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"Zweinutzungshuhn"
Züchten statt Schreddern

Pro Jahr werden Millionen männlicher Küken geschreddert. Ihre Aufzucht rechnet sich nicht in der Geflügelproduktion. Die Tierärztliche Hochschule Hannover hat nach einer Lösung des Problems geforscht - und jetzt ein "Zweinutzungshuhn" vorgestellt.

Von Alexander Budde |
Viele weiße Hühner mit roten Kamm und Kehllappen in der Nahaufnahme.
Wenn die Küken nicht mehr geschreddert werden: männliche Masthühner auf dem Lehr- und Forschungsgut Ruthe. (picture alliance / Sonja von Brethorst)
"Hej, da bist Du ja schon! Komm mal her! Ei, na komm mal her! Seid nicht so faul!" Zutraulich ist das Zweinutzungshuhn: Eine Henne pickt entzückt in die Gummistiefel der Besucher, eine andere lässt sich von Christian Sürie anstandslos vom sandigen Boden des Versuchsstalls aufklauben und zärtlich durchs Gefieder streichen.
"Sie sind neugierig, sie testen das jetzt durch – aber diese Henne zeichnet sich auch dadurch aus, dass sie im Vergleich zu den hochleistenden Hybriden deutlich ausgewogener im Charakter und deutlich entspannter im sozialen Umfeld, also innerhalb der Herde, ist."
Sürie leitet das Lehr- und Forschungsgut Ruthe. Es liegt ein paar Kilometer südlich der Landeshauptstadt, und wird von der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover bewirtschaftet.
"Kompromiss-Huhn" wäre auch ein guter Name
Der Begriff Zweinutzungshuhn beschreibt eine Hühnerrasse, die sowohl für die Eier- als auch für die Fleischproduktion gehalten werden kann.
"Kompromiss-Huhn" wäre auch ein guter Name, denn gesucht werden letztlich Allrounder: Wenn die Tiere in der Mast wie auch beim Eierlegen genügend Ertrag erwirtschaften, können sowohl Hennen als auch Hähne aufwachsen und vermarktet werden. Zu diesem Zweck orientieren sich die Forscher in ihrer Zuchtlinie daran, wo ursprüngliche Hühnerrassen schon einmal waren:
"Eigentlich gehen wir jetzt im Zeitfenster 50 Jahre zurück. Früher hatten wir Hühner, die haben Eier gelegt, und die männlichen wurden geschlachtet und als Braten gegessen. Die Legeleistung war nicht toll und der Fleischanteil an so einem Hahn war auch nicht so überragend. Und dann hat man gesagt: Okay, wir brauchen Spezialisten!"
Genau solche Spezialisten sind moderne Hybridhühner. Aus verschiedenen Rassen wurden die idealen Eigenschaften herausgepickt: In der Mast geht es darum, dass die Tiere besonders schnell viel Fleisch ansetzen. Anders der Schwerpunkt bei den Legehennen, wo nur die weiblichen Tiere zum Eierlegen weiterleben dürfen. Auf weit über 300 Eier im Jahr bringt es eine mit hochwertigem Kraftfutter ernährte Turbo-Henne.
Die männlichen Küken haben in der Logik dieser Spezialisierung keinen Wert: Weil sie mit ihrer zierlichen Statur nicht genug Fleisch für die Mast ansetzen, werden sie gleich nach dem Schlüpfen getötet.
Viele kleine gelben Küken in einem Stall.
Sie dürfen leben: Masthühner-Küken auf dem Forschungsgut Ruthe. (picture alliance / dpa / Tierärztliche Hochschule Hannover / Sonja von Brethorst)
Mit Kameras und Sensoren überwachte die Forschergruppe vier Jahre lang die Entwicklung ihrer Zweinutzungshühner. Verhalten und Gesundheit, Knochen und Muskulatur, Futterverbrauch und Umweltbelastung: Tag und Nacht wurden Daten gesammelt – und mit den Befunden aus der Kontrollgruppe aus gewöhnlichen Hybriden verglichen. Die Küken zogen die Forscher jeweils selbst vor Ort auf. Die verschiedenen genetischen Einflüsse erkennen Fachleute wie Sürie schon an der Gangart ihrer Tiere:
"Hier steckt zum Beispiel ein Zwerghuhn mit drin. Ich finde, sie sehen ein bisschen so aus, wie ein kleiner Sumo-Ringer, ganz kurze Beine, aber ein relativ gedrungener Rumpf. Das ist wiederum jetzt ein positiver Aspekt für den Hahn, denn der soll ja kompakt und fleischig sein, und soll eine ausgeprägte Brustmuskulatur haben."
