Leonie Biallas war 14, als die Rote Armee im Februar 1945 in ihr Dorf im Westen des schlesischen Breslaus kam. Mehrmals sei sie von Soldaten vergewaltigt worden, auch ihre Mutter sei Opfer gewesen. Einmal hätten Soldaten beide im gleichen Raum vergewaltigt. "Ich habe mich vor meiner Mutter und für meine Mutter geschämt", sagte Biallas. Wenn das Thema später angesprochen worden sei, sei es furchtbar für sie gewesen. Vor allem wenn Fragen gekommen seien wie: "Bist du auch genommen worden?". Das Wort "vergewaltigt" habe damals niemand in den Mund genommen.
Die heute 84-Jährige betonte jedoch: "Es gab nicht nur böse Russen, sondern auch gute, die mir zur Flucht verholfen haben." Sie habe die Erlebnisse nur verkraftet, weil sie eine glückliche Kindheit gehabt habe, ihre Mutter an ihrer Seite gewesen sei und ihre Freunde und ihr Mann ihr langes Schweigen zu dem Thema akzeptiert hätten. Inzwischen hat Biallas das Buch "Komm, Frau, raboti" über die Geschehnisse damals geschrieben.
Das Interview in voller Länge:
Sandra Schulz: Jetzt ist es fast genau 70 Jahre her, dass Nazi-Deutschland kapitulierte. Sie werden in den kommenden Tagen viel hören zum 70. Jahrestag der Befreiung, zum 8. Mai, zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Wir wollen in den kommenden Minuten über ein Thema sprechen, das jahrzehntelang praktisch nicht existiert hat: Die Massenvergewaltigungen 1945, verübt von Soldaten in den letzten Monaten des Krieges, von Soldaten der Roten Armee, aber auch von Amerikanern, Franzosen und Briten. Historiker gehen davon aus, dass in Deutschland zwei Millionen Frauen von Soldaten der Sowjetunion vergewaltigt worden, und eine von ihnen ist Leonie Biallas. Vor einigen Jahren hat sie ihr Buch "'Komm, Frau, raboti': Ich war Kriegsbeute" veröffentlicht, in dem sie ihre Geschichte erzählt und auch über unzählige Vergewaltigungen schreibt. Anfang 1945 ist sie 14 und als die Rote Armee im Februar Malkwitz erreicht, ein Dorf im Westen des schlesischen Breslau, mit der näher rückenden Befreiung, da beginnt ihre Leidensgeschichte, und davon hat die heute 84-jährige Leonie Biallas uns jetzt noch einmal erzählt. Schon vor diesem Tag im Februar 1945 hat sie in der Nacht kein Auge zutun können.
Leonie Biallas: Auf der Straße zog die Kolonne vorbei mit Panzern und LKW und PKW, also mit Militärfahrzeugen. Ein Russe steigt aus, also die ganze Truppe kam zum Stehen. Einer steigt aus und kommt auf das Haus zu, und ja, da ist es das erste Mal passiert, und ich bitte zu verstehen, dass ich darüber nicht reden kann. Das letzte Mal - das war erst vor 14 Tagen bei einer Lesung; ich habe es nicht selber gelesen, aber meine Verlegerin hat es gelesen. Ich habe gezittert und ich habe gesagt, ich werde es nie mehr lesen oder auch in meiner Anwesenheit lesen lassen.
Wir haben uns dann sehr lange versteckt auf einem Oberboden und irgendwann einmal ging das nicht mehr. Dann hat meine Mutter mir die Haare abgeschnitten, damit ich wie ein Junge aussah, aber auch da wurde ich entdeckt. Dann habe ich bei meinem Onkel im Keller geschlafen, das war auch ein Versteck. Nachts hat mich eine Taschenlampe geblendet. Es waren ganz viele im Keller, aber ich war ziemlich dicht an der Treppe, an der Kellertreppe, und dann wurde ich von zwei Soldaten herausgezerrt.
Eine andere Situation war, als auch Soldaten kamen, mich packten und meine Mutter sagte, lasst sie doch, sie ist doch noch ein Kind. Das war sogar ein Offizier. Dann lässt der mich los und ein anderer Kamerad nimmt mich, also einer meine Mutter und einer mich, und da war ich zusammen mit meiner Mutter, in einem Zimmer wurden wir beide vergewaltigt.
"Das Problem kam eigentlich, als ich meinen Mann kennenlernte"
Schulz: Wie haben Sie all das verkraftet?
Biallas: Ich weiß nicht, was meine Mutter erlebt hat, wie vielen sie ausgeliefert war. Sie hat nie darüber gesprochen, nicht dort und auch später nicht. Verkraftet habe ich es eigentlich: Zuerst mal hat man gar nicht darüber nachgedacht. Wir hatten andere Probