Hansjörg Schertenleib lässt die Leserin seines Romans "Wald aus Glas" zunächst stutzen - und das ist schon sein erstes Verdienst: Da schreibt ein Autor in den 50ern, der in Irland und der Schweiz lebt, mit großer Selbstverständlichkeit und Empathie über eine junge Türkin und eine alte Österreicherin. Für die Figur der 72-jährigen Frau, Roberta Kienesberger, hat Schertenleib auf die Lebensgeschichte seiner Mutter zurückgegriffen und ihre Erfahrungen verarbeitet. Die Figur des türkischen Mädchens, das in der Schweiz lebt, erforderte allerdings Recherche:
"Es fiel mir schwer, mich in ein 15-jähriges Mädchen zu versetzen. Es war einfacher, mir eine alte Frau vorzustellen oder mich in sie zu verwandeln. Dann der andere Kulturkreis, die andere Religion, andere Familienstruktur usw. Aber da hat mir geholfen, dass ich früher Journalist war, weiß, wie man recherchiert. Auch gerne recherchiere. Ich glaube, das ist fast noch wichtiger. Das hat bedeutet, dass ich sehr viele Gespräche mit Leuten geführt habe, die mir auf den Sprung geholfen haben."
Herausgekommen sind, so viel sei vorweggenommen, zwei einfühlsame Porträts von mutigen Frauen, deren Leben an einen Wendepunkt kommen. Der Roman beginnt, und das ist beim Lesen ein Schock, mit dem Tod der alten Frau:
"Die Frau saß am Rand der Lichtung, an den Stamm einer Birke gelehnt, die Beine an die Brust gezogen. Hätte es die Nacht zuvor nicht das erste Mal in diesem Jahr geschneit, der Spaziergänger, der sie fand, hätte wohl angenommen, sie habe sich nur hingesetzt, um den Ausblick auf den Vorderen Langbathsee zu genießen, und sei dann eingenickt. Aber dafür war es zu kalt. Dass es eine Frau war, sah er sofort. Auch, dass sie tot war, wusste er, so sagte der Mann später aus, schon während er auf sie zuging." (S. 9)
Roberta Kienesberger ist bewusst erfroren, ein "Akt der Selbstbestimmung", wie es im Buch heißt - der letzte auf einem langen Weg zur Selbstbestimmung. Die anderen Akte liefert Schertenleib, nachdem er die Figur in den Schnee gesetzt hat, nach.
Roberta war immer eine Einzelgängerin. Nur an ihrem Hund, der in der ersten Szene ebenfalls tot in ihrem Schoß liegt, hat sie gehangen. Möglicherweise hat Robertas Unabhängigkeit von anderen Menschen mit den Brüchen in ihrer Biografie zu tun, mutmaßt der Autor. Denn Roberta kam aus dem Salzkammergut, fand nach der Schule keine Arbeit und ging in die Schweiz.
"Das ist der erste Bruch und dass sie ihre Heimat verlässt und in ein anderes Land gehen muss, um Arbeit zu finden. Der zweite viel größere und radikalere Bruch, der sehr viele Konsequenzen nach sich gezogen hat, war derjenige, dass sie ihre Familie verlassen hat. Sie hat in der Schweiz geheiratet und einen Sohn bekommen, und als dieser Sohn in der Pubertät war, hat sie die Familie verlassen."
Klingt in heutigen Ohren nicht besonders dramatisch, aber Roberta Kienesberger hat diese Entscheidung 1980 in einer Schweizer Kleinstadt gefällt.
"Männer verlassen ihre Familien zuhauf. Das ist gesellschaftlich mittlerweile längst akzeptiert. Eigenartigerweise, wenn Mütter das tun, ist es immer noch ganz schlimm. Und sie hat das getan und sie wusste aber ganz genau, was sie tut, wenn sie das tut. Sie wusste, dass sie danach gesellschaftlich geächtet sein wird und das hat sie sicher ganz bestimmt auch an den Rand der Gesellschaft - ja nicht gedrängt - sie selbst hat sich an den Rand der Gesellschaft gestellt."
Roberta hatte dann ein loses Verhältnis mit ihrem Chef, einem Schreiner, mit dessen Ehefrau sie unter einem Dach lebte. Als der Chef tot ist und die Schreinerei abgerissen werden soll, bringt die Polizei Roberta gegen ihren Willen ins Altenheim – wo sie eine Außenseiterin bleibt.
