört das Stück ans Theatre du Parc.

    "Der Grundstock unseres Repertoires, das sind die großen Stücke der französischen Literatur quer durch die Jahrhunderte. Wir haben natürlich auch neuere Stücke, aber wir legen Wert auf den literarischen Charakter der Texte. Das ist das, was das Publikum von uns will. Das ist nicht meine persönliche Entscheidung. Als ich von der Brüsseler Kulturkommission zum Direktor des Theatre Du Parc gewählt wurde, da wußte ich natürlich, was von mir erwartet wird."

    Das Theatre du Parc liegt genau zwischen Königspalast und belgischem Parlament. Ein Barock-Juwel mit rotem Samt und viel Blattgold - und 700 Plätzen. Aber, sagt Monsieur Larec, wegen der vielen Säulen und Brüstungen kann er nur 450 Karten verkaufen, weil man von den anderen Plätzen aus höchstens die halbe Bühne sieht.

    Die schlechteste Sicht hat man aus der Königsloge, erzählt Yves Larec und lacht dabei übers ganze Gesicht. Nicht, dass er etwas gegen den König hätte, das bestimmt nicht. Aber Larec ist ein echter Belgier mit viel Selbstbewusstsein und der typisch belgischen Lust am subversiven Humor. Yves Larec ist hier, an diesem Theater praktisch groß geworden. Mit 19 hat er als junger Schauspieler hier angefangen. Nach einem Gastspiel in Lüttich ist er vor 17 Jahren ans Theatre du Parc zurückgekehrt, diesmal als Direktor. Yves Larec ist inzwischen siebzig, auch wenn er nicht so aussieht, mit seiner sportlichen Figur und dem dichten grauen Haar. Früher, sagt er, da habe er auch deutsch und flämisch gekonnt, aber das habe er alles vergessen. Und deshalb kann er auch nicht sagen, was derzeit an den flämischen Bühnen des Landes gespielt wird.

    "Ehrlich, ich war da schon sehr lange nicht mehr in einem flämischen Theater. Das hat nichts mit Geschmack oder Abneigung zu tun. Ich seh auch nie einen flämischen Theaterdirektor bei uns. Wir haben einfach keine Zeit für so etwas. Jeder kümmert sich um seine Angelegenheiten. Und wenn ich einmal Zeit habe, dann sehe ich lieber ein Theaterstück, das auch für mein Haus in Frage kommt, mit Schauspielern, die ich eventuell engagieren kann und einem Regisseur, der französische Autoren behandelt. Das ist mir wichtiger, als ein flämisches Stück anzuschauen."

    Rund 40 Bühnen gibt es allein in Brüssel, fast ausschließlich Subventionstheater, finanziert vom Land, von der Region und aus den Kulturetats der Stadtteile. Quer durch diese ohnehin sehr kleinteilige belgische Theaterszene zieht sich eine unsichtbare Linie. Die niederländischsprachigen Bühnen orientieren sich an London, Berlin, Amsterdam. Die französischsprachigen schauen nach Paris, nach Madrid, nach Rom. In der Musik, in der Oper, im Ballett, also da, wo Sprache keine Rolle spielt, da zählt Belgien zur europäischen Spitzenklasse. Beim Theater aber ist das Land Provinz. Zweimal Provinz, einmal flämisch, einmal französisch.

    Dabei ist Brüssel die einzige Millionenstadt, in der zwei der wichtigsten europäischen Kulturströmungen so eng zusammenkommen. Könnte da nicht etwas Neues, etwas Eigenständiges, etwas wirklich Europäisches entstehen? Das wäre sicher spannend, meint auch Theaterdirektor Yves Larec. Aber dann fällt ihm doch wieder etwas ein, warum das mit dem kulturellen Austausch nicht geht.

    "Natürlich wäre das eine Chance, aber solche Chancen muss man auch wecken, anschieben, fördern. Das kommt nicht von selbst. Eine Chance, die von selbst kommt, das nennt man Kuckucksei."
    (lacht)
    Am Rathaus hingen belgische und französische Trikoloren. Die Läden waren voller Schokolade, Wein, Ananas und gehäuteten Kaninchen. Neben den belgischen und französischen Fahnen wurde die kanadische gehisst, die mit dem grünen Ahornblatt, und als sie hing, jubelte das Volk von Walle. …An der Südostecke des Gebäudes stand, wie an den meisten Amtshäusern und Markthallen seit Sechzehnhundert, die Jungfrau Maria.

