Als der russische Präsident Wladimir Putin am 24. Februar 2022 seine Truppen in die Ukraine einmarschieren ließ, glaubte er an einen schnellen Sieg. Die Wehrhaftigkeit der Verteidiger überraschte nicht nur den Kreml - auch in vielen europäischen Hauptstädten glaubte man offenbar nicht so Recht an die Ukraine.
Die Bereitschaft Europas, das Land mit militärischen Mitteln bei der Verteidigung gegen den Aggressor zu unterstützen, war zunächst verhalten. Und auch nach zwei Jahren Krieg fehlt es in den EU-Staaten weiter am politischen Willen, alles mögliche zu tun, um der Ukraine dabei zu helfen, Putin zu stoppen. Die Folgen dieses Zauderns könnten für die europäische und die globale Sicherheit schwerwiegend werden.
Inhalt
- Zehntausende Tote auf beiden Seiten
- Putin hält trotz Fehleinschätzung an Kriegszielen fest
- Deutsche Debatte um Waffenlieferungen
- Europa hilft nur langsam und unzureichend
- Die Ukraine muss mit Notstrategie Zeit gewinnen
- Mögliche Folgen eines russischen Sieges
- US-Wahl im November: Richtungsweisend auch für die Ukraine
- Europa gefährdet seine strategische Sicherheit
Zehntausende Tote auf beiden Seiten
Die Zahl der Todesopfer des ersten großen Landkrieges seit 1945 ist erschütternd. Am 21. Februar berichteten der russischsprachige Dienst der BBC und das russische Medienunternehmen Mediazona, gemeinsam die Namen von mehr als 45.000 russischen Soldaten identifiziert zu haben, die seit Februar 2022 ums Leben gekommen seien. Dies umfasse lediglich die Soldaten, die in öffentlich zugänglichen Daten - hauptsächlich Nachrufen - erfasst wurden. Tatsächlich könnten es doppelt so viele sein.
Am 25. Februar nannte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zum zweiten Jahrestag des russischen Einmarsches die Zahl von 31.000 getöteten ukrainischen Soldaten. Die Zahl der Verwundeten wollte er nicht nennen. Sie könnte das Drei- bis Fünffache der Zahl der Gefallenen betragen.
Diese Zahlen sind unabhängig nicht verifizierbar. Viele Quellen rechnen auf russischer Seite mit weit mehr Gefallenen. Von mehr als 100.000 toten russischen Soldaten ist die Rede. Das hat mit der Art und Weise zu tun, wie die russische Armee unerfahrene und schlecht ausgestattete Soldaten ins Feuer schickt. Allein bei der Eroberung der Stadt Awdijiwka sollen innerhalb weniger Wochen 20.000 russische Soldaten umgekommen sein. Die Zahl der gefallenen russischen Soldaten innerhalb der vergangenen zwei Jahre ist wahrscheinlich mehr als doppelt so hoch wie die amerikanischen Verluste im Vietnam-Krieg – innerhalb von 15 Jahren (rund 58.000 Tote).
Putin hält trotz Fehleinschätzung an Kriegszielen fest
Putin hatte gedacht, dass er in wenigen Tage die ukrainische Hauptstadt Kiew erobern und den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi ermorden könne. Mehrere russische Kommandoeinheiten wurden auf Selenskyi angesetzt, alle scheiterten. Putins Plan, mit einem Blitzkrieg die Ukraine niederzuwerfen und zu annektieren, war innerhalb weniger Tage obsolet.
Das lag unter anderem daran, dass die Ukrainer sich seit der Annektierung der Krim 2014 auf diesen Krieg vorbereitet hatten, mit amerikanischer und britischer Hilfe. Die Ukrainer bekämpften die russischen Panzerkolonnen unter anderem mit britischen und amerikanischen Javelin-Panzerabwehrraketen. Taktisch klug eingesetzt, brachten die ukrainischen Soldaten binnen weniger Tage den russischen Vormarsch zum Halten. Es gelang der ukrainischen Armee sogar bis zum Ende des Jahres 2022, die Hälfte des von den Russen eroberten Gebietes zurückzuerobern.
Doch das allein reichte nicht, um sich gegenüber der russischen Armee dauerhaft durchzusetzen. Die Sommeroffensive 2023 scheiterte: zu wenige schwere Waffen, zu wenig Munition, keine ausreichende Luftunterstützung.
Putin spricht unverändert davon, die Ukraine erobern zu wollen und schwadroniert über eine angeblich nötige Entnazifizierung des Landes. Jegliche Hoffnungen auf ein eventuelles Einlenken des Diktators im Kreml haben sich nach zwei Jahren brutaler Kriegsführung erledigt. Die Massenmorde in Butscha und Irpin zeigen den Ukrainern, welches Schicksal ihnen unter russischer Besatzung droht.