"Im Esssaal war Roberta wie jeden Morgen erstaunt, wie lebhaft es dort beim Frühstück zuging. Die Frauen und Männer redeten unerbittlich laut durcheinander, ohne sich um sie zu kümmern, als sie sich auf den letzten freien Stuhl an ihrem Tisch setzte. Das Frühstück hatte gerade begonnen, trotzdem liefen schon Kaffeeflecken kreuz und quer über das Tischtuch; das Brotkörbchen war bis auf eine Scheibe Weißbrot leer, das Buttertöpfchen mit Marmelade verschmiert. Das Stimmengesumm, das den Saal füllte, klang beinahe fröhlich, dachte Roberta, wie Schulkinder, die ausgelassen sind ohne die Lehrer, die sie beaufsichtigen. Oder wie alte Menschen, die sich freuen, die Nacht überlebt und einen weiteren Tag geschenkt bekommen zu haben." (S. 42 f.)
Roberta kehrt dem Altenheim den Rücken, befreit ihren Hund aus dem Zwinger und macht sich auf den Weg in ihre österreichische Heimat. Sie will noch einmal zurück zu ihren Wurzeln, wie so viele alte Menschen.
Roberta geht also auf Reisen – ein Motiv, das Hansjörg Schertenleib wichtig ist, wenn etwas in Bewegung geraten soll.
"Das ist vielleicht autobiographisch, weil es bei mir so ist, wenn ich merke, ich fange an, an einem Ort zu treten, was ein Projekt betrifft, ein literarisches, was mein Leben betrifft, was Beziehungen betrifft, was Freundschaften betrifft, dann hat es immer geholfen in meinem Leben, wenn ich mich physisch bewegt habe. Das kann ein Spaziergang sein. Das muss unter Umständen aber auch eine viel größere Bewegung sein, ein Umzug. Ich bin ausgewandert aus der Schweiz, nach Irland. Auch das hatte natürlich Gründe. Ich glaube daran, dass die körperliche Bewegung eine Denkbewegung auslöst und auch dazu führt, dass man zu einem anderen Menschen werden kann, wenn man es denn zulässt."
Die zweite Frauenfigur, Ayfer, ist zunächst unfreiwillig auf Reisen gegangen: Ihre Familie hat die 15-Jährige weggeschickt, zu Onkel und Tante in der Türkei - Ayfer hatte nämlich einen Freund in der Schweiz, und das hat die konservative Familie nicht toleriert. In der Türkei lebt sie in einer Art offenem Vollzug, muss in der Restaurantküche der Tante schuften und wird permanent überwacht.
"Sie hatte kein Handy, durfte keinen der drei Hotelcomputer benutzen, es war ihr verboten, das Haus alleine zu verlassen. Den Lohn, der ihr für ihre Arbeit zustand, zahlte ihr Onkel auf ein Bankkonto ein, das er für sie eröffnet hatte, wie er behauptete. In den drei Wochen, die sie jetzt hier war, hatte Yeter sie erst ein Mal nach Sile mitgenommen, wo es von Internetcafés wimmelte, aus denen sie endlich mit Davor hätte skypen oder ihm eine Mail schicken können." (S. 27 f.)
Als sich Ayfer die erste Gelegenheit bietet, macht sie sich auf den Rückweg in die Schweiz, schlägt sich auf ziemlich abenteuerliche Weise quer durch Europa durch. Auch ihre Geschichte endet auf den ersten Blick nicht gut: Ihr Freund entpuppt sich als Feigling, ihr Bruder schlägt Ayfer krankenhausreif. Auch das erfahren die Leser bereits am Anfang des Buches. Hansjörg Schertenleib findet trotzdem, dass die beiden Frauengeschichten versöhnlich enden:
"Ich verstehe, dass das paradox klingen mag. Andererseits Roberta Kienesberger ist aus dem Altersheim ausgebrochen und abgehauen, um nicht in einem Gefängnis oder einer Anstalt zu landen, weil sie jemanden im Affekt erschlagen hat. Sie weiß, was auf sie zukommt und das ist eigentlich der radikalste Akt der Selbstbestimmung, indem sie sich sagt, 'nee, ich beende hier an diesem Ort, am Ort meiner Kindheit mein Leben und setze mich in den Schnee, schlafe ein und erfriere. Bei der Jungen- wenn das Buch nicht weiter geht im Kopf, oder im Herzen oder Bäuchen der Leserinnen und Leser, dann ist es ein himmeltrauriger Schluss. Aber ich denke, dass diese Figur weiter lebt, in einem, wenn man sich anfängt vorzustellen, was danach ist. Dann wird es für mich positiver und hell."
