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Zwei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust

Mit Wolfgang Rihm wird erstmals ein Komponist der Generation nach 1968 in die vorderste Reihe des honetten Musikbetriebs promoviert, wiewohl er dort recht eigentlich schon vor bald zwanzig Jahren angekommen war. Doch nun ist es gleichsam amtlich: Rihm, der weit über vierhundert und vielfach großformatige Arbeiten vorgelegt hat, erreichte den Parnass. Auch hebt ihn der Modus der Preisvergabe aus der Vielzahl der anderen klar hervor, die von der Siemens-Musikstiftung nach einem modifizierten Gießkannen-Prinzip ebenfalls mit Zuwendungen bedacht werden - vom Festspielhaus Baden-Baden bis zum Ensemble Recherche und vom Schlagquartett Köln bis zur Edition Carl Dahlhaus oder irgendwelchen verdienstvollen Musikaktivitäten in Ochsenhausen. Wolfgang Rihm aus und in Karlsruhe war schon als Kind "von der Idee beseelt", sich abzuarbeiten, sich "durch ständiges Hervorbringen aufzulösen". Er fühlte sich daher auch selbst "gefährdet" - und entwickelte aus diesem Bewusstsein heraus nicht zufällig ein Faible für "gefährdete" Intellektuelle. Durchaus konsequent erschien also, dass er sich nicht nur in einer frühen dramatischen Arbeit - "Faust und Yorick" - mit der Frage der Gehirnforschung und deren Deformationen befasste, sondern auch mit einer Kammeroper über das Sturm- und Drang-Genie Jakob Lenz bekannt und erfolgreich wurde.

Von Frieder Reininghaus |
    Man hatte es mit dem Kommilitonen und kompositorischen "Jung-Siegfried", der sich so erkennbar - auch habituell - in der Tradition der deutschen Genies stellte, nicht ganz einfach - und einfach hat er es sich selbst gewiss auch nicht gemacht: er wollte (musikalischer) Extremist sein - und doch zugleich schon sehr früh "meisterlich". Anerkannt, fest bestallt und hoch bezahlt. In den Neunziger Jahren gab es kaum ein musikpolitisches Gremium, in dem Rihm nicht saß. Und nach dem Dessert mit wippender Zigarre - wie einst Richard Strauss.

    Wie dieser in jungen Jahren so gefiel sich auch Rihm in der Attitüde des Revoluzzers - ganz ästhetisch natürlich. Seine (neo-)expressionistische Musik verdanke sich, so ließ er wissen, "konzentriert-kontrollierte Anarchie". Kein Zweifel: Rihm beabsichtigte - und wusste - sich früh von allem "Schulmässigen" und von "Systemzwängen" zu befreien. Er sei, erklärte er 1985 gegenüber der "tageszeitung" (taz) "für die Chaotik, um aus dem Chaos heraus etwas hervorzubringen und gegen das Chaos mit dem Chaos das Chaos dann doch wieder zu erzeugen - eigentlich ein anarchischer Ansatz". Eigentlich!

    Zugleich - zwei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust - türmte Rihm mit großer Selbstdisziplin und hübsch ordentlich Werk auf Werk; Streichquartette, drei Symphonien; dann "Klangbeschreibungen" und - dunkel raunend - "Dunkles Spiel", "Gebild" oder "Vorgefühl"; er spielt auf Literatur, Philosophie und bestimmte Arbeiten der Bildenden Kunst an. Und kredenzt, wir Richard Strauss, immer wieder auch Werke, die als überschäumendes, überschießendes Material von der musikdramatischen Produktion abgezweigt wurden. Die aber steht im Mittelpunkt des so unermüdlichen und zumindest leicht zwanghaft erscheinenden Schaffens. Er suchte, rascher und entschiedener als die meisten seiner Altersgenossen, seinen eigenen neo-expressionistischen Weg - und fand ihn. Aus dem zitatenfrohen neu-westdeutschen Einerlei ragen erratische Blöcke wie Rihms Hamletmaschine nach Heiner Müller (Mannheim 1987) und Die Eroberung Mexicos nach Antonin Artaud, weniger der all zu sehr auf Berliner Festwochen zugeschnittene Oedipus. Mit dem Mexico-Stück ging es 1992 um mehr als um den Erinnerungs-Auftrag des Columbus-Jahrs: es ging um Kolonialismus-Geschichte und Zivilisationskritik, um Beherrschung und Unterwerfung, um den Widerstreit von männlich – weiblich – neutral. Rihms Musik zu einem Theater mehr der Gesten als der Worte bewies Vielgestaltigkeit aus einheitlichem Stilwollen. Noch immer holt er seine Materialien von hier und dort, und manches bleibt Rohkost im Menü. Dennoch: er hat gut kochen gelernt in den letzten zwei Jahrzehnten. Keiner kann das »Schluchzen des weißen Mannes« so komponieren wie er. Und wenige lehnen sich so weit zum Fenster hinaus wie er. Und so kommt so manches zum Klingen, was unter dem Pflaster des Landes versiegelt wurde. Und sei es in doppelter Tiefe.

    Gegenwärtig schreibt Rihm an einem "Dionysos"-Musiktheater im Auftrag der Hamburgischen Staatsoper. "Die Wahl des Sujets signalisiert zumindest deutliche Distanz zu jeglichem Klassizismus, aber auch etwa zu älteren linken Ideen", schrieb unlängst einer der großen Kritiker des Landes. Zutreffend: Wolfgang Rihm ist in der ersten Reihe der repräsentativen Komponisten der real existierenden Bundesrepublik angekommen - kokettierende mit dem Wahnsinn, in gediegener praktischer Vernunft.

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