Wie dieser in jungen Jahren so gefiel sich auch Rihm in der Attitüde des Revoluzzers - ganz ästhetisch natürlich. Seine (neo-)expressionistische Musik verdanke sich, so ließ er wissen, "konzentriert-kontrollierte Anarchie". Kein Zweifel: Rihm beabsichtigte - und wusste - sich früh von allem "Schulmässigen" und von "Systemzwängen" zu befreien. Er sei, erklärte er 1985 gegenüber der "tageszeitung" (taz) "für die Chaotik, um aus dem Chaos heraus etwas hervorzubringen und gegen das Chaos mit dem Chaos das Chaos dann doch wieder zu erzeugen - eigentlich ein anarchischer Ansatz". Eigentlich!
Zugleich - zwei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust - türmte Rihm mit großer Selbstdisziplin und hübsch ordentlich Werk auf Werk; Streichquartette, drei Symphonien; dann "Klangbeschreibungen" und - dunkel raunend - "Dunkles Spiel", "Gebild" oder "Vorgefühl"; er spielt auf Literatur, Philosophie und bestimmte Arbeiten der Bildenden Kunst an. Und kredenzt, wir Richard Strauss, immer wieder auch Werke, die als überschäumendes, überschießendes Material von der musikdramatischen Produktion abgezweigt wurden. Die aber steht im Mittelpunkt des so unermüdlichen und zumindest leicht zwanghaft erscheinenden Schaffens. Er suchte, rascher und entschiedener als die meisten seiner Altersgenossen, seinen eigenen neo-expressionistischen Weg - und fand ihn. Aus dem zitatenfrohen neu-westdeutschen Einerlei ragen erratische Blöcke wie Rihms Hamletmaschine nach Heiner Müller (Mannheim 1987) und Die Eroberung Mexicos nach Antonin Artaud, weniger der all zu sehr auf Berliner Festwochen zugeschnittene Oedipus. Mit dem Mexico-Stück ging es 1992 um mehr als um den Erinnerungs-Auftrag des Columbus-Jahrs: es ging um Kolonialismus-Geschichte und Zivilisationskritik, um Beherrschung und Unterwerfung, um den Widerstreit von männlich – weiblich – neutral. Rihms Musik zu einem Theater mehr der Gesten als der Worte bewies Vielgestaltigkeit aus einheitlichem Stilwollen. Noch immer holt er seine Materialien von hier und dort, und manches bleibt Rohkost im Menü. Dennoch: er hat gut kochen gelernt in den letzten zwei Jahrzehnten. Keiner kann das »Schluchzen des weißen Mannes« so komponieren wie er. Und wenige lehnen sich so weit zum Fenster hinaus wie er. Und so kommt so manches zum Klingen, was unter dem Pflaster des Landes versiegelt wurde. Und sei es in doppelter Tiefe.
Gegenwärtig schreibt Rihm an einem "Dionysos"-Musiktheater im Auftrag der Hamburgischen Staatsoper. "Die Wahl des Sujets signalisiert zumindest deutliche Distanz zu jeglichem Klassizismus, aber auch etwa zu älteren linken Ideen", schrieb unlängst einer der großen Kritiker des Landes. Zutreffend: Wolfgang Rihm ist in der ersten Reihe der repräsentativen Komponisten der real existierenden Bundesrepublik angekommen - kokettierende mit dem Wahnsinn, in gediegener praktischer Vernunft.
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