"Wald aus Glas" ist ein Buch über die Bedeutung von Familie, zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Kulturkreisen. Und es ist vor allem ein Buch über zwei Frauen, deren Geschichten Schertenleib parallel erzählt und die sich gegen viele Widerstände durchsetzen, um so leben zu können, wie sie es möchten. Männer kommen im Wortsinne fast nur als Transporteure der Handlung vor, indem sie die Frauen in ihren Fahrzeugen mitnehmen.
Diese zwei Emanzipationsgeschichten könnten nun leicht ins Pathetische rutschen - Schertenleib hat diese Gefahr gesehen und sie pariert, mit Humor. Roberta verfügt zum Beispiel über eine gehörige Portion Selbstironie:
"Das ist mir etwas vom wichtigsten. Da kann ich wirklich behaupten, das habe ich in Irland gelernt. Das ist nicht eine der Stärken der Schweizer, Selbstdistanz. Über sich selbst lachen, das steht in der Schweiz nicht sonderlich hoch im Kurs. Da habe ich in Irland wirklich viel begriffen. Das ist für meine Arbeit ganz wichtig geworden, dass die Figuren auch einen Schritt zurücktreten können und aus der damit gewonnenen Distanz sich anders anzusehen. Und auch sehen, so traurig ist das doch gar nicht, wenn man es ein bisschen anders betrachtet."
Schertenleib hat auch erkennbar Spaß daran gehabt, Witz zu produzieren, von dem seine Figuren nicht wissen: Roberta und Ayfer treffen sich im Buch nur ein einziges Mal, ganz kurz am Salzburger Bahnhof. Aber der Autor verbindet ihre Geschichten durch viele kleine, zum Teil amüsante Details, wie zum Beispiel, dass beide unbewusst von Robertas Geld im Zug erster Klasse reisen.
So ist dieser Roman durchaus nicht frei von Melodramatik, zumal Schertenleib die Gefühlslagen oft mit poetischen Landschaftsbeschreibungen korreliert. Aber er puffert das Pathos ab durch seine klare Sprache, die beiden faszinierenden Frauenfiguren und den Schalk, der immer wieder überraschend aus der Ecke springt.
Und "Wald aus Glas" ist nicht zuletzt ganz beiläufig, ohne mit dem Werkzeug zu klappern, ein Roman über das Erzählen. Ayfer und Roberta erzählen ihren Reisepartnern immer wieder bewusst oder aus Verlegenheit ausgedachte Geschichten über sich selbst. Sie erfinden sich also immer wieder neu – so wie auch ihr Autor sie hätte ganz anders erfinden können.
"Es fiel mir schwer, mich in ein 15-jähriges Mädchen zu versetzen. Es war einfacher, mir eine alte Frau vorzustellen oder mich in sie zu verwandeln. Dann der andere Kulturkreis, die andere Religion, andere Familienstruktur usw. Aber da hat mir geholfen, dass ich früher Journalist war, weiß, wie man recherchiert. Auch gerne recherchiere. Ich glaube, das ist fast noch wichtiger. Das hat bedeutet, dass ich sehr viele Gespräche mit Leuten geführt habe, die mir auf den Sprung geholfen haben."
Herausgekommen sind, so viel sei vorweggenommen, zwei einfühlsame Porträts von mutigen Frauen, deren Leben an einen Wendepunkt kommen. Der Roman beginnt, und das ist beim Lesen ein Schock, mit dem Tod der alten Frau:
"Die Frau saß am Rand der Lichtung, an den Stamm einer Birke gelehnt, die Beine an die Brust gezogen. Hätte es die Nacht zuvor nicht das erste Mal in diesem Jahr geschneit, der Spaziergänger, der sie fand, hätte wohl angenommen, sie habe sich nur hingesetzt, um den Ausblick auf den Vorderen Langbathsee zu genießen, und sei dann eingenickt. Aber dafür war es zu kalt. Dass es eine Frau war, sah er sofort. Auch, dass sie tot war, wusste er, so sagte der Mann später aus, schon während er auf sie zuging." (S. 9)
Roberta Kienesberger ist bewusst erfroren, ein "Akt der Selbstbestimmung", wie es im Buch heißt - der letzte auf einem langen Weg zur Selbstbestimmung. Die anderen Akte liefert Schertenleib, nachdem er die Figur in den Schnee gesetzt hat, nach.
Roberta war immer eine Einzelgängerin. Nur an ihrem Hund, der in der ersten Szene ebenfalls tot in ihrem Schoß liegt, hat sie gehangen. Möglicherweise hat Robertas Unabhängigkeit von anderen Menschen mit den Brüchen in ihrer Biografie zu tun, mutmaßt der Autor. Denn Roberta kam aus dem Salzkammergut, fand nach der Schule keine Arbeit und ging in die Schweiz.