Deutsche Debatte um Waffenlieferungen
In Deutschland entspann sich innerhalb weniger Monate nach Beginn des russischen Angriffskrieges eine grundsätzliche Debatte darüber, wie man der Ukraine wirksam unter die Arme greifen könnte. Sie wird immer noch geführt. Schützenpanzer Marder, Panzerhaubitze 2000, Kampfpanzer Leopard 2, und jetzt der Marschflugkörper Taurus: Jedes Mal das gleiche Muster.
Das Kanzleramt verzögerte die notwendigen Entscheidungen, während Opposition und Teile der Ampelkoalition auf raschere und umfangreichere Lieferungen drängten. Das erste Jahr nach Kriegsbeginn wurde mehr oder weniger untätig vertan. Besonders die FDP-Abgeordnete und Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann und der grüne MdB und Vorsitzende des Europaausschusses, Anton Hofreiter, drängten das Kanzleramt immer wieder vehement, die Ukraine mit mehr militärischem Material zu unterstützen. Strack-Zimmermann machte aus ihrem Herzen keine Mördergrube: Das Problem sitze im Kanzleramt, sagte sie im Rahmen der Debatte über die Lieferung des Kampfpanzers Leopard 2.
Auch zu seiner Weigerung, Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine zu liefern, schwieg der Bundeskanzler lange Zeit beharrlich. Zwei Tage nach dem Jahrestag der russischen Invasion lieferte er dann doch eine Begründung: Der Einsatz der Taurus-Marschflugkörper durch die Ukraine würde die Mitwirkung deutscher Soldatinnen und Soldaten an der Zielsteuerung erfordern - und dadurch könne Deutschland zur Kriegspartei werden, wenn diese massiven Waffen mit deutscher Hilfe auf russischem Territorium einschlügen.
Kritiker des Kanzlers widersprachen sofort vehement. Es stimme nicht, dass Bundeswehrsoldaten in die Ukraine müssten, um Taurus-Marschflugkörper vorzubereiten, sagte FDP-Wehrexpertin Strack-Zimmermann in einem "Welt"-Interview, der Kanzler suche nach Ausreden. Tatsächlich hatte die Taurus Systems GmbH, die die Marschflugkörper in Deutschland montiert, bereits vor Wochen erklärt, dass sie ukrainische Techniker in Deutschland für die Programmierung schulen könne.
Mit den Flugkörpern könnten die Nachschublinien der Russen weit hinter den Kampflinien empfindlich gestört werden. Das wäre ein dringend nötiger strategischer Schub für die Ukraine.
Europa hilft zu langsam und unzureichend
Nur bisweilen gibt sich der Kanzler rhetorisch kämpferisch. Auf der Münchener Sicherheitskonferenz etwa erklärte Scholz, Deutschland werde die Ukraine unterstützen, so lange es nötig sei. Und: Es werde keinen russischen Diktatfrieden geben. Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) zeigte sich optimistisch. Die europäische Rüstungsproduktion steige so schnell wie möglich. Europa sei in der Lage, einen eventuellen Ausfall der USA als Lieferant zu kompensieren.
Viele Experten sind skeptisch. Nicht nur die Deutschen, auch die Europäer insgesamt wurden für ihre Langsamkeit kritisiert. Die EU-Regierungen hatten der Ukraine im März 2023 versprochen, innerhalb eines Jahres eine Million Schuss Artilleriemunition zu liefern. Bis Ende März 2024 werden es laut Angaben des EU-Außenbeauftragten Josep Borrell jedoch nur 524.000 Schuss sein.
Ukraine muss mit Notstrategie Zeit gewinnen
Den Ukrainern bleibt nach Ansicht von Experten jetzt zunächst nur übrig, sich einzugraben, d.h. Verteidigungsstellungen auszubauen, um die Verluste an Menschenleben einzudämmen und Munition zu sparen. Erst, wenn wieder genug Munition vorhanden ist, kann die Ukraine erneut in die Offensive gehen. Wann das der Fall sein wird, ist unklar.
Die neueröffnete Munitionsfabrik in Unterlüß in Niedersachsen, so ist zu hören, soll ab Februar 2025 ihre Produktion aufnehmen. Ihre Produktionskapazität soll bis zu 200.000 Geschosse pro Jahr betragen. Aus Tschechien wurde gemeldet, das Land habe kurzfristig Zugang zu 800.000 Artilleriegranaten – ein Silberstreif für die Ukraine.