    Lange Zeit wurde die Regierung von der französischsprachigen Elite gebildet, und während im französischsprachigen Landesteil Bergbau und Textilindustrie boomten, starben die Menschen im ländlichen Flandern an Hunger und Typhus. Bis zum zweiten Weltkrieg war der Süden mit seiner Schwerindustrie der Wirtschaftsmotor des Landes. Das Blatt hat sich inzwischen gewendet: Im Frühjahr letzten Jahres erlosch der vorletzte Hochofen, mit dem Niedergang der Kohle- und Stahlindustrie hat sich die Wallonie zum Armenhaus Belgiens entwickelt, und das wirtschaftlich erstarkte Flandern schaut auf die Industriebrachen im Süden herab. Die Arbeitslosenzahlen belegen die Entwicklung: 20 Prozent Erwerbslosigkeit im Süden gegenüber knapp 5 Prozent im Norden.

    Sechs bis siebentausend Euro kostet der einjährige Masterstudiengang in Betriebswirtschaft an der Vlerick Managment School in Gent. Trotz der hohen Gebühr kann die Schule aus sehr vielen Bewerbern ihre wenigen Studenten wählen, denn die späteren Berufsaussichten sind gut für einen Vlerickabsolventen. An der Schule studieren hauptsächlich Flamen, Ausländer und einige wenige französischsprachige Belgier.

    Belgiens künftige Elite

    "This is all Vlerick. (...)It used to be like a monk´s school in the past. It´s very old." ("Ja, das gehört alles zu Vlerick. Früher war das mal eine Mönchsschule, alles hier ist sehr alt.")

    Der Himmel über dem weiten Innenhof des Klostergebäudes ist schon fast schwarz, einige Sterne sind zu sehen. Es ist ruhig, aus fast allen Fenstern der ehemaligen Klosteranlage in Gent fällt Licht in den Hof. Wer an der Vlerick Management School studiert, der muss auch abends noch lange über seinen Aufgaben sitzen.

    "Auf der obersten Etage, das sind alles Arbeitsräume, hier unten - alles Arbeitsräume, überall Arbeitsräume, ( )Auch wenn da jetzt noch Licht brennt: das sind keine Wohnräume, keiner übernachtet hier, allerdings arbeiten wir manchmal die ganze Nacht hier."

    Isabelle Delvaux wechselt ansatzlos von einer Sprache in die andere, sie spricht mehrere fließend. Die junge Flämin hat bereits ein Diplom als Bioingenieurin in der Tasche. Nach dem einjährigen Zusatz-Studium in Management hofft sie auf die große Karriere.

    In der Bar im Erdgeschoss trifft sich Isabelle mit William und Virginie. Die beiden Flamen aus Ostende machen ihren Masters in Betriebswirtschaft. Unterrichtssprache ist in der Regel Englisch, erzählt William, auf dem Flur hört man noch Niederländisch, aber kaum Französisch.

    "Bei uns in der Klasse sprechen wir das kaum, weil die Wallonen sich echt Mühe geben Englisch zu sprechen. Es ist einfacher, mit den Wallonen Englisch zu sprechen."

    Virginie und William sind in Flandern zur Schule gegangen und haben dort auch ihren ersten Uni-Abschluß gemacht.. Sie sprechen ganz gut Französisch und legen Wert darauf, dass dieses Belgien, das sie als künftige Wirtschaftselite mitgestalten wollen, dass dieses Belgien aus Flamen UND Wallonen besteht. Doch wenn man sie nach ihren privaten Kontakten zu französischsprachigen Belgiern fragt, dann ist da nicht viel.

    "Wenn man sich vorwiegend in Flandern bewegt, dann hat man eigentlich kaum Wallonen zu tun. Aber im Berufsleben, da trifft man auf die Bestqualifizierten, und ob die aus der Wallonie, aus Brüssel, Flandern oder aus dem deutschsprachigen Teil Belgiens kommen, da muss man miteinander zurecht kommen. Außerdem kommt man ja aus demselben Grund zusammen, ich glaube, da fallen die Unterschiede weniger ins Gewicht."