"Das ist der erste Bruch und dass sie ihre Heimat verlässt und in ein anderes Land gehen muss, um Arbeit zu finden. Der zweite viel größere und radikalere Bruch, der sehr viele Konsequenzen nach sich gezogen hat, war derjenige, dass sie ihre Familie verlassen hat. Sie hat in der Schweiz geheiratet und einen Sohn bekommen, und als dieser Sohn in der Pubertät war, hat sie die Familie verlassen."
Klingt in heutigen Ohren nicht besonders dramatisch, aber Roberta Kienesberger hat diese Entscheidung 1980 in einer Schweizer Kleinstadt gefällt.
"Männer verlassen ihre Familien zuhauf. Das ist gesellschaftlich mittlerweile längst akzeptiert. Eigenartigerweise, wenn Mütter das tun, ist es immer noch ganz schlimm. Und sie hat das getan und sie wusste aber ganz genau, was sie tut, wenn sie das tut. Sie wusste, dass sie danach gesellschaftlich geächtet sein wird und das hat sie sicher ganz bestimmt auch an den Rand der Gesellschaft - ja nicht gedrängt - sie selbst hat sich an den Rand der Gesellschaft gestellt."
Roberta hatte dann ein loses Verhältnis mit ihrem Chef, einem Schreiner, mit dessen Ehefrau sie unter einem Dach lebte. Als der Chef tot ist und die Schreinerei abgerissen werden soll, bringt die Polizei Roberta gegen ihren Willen ins Altenheim – wo sie eine Außenseiterin bleibt.
"Im Esssaal war Roberta wie jeden Morgen erstaunt, wie lebhaft es dort beim Frühstück zuging. Die Frauen und Männer redeten unerbittlich laut durcheinander, ohne sich um sie zu kümmern, als sie sich auf den letzten freien Stuhl an ihrem Tisch setzte. Das Frühstück hatte gerade begonnen, trotzdem liefen schon Kaffeeflecken kreuz und quer über das Tischtuch; das Brotkörbchen war bis auf eine Scheibe Weißbrot leer, das Buttertöpfchen mit Marmelade verschmiert. Das Stimmengesumm, das den Saal füllte, klang beinahe fröhlich, dachte Roberta, wie Schulkinder, die ausgelassen sind ohne die Lehrer, die sie beaufsichtigen. Oder wie alte Menschen, die sich freuen, die Nacht überlebt und einen weiteren Tag geschenkt bekommen zu haben." (S. 42 f.)
Roberta kehrt dem Altenheim den Rücken, befreit ihren Hund aus dem Zwinger und macht sich auf den Weg in ihre österreichische Heimat. Sie will noch einmal zurück zu ihren Wurzeln, wie so viele alte Menschen.
Roberta geht also auf Reisen – ein Motiv, das Hansjörg Schertenleib wichtig ist, wenn etwas in Bewegung geraten soll.
"Das ist vielleicht autobiographisch, weil es bei mir so ist, wenn ich merke, ich fange an, an einem Ort zu treten, was ein Projekt betrifft, ein literarisches, was mein Leben betrifft, was Beziehungen betrifft, was Freundschaften betrifft, dann hat es immer geholfen in meinem Leben, wenn ich mich physisch bewegt habe. Das kann ein Spaziergang sein. Das muss unter Umständen aber auch eine viel größere Bewegung sein, ein Umzug. Ich bin ausgewandert aus der Schweiz, nach Irland. Auch das hatte natürlich Gründe. Ich glaube daran, dass die körperliche Bewegung eine Denkbewegung auslöst und auch dazu führt, dass man zu einem anderen Menschen werden kann, wenn man es denn zulässt."
Die zweite Frauenfigur, Ayfer, ist zunächst unfreiwillig auf Reisen gegangen: Ihre Familie hat die 15-Jährige weggeschickt, zu Onkel und Tante in der Türkei - Ayfer hatte nämlich einen Freund in der Schweiz, und das hat die konservative Familie nicht toleriert. In der Türkei lebt sie in einer Art offenem Vollzug, muss in der Restaurantküche der Tante schuften und wird permanent überwacht.
"Sie hatte kein Handy, durfte keinen der drei Hotelcomputer benutzen, es war ihr verboten, das Haus alleine zu verlassen. Den Lohn, der ihr für ihre Arbeit zustand, zahlte ihr Onkel auf ein Bankkonto ein, das er für sie eröffnet hatte, wie er behauptete. In den drei Wochen, die sie jetzt hier war, hatte Yeter sie erst ein Mal nach Sile mitgenommen, wo es von Internetcafés wimmelte, aus denen sie endlich mit Davor hätte skypen oder ihm eine Mail schicken können." (S. 27 f.)