Der Verbraucher will es billig
Bis zur Schlachtreife brauchen Zweinutzungshähne allerdings doppelt so lang wie normale Masthähnchen – nämlich 64 statt 32 Tage. Auch bei den Hennen fordert der Tierwohl-Aspekt betriebswirtschaftlich empfindliche Einbußen: Sie legen im Vergleich zu den normalen Legehybriden etwa 60 Eier pro Jahr weniger.
Und wie kommt das Projekt bei den Verbrauchern an? Kaum einer der Befragten wäre bereit, auf der Fleischseite höhere Produktionskosten zu kompensieren, erläutert Silke Rautenschlein von der Klinik für Geflügel der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover.
"Da wird der Mehrwert, den unser Zweitnutzungs-Hahn mit sich bringt, und auch die bessere Qualität unglücklicherweise nicht gewürdigt. Und das bedeutet eben, dass unsere Henne letztendlich züchterisch noch etwas weiter entwickelt werden müsste, um ein bisschen mehr Eier zu legen, um dann den Hahn mitfinanzieren zu können."
Friedrich-Otto Ripke, der Vorsitzende der Niedersächsischen Geflügelwirtschaft (NGW), begrüßt das Forschungsprojekt im Interview mit dem NDR grundsätzlich als wichtigen Beitrag. Die Geflügelhalter wollen das Kükentöten beenden – sie hoffen allerdings auf eine andere Lösung:
"Es ist ein Projekt, das mit der Geschlechtsbestimmung an Bedeutung verlieren wird, wenn wir die Geschlechtsbestimmung im Ei eines Tages können, ich hoffe noch Ende des Jahres, vielleicht Anfang nächsten Jahres. Dann kann man ja schon sehr früh im Ei bestimmen, ob man nun Hennen daraus werden lassen will - oder eben die Hähne nicht mitnimmt und auch nicht ausbrütet."
Innerhalb von 21 Tagen entwickelt sich ein Embryo im Ei zu einem vollendeten Küken, das sich mit dem eigenen Schnabel aus der Schale kämpft. Neue Verfahren zur Geschlechtererkennung sollen in Kürze marktreif sein. Noch vor dem neunten Bruttag sollen die Eier mit einer Sonde angebohrt, das Geschlecht bestimmt und die Hähne aussortiert werden.
"Hahn und Henne gehören zusammen. Punkt."
Carsten Bauck fragt sich allerdings, wo aus ethischer Sicht der Fortschritt sein soll, Lebewesen statt als frischgeschlüpfte Küken bereits als Embryonen zu entsorgen:
"Das ist der perfideste Weg und die mit großem Abstand gemeinste Kundentäuschung, die wir da überhaupt machen können! Alle Menschen, die mal für den Paragrafen 218 auf die Straße gegangen sind, müssen eigentlich rebellieren. Ich möchte nicht entscheiden müssen, wann lebenswertes Leben anfängt – und das 45 Millionen mal! Und wir müssen dazu übergehen, dass wir den Menschen wieder deutlich machen: Hahn und Henne gehören zusammen. Punkt."
Biolandwirt Bauck ist Mitbegründer der Bruderhahn-Initiative, ein Zusammenschluss von Landwirten und Handel. Seit 2013 machen Bauck und seine Mitstreiter vor, dass sich Bruderhähne zumindest in der Nische der Demeter-Höfe kostendeckend aufziehen und vermarkten lassen. Finanziert wird die Initiative über einen Aufschlag von vier Euro-Cent. Die Kunden zahlen ihn pro Ei, damit für jede Henne ein Hahn aufgezogen wird.
Zwei bis drei Cent Aufschlag auf das Ei müssten es auch beim Zweinutzungshuhn schon sein, rechnet Christian Sürie vor. Der Forscher betont, dass der Prototyp von der Marktreife noch ein Stück entfernt sei. Der sandfarbene Ton und die bescheidene Größe der Eier deckten sich noch nicht mit der Präferenz der deutschen Verbraucher, sagt er. Doch auch die sieht er gefordert, um das sinnlose Töten möglichst rasch zu beenden:
"Tierschutz kostet natürlich Geld, Tierwohl kostet Geld. Da muss der deutsche Kunde konsequent bereit sein, nicht immer nur zu fordern, sondern da muss er auch was bringen. Denn es nicht eine Frage der Landwirtschaft, es ist eine gesamtgesellschaftliche Frage: Wo soll es hingehen? Und da brauchen die Landwirte auch Planungssicherheit!"