    Virginie wollte zuerst ins Hotelfach. Inzwischen hat sie ihr Herz für die Betriebswirtschaft entdeckt, und hofft, später beides vereinbaren zu können, vielleicht in Belgien, aber gerne auch im Ausland. Die Flämin kennt den französischsprachigen Teil Belgiens nur aus dem Urlaub:

    "Eigentlich hat es was von einer Kurzreise ins Ausland, die Landschaft in der Wallonie erinnert mehr an französische Dörfer als an irgendetwas in Flandern. Aber die Menschen, die da leben, sind genauso glücklich, dass sie da wohnen wie wir in Flandern. Natürlich gibt's Mentalitätsunterschiede. Flandern scheint sauberer und strukturierter, dafür haben die kleinen Dörfer in der Wallonie ihren eigenen Charme. Wallonen sind entspannter und halten öfter mal ein Schwätzchen. Da gibt's noch die Dorfmentalität von früher, viel eher als in Flandern, Dörfer gibt's hier ja kaum noch."

    William, ein sportlicher Typ in Jeans, Hemd und Jackett, hat eigentlich nur in den Sommermonaten mit französischsprachigen Belgiern zu tun: wenn die den Strand und die Lokale seiner Heimatstadt Ostende überfluten. Jaaa, sagt er gedehnt und trinkt noch einen Schluck Bier, das nerve ihn schon, daß die meisten nicht einmal den Versuch machten, niederländisch zu sprechen.

    Aber dann fällt ihm ein, dass er später in einem internationalen Konzern arbeiten möchte, und da, findet er, müsse man lernen, über so etwas hinweg zu sehen. Schließlich lebe die flämische Küste von den wallonischen Touristen.

    Isabelle ist die einzige der drei Studenten, die französischsprachige Freunde hat. Sie hat ein Semester an der französischsprachigen Universität von Louvain la Neuve studiert. Es wäre leichter gewesen, ins Ausland zu gehen, erzählt sie:

    "Damals war ich die erste Studentin meiner Fakultät, die für ein Jahr nach Louvain-la-Neuve gegangen ist. Es war echt schwierig, sich durch die Mühlen der Bürokratie zu wursteln. Aber im Jahr danach hat unser König - oder war es der Thronfolger? - Erasmus Belgica ins Leben gerufen, und seither bekommen Austauschstudenten, die an eine Uni im anderssprachigen Teil Belgiens gehen, ein Stipendium. Dafür wird jetzt stark geworben, und das finde ich richtig klasse."

    Virginie, William und Isabelle sind überzeugt, dass Belgien wieder stärker zusammenwächst. Im Vergleich zu früher habe der Streit doch ziemlich an Schärfe verloren. Doch im Grunde leben Flamen und Wallonen heute einfach mehr nebeneinander her. Sie begegnen sich seltener als früher. Die Uni in Löwen, an der Virginie studiert hat, war bis Ende der 60er Jahre eine belgische Universität, bis die Flamen alle französischsprachigen Studenten und Professoren verjagt haben. Ein paar Kilometer weiter wurde dann eine französischsprachige Uni gegründet. Selbst die Bücher der altehrwürdigen Bibliothek wurden aufgeteilt. Die mit den geraden Registriernummern nach Löwen, die ungeraden nach Louvain la Neuve.

    Dass es in zwanzig oder dreißig Jahren nur noch Flandern, Brüssel und die Wallonie geben wird, das glaubt keiner der drei Studenten. Früher dachte die Wirtschaftselite französisch, erklären sie, dann flämisch. Die künftige Wirtschaftselite, da sind sich die drei von der Vlerick-Schule sicher, die künftige Wirtschaftselite denkt belgisch. Dass sie sich selbst dabei als Beispiel sehen, ist nicht zu überhören. Isabelle:

    "Ich werde niemals einem Ausländer sagen: Ich bin Flämin. Ich sage ihm, daß ich Belgierin bin. Wenn ich sage, dass ich aus Flandern kommen, dann nur um zu erklären, warum mein französischer Akzent nicht ganz so toll ist. Aber ich fühle mich ganz und gar als Belgierin."

    Literatur: Hugo Claus. Der Kummer von Flandern; Klett-Cotta (dtv)1999;
    Deutsch von Johannes Piron