Möglichen Folgen eines russischen Sieges
Bei der Münchener Sicherheitskonferenz war allenthalben die Sorge groß, dass die Ukraine nicht lang genug würde durchhalten können. Gleichzeitig ist bei vielen Teilnehmern die Einsicht angekommen, dass eine Unterstützung der Ukraine definitiv im Sinne der Europäer ist. Setzt sich Putin mit seinem Angriffskrieg durch, dann ist europäisches NATO-Gebiet gefährdet. Die internationale Ordnung, festgehalten in der Charta von Paris 1990, liegt ohnehin in Schutt und Asche. Sollte Putin in der Ukraine gewinnen, wird dies auch China aufmerksam zur Kenntnis nehmen.
Die Kriegsgefahr gegenüber Taiwan würde definitiv stark ansteigen. Der chinesische Diktator Xi Jinping, der aus seinen aggressiven Absichten gegenüber Taiwan keinen Hehl macht, würde sich ermutigt fühlen, wenn der Westen nicht entschlossen genug wäre, die Ukraine so zu unterstützen, dass sie eine maximal gute Ausgangsposition für eventuelle Friedensverhandlungen gegenüber Putin hätte. Ausreichende westliche Waffenlieferungen würden den Krieg in der Ukraine verkürzen – und einen Krieg im Pazifik unwahrscheinlicher machen.
US-Wahl im November: Auch für die Ukraine richtungsweisend
Über all dem hängt noch eine Grundsatzentscheidung wie ein Damoklesschwert: Wie geht die Wahl in den USA am 5. November aus? Falls Donald Trump erneut an die Macht kommen sollte, dann wären die Europäer auf sich selbst gestellt. Trump konnte schon in seiner ersten Amtszeit als US-Präsident kaum davon abgehalten werden, die NATO-Bündnisverpflichtung, den Artikel 5, zu widerrufen. Sein Sicherheitsberater John Bolton schildert dies eindrücklich in seinen Memoiren. Sollte Trump die Wahl gewinnen, stünden nicht nur die Ukrainer, sondern ganz Europa vor einem strategischen Scherbenhaufen.
Für Kiew ist die Unterstützung der USA – noch - entscheidend. In Washington wird jedoch ein neues Ukraine-Hilfspaket in Höhe von 60 Milliarden Dollar (rund 55,7 Milliarden Euro) auf Geheiß von Trump seit Monaten von den oppositionellen Republikanern im Kongress blockiert. Ohne die USA direkt zu nennen erklärten die G7-Staaten am 25. Februar: "Wir rufen dringend zur Billigung weiterer Unterstützung auf, um die verbleibende Haushaltslücke der Ukraine für 2024 zu schließen."
Ist Europa darauf vorbereitet, auch ohne Hilfe der USA seine Abschreckung zu stemmen und die Ukraine so zu unterstützen, dass das Land sich gegen Putin behaupten kann? Der britische "Economist" eröffnet seine Analyse zum Stand des Krieges gegen die Ukraine mit einer pessimistischen Einschätzung: „Russland wird gefährlicher, Amerika wird unzuverlässiger, und Europa bleibt unvorbereitet.“
Europa gefährdet seine strategische Sicherheit
Diesem Pessimismus muss man nicht folgen, denn Europa fehlt es nicht am Potenzial, sondern am politischen Willen, an der Entschlossenheit. Das viel beschworene Führungstandem, Deutschland und Frankreich, kommt nicht recht in Gang. Das Weimarer Dreieck, Deutschland, Frankreich und Polen ebenso wenig. Weder der polnische Ministerpräsident Donald Tusk noch der französische Präsident Emmanuel Macron schafften es, zur Münchener Sicherheitskonferenz zu erscheinen und mit Bundeskanzler Scholz zumindest ein politisches Signal zu setzen.
Europa hat mehr als viermal so viele Einwohner wie Russland. Europas Bruttosozialprodukt ist gut zehnmal so groß wie das Russlands. Das militärische Know-how zum Aufbau einer glaubwürdigen militärischen Abschreckung ist vorhanden oder könnte eingekauft werden. Zwei Jahre nach Beginn des umfassenden Krieges Russlands gegen die Ukraine kommt man an einer Einsicht nicht mehr vorbei: Das Handlungsdefizit der europäischen Regierungen gefährdet die strategische Sicherheit der Europäer.
Das europäische Modell von Demokratie, Rechtsstaat und Wohlstand, von gegenseitiger Gewaltlosigkeit und internationaler Kooperation kann jedoch nur Bestand haben, wenn die Europäer – auch ohne die USA - glaubhaft bereit sind, diese zivilisatorischen Errungenschaften zu verteidigen.