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Zweifel an der Handlungsfähigkeit des libyschen Staates

Der Rat der EU-Außenminister hat am Montag das gewaltsame Vorgehen der libyschen Regierung gegen die Massenproteste verurteilt. Werner Hoyer (FDP), Staatsminister im Auswärtigen Amt, fordert Europa müsse "als wichtiger Akteur in der Region sichtbarer werden".

Werner Hoyer im Gespräch mit Gerwald Herter |
    Gerwald Herter: Und jetzt auch noch Libyen. Ganze Regionen sollen bereits unter Kontrolle der Aufständischen stehen. Das berichten Augenzeugen. Ausländische Journalisten mussten das Land längst verlassen. Jetzt bin ich mit dem Staatsminister im Auswärtigen Amt, Werner Hoyer (FDP), verbunden. Er hat gestern in Brüssel beim Rat der Außenminister Deutschland vertreten. Die Vorgänge im Norden Afrikas waren dabei ein ganz wichtiges Thema. Guten Morgen, Herr Hoyer.

    Werner Hoyer: Guten Morgen!

    Herter: Herr Hoyer, das Internet wird gestört, Telefonleitungen sind tot, ausländische Reporter halten sich nicht mehr in Libyen auf. Kommen Sie überhaupt noch an verlässliche Informationen aus diesem Land heran?

    Hoyer: Nun, unsere Botschaft vor Ort funktioniert, aber damit ist es auch schon fast getan, denn in der Tat sind die Kommunikationswege sehr begrenzt und insbesondere gibt es keine verlässlichen oder sehr wenige verlässliche Medieninformationen.

    Herter: Ist die deutsche Botschaft überhaupt noch in der Lage, irgendetwas für deutsche Staatsangehörige in Libyen zu tun? Einige Hundert sollen sich dort noch aufhalten.

    Hoyer: Das ist absolut unsere Priorität in der gegenwärtigen Situation, unsere Landsleute dort zu unterstützen und ihnen die Möglichkeit zu geben, das Land zu verlassen. Das ist ausgesprochen schwierig und sehr kompliziert. Es ist gestern gelungen, einen großen Lufthansa-Flug gut abzuwickeln. Ich hoffe, dass das auch heute gelingt. Darüber hinaus bemühen wir uns um weitere Transportmöglichkeiten. Die Situation ist aber sehr erschwert, insbesondere dadurch, dass die staatlichen Strukturen zum Beispiel im Osten des Landes schon so weit zusammengebrochen sind, dass der Flughafen von Bengasi gar nicht beflogen werden kann und die Situation in Tripolis zunehmend kritisch wird.

    Herter: Was wissen Sie über die Situation im Osten? Dort soll es Plünderungen geben. Die Armee, die libysche Armee, auch Gaddafi soll da nicht mehr die Macht haben. Die Aufständischen sollen die Macht übernommen haben.

    Hoyer: Das scheint in der Tat so zu sein. Teile der Armee haben sich auch abgesetzt. Es ist allerdings so, dass die Situation in Libyen doch etwas komplizierter ist als in den Staaten, wo wir es mit einem mehr oder weniger homogenen Staatsvolk zu tun haben. Hier brechen jetzt alte Stammeskonflikte wieder auf, die vor 40 oder 50 Jahren sozusagen im Wüstensand verschwunden sind. Jetzt sind sie wieder da. Das erinnert ein wenig an die Situation in Jugoslawien in den 90er-Jahren, wo ja auch nach Jahrzehnten des Kommunismus und der Oppression die alten regionalen und nationalen Konflikte wieder ausgebrochen sind. Wie unter einer Eisdecke hervorgekommen haben wir in Libyen eine ähnliche Situation, wo wir jetzt auch wieder über Stammeskonflikte reden, die in Zeiten der Diktatur kein Thema waren.

    Herter: Glauben Sie, dass die Appelle der Europäischen Union in Libyen überhaupt noch ankommen?

    Hoyer: Sie mögen ankommen, aber ich bezweifele die Handlungsfähigkeit des libyschen Staates, und deswegen hat in der gegenwärtigen Situation erst mal die Vorsorge für unsere eigenen Staatsbürger absoluten Vorrang. Darüber hinaus hat die Europäische Union gestern eine klare Position bezogen und sie wird das in den nächsten Tagen weiterentwickeln müssen.

    Herter: Was nutzt das denn aber, wenn das nicht mehr ankommt im Land?

    Hoyer: Ja. Wir können dort ja nun nicht selber eingreifen, indem wir dort Militär hinschicken oder so was. Das ist keine Option, sondern gegenwärtig geht es um die Sicherheit unserer eigenen Staatsbürger und darum, diejenigen, die noch handeln können, davon zu überzeugen, dass als erstes die Gewaltexzesse enden müssen.

    Herter: Aber Sanktionen hätte die Europäische Union doch gestern beschließen können. Wer hat da Widerstand geleistet?

    Hoyer: Das ist auch ein Thema, was mit Sicherheit auf der Tagesordnung bleibt und wo es auch nicht auf ein paar Stunden ankommt. Die andere Frage ist jetzt prioritär und Sie müssen sich vorstellen, dass natürlich insbesondere die Länder am Südrand der Europäischen Union ganz unmittelbare Sorgen haben, weil wir möglicherweise vor einer gigantischen Flüchtlingswelle stehen.

    Herter: Also Italien, dessen Premierminister Berlusconi einen Freundschaftsvertrag mit Libyen unterzeichnet hatte?

    Hoyer: Das ist sicherlich jetzt ein Problem für unsere italienischen Freunde und wir können nur darauf hinweisen und unsere Freunde überall bitten, dass sie nicht die Zeichen der Zeit verkennen.

    Herter: Aber Deutschland hat eben auch ein Problem. Deutschland bezieht sehr viel Erdöl aus Libyen. Deutsche Firmen sind in Libyen unterwegs. Im letzten Jahr fand in Tripolis noch ein Gipfeltreffen der EU mit afrikanischen Staaten statt, freundliche Gespräche mit dem Autokraten Gaddafi. War das ein Fehler?

    Hoyer: Die Afrikaner haben das so entschieden und wenn wir von African Ownership sprechen, dann müssen wir auch das ernst nehmen. Allerdings hat sich mit Sicherheit keiner dabei wohl gefühlt. Jetzt müssen wir allerdings die Dinge in die richtige Reihenfolge bringen. Die erste Priorität ist die Sicherheit der Menschen. Zweite Priorität ist, dass eine Perspektive für dieses Land geschaffen wird. Und die dritte Perspektive ist erst die Frage der wirtschaftlichen Beziehungen zu Libyen. Libyen ist ein wichtiges Land, aber wir können jetzt unter der Überschrift "Ölversorgung" nicht die ganz grundsätzlichen Fragen hinten anstellen, die jetzt beantwortet werden müssen.

    Herter: Sicherheit der Menschen - Sie haben ausgeschlossen, dass es da zum Einsatz von Militär kommt. In Deutschland gibt es eine Spezialeinheit der Bundeswehr, die KSK, die ist extra für solche Fälle auch ausgebildet worden. Wird es im schlimmsten Fall nötig sein, auch Truppen dorthin zu entsenden? Aus anderen afrikanischen Ländern kennt man das, Frankreich tut das gelegentlich.

    Hoyer: Ich glaube, wir sollten hierüber jetzt keine Spekulationen anstellen, weil die Regime in Nordafrika - und jetzt gehört auch Libyen dazu - gerne den Vorwand suchen, dass das ganze eine von außen gesteuerte Aktion sei, dass das Ausland dahinter stecke, um zu verdecken, dass es eine Revolution von innen ist, dass ihre eigenen Menschen nicht mehr mitmachen und dass sie sich auflehnen in einer teilweise unglaublich mutigen Revolution. Und deswegen sollten wir nicht spekulieren und denjenigen sozusagen Argumente an die Hand geben, die behaupten, es sei eine von außen gesteuerte Angelegenheit.

    Herter: Herr Hoyer, können Sie sich noch auf die Einschätzungen unserer Botschaften im arabischen Raum verlassen? Erst hieß es ja, da drohe kein Flächenbrand.

    Hoyer: Ich glaube, erst einmal leisten unsere Botschaftsangehörigen eine herausragend gute Arbeit. Wir müssen auch immer berücksichtigen, wenn sie sich jetzt um die Sicherheit unserer Landsleute vor Ort kümmern, sind sie selber in größter Gefahr. Deswegen verdienen sie unsere volle Unterstützung und Solidarität. Darüber hinaus muss man natürlich sehen, dass sehr wenige sich haben vorstellen können, dass diese autokratischen Regime in Nordafrika so schnell fallen würden, und es wäre auch sicherlich nicht möglich gewesen durch Druck von außen, sondern es ist möglich geworden durch die Erosion von innen, und das ist eine große, bewundernswerte Leistung der Völker, die dort auf die Straße gegangen sind.

    Herter: Herr Hoyer, noch ganz, ganz kurz: Müssen wir die deutsche und die EU-Außenpolitik nicht doch einer gründlichen Revision unterziehen?

    Hoyer: Es wäre sehr wünschenswert und sehr gut, wenn die Europäische Union endlich deutlicher und sichtbarer handlungsfähig wäre. Wir haben es gestern im Kreise der Mitgliedsstaaten, glaube ich, ganz gut hinbekommen. Wir werden in den nächsten Tagen da weiterarbeiten müssen. Aber Europa muss als wichtiger Akteur in der Region sichtbarer werden.

    Herter: Das war der Staatsminister im Auswärtigen Amt, Werner Hoyer, über die Ereignisse in Libyen und der arabischen Welt. Herr Hoyer, vielen Dank und schönen Tag.

    Hoyer: Vielen Dank!

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