Als sich Ayfer die erste Gelegenheit bietet, macht sie sich auf den Rückweg in die Schweiz, schlägt sich auf ziemlich abenteuerliche Weise quer durch Europa durch. Auch ihre Geschichte endet auf den ersten Blick nicht gut: Ihr Freund entpuppt sich als Feigling, ihr Bruder schlägt Ayfer krankenhausreif. Auch das erfahren die Leser bereits am Anfang des Buches. Hansjörg Schertenleib findet trotzdem, dass die beiden Frauengeschichten versöhnlich enden:
"Ich verstehe, dass das paradox klingen mag. Andererseits Roberta Kienesberger ist aus dem Altersheim ausgebrochen und abgehauen, um nicht in einem Gefängnis oder einer Anstalt zu landen, weil sie jemanden im Affekt erschlagen hat. Sie weiß, was auf sie zukommt und das ist eigentlich der radikalste Akt der Selbstbestimmung, indem sie sich sagt, 'nee, ich beende hier an diesem Ort, am Ort meiner Kindheit mein Leben und setze mich in den Schnee, schlafe ein und erfriere. Bei der Jungen- wenn das Buch nicht weiter geht im Kopf, oder im Herzen oder Bäuchen der Leserinnen und Leser, dann ist es ein himmeltrauriger Schluss. Aber ich denke, dass diese Figur weiter lebt, in einem, wenn man sich anfängt vorzustellen, was danach ist. Dann wird es für mich positiver und hell."
"Wald aus Glas" ist ein Buch über die Bedeutung von Familie, zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Kulturkreisen. Und es ist vor allem ein Buch über zwei Frauen, deren Geschichten Schertenleib parallel erzählt und die sich gegen viele Widerstände durchsetzen, um so leben zu können, wie sie es möchten. Männer kommen im Wortsinne fast nur als Transporteure der Handlung vor, indem sie die Frauen in ihren Fahrzeugen mitnehmen.
Diese zwei Emanzipationsgeschichten könnten nun leicht ins Pathetische rutschen - Schertenleib hat diese Gefahr gesehen und sie pariert, mit Humor. Roberta verfügt zum Beispiel über eine gehörige Portion Selbstironie:
"Das ist mir etwas vom wichtigsten. Da kann ich wirklich behaupten, das habe ich in Irland gelernt. Das ist nicht eine der Stärken der Schweizer, Selbstdistanz. Über sich selbst lachen, das steht in der Schweiz nicht sonderlich hoch im Kurs. Da habe ich in Irland wirklich viel begriffen. Das ist für meine Arbeit ganz wichtig geworden, dass die Figuren auch einen Schritt zurücktreten können und aus der damit gewonnenen Distanz sich anders anzusehen. Und auch sehen, so traurig ist das doch gar nicht, wenn man es ein bisschen anders betrachtet."
Schertenleib hat auch erkennbar Spaß daran gehabt, Witz zu produzieren, von dem seine Figuren nicht wissen: Roberta und Ayfer treffen sich im Buch nur ein einziges Mal, ganz kurz am Salzburger Bahnhof. Aber der Autor verbindet ihre Geschichten durch viele kleine, zum Teil amüsante Details, wie zum Beispiel, dass beide unbewusst von Robertas Geld im Zug erster Klasse reisen.
So ist dieser Roman durchaus nicht frei von Melodramatik, zumal Schertenleib die Gefühlslagen oft mit poetischen Landschaftsbeschreibungen korreliert. Aber er puffert das Pathos ab durch seine klare Sprache, die beiden faszinierenden Frauenfiguren und den Schalk, der immer wieder überraschend aus der Ecke springt.
Und "Wald aus Glas" ist nicht zuletzt ganz beiläufig, ohne mit dem Werkzeug zu klappern, ein Roman über das Erzählen. Ayfer und Roberta erzählen ihren Reisepartnern immer wieder bewusst oder aus Verlegenheit ausgedachte Geschichten über sich selbst. Sie erfinden sich also immer wieder neu – so wie auch ihr Autor sie hätte ganz anders erfinden können.
Hansjörg Schertenleib: Wald aus Glas. Roman
Aufbau Verlag, Berlin 2012, 286 Seiten, 19,99 Euro
Aufbau Verlag, Berlin 2012, 286 Seiten, 19,99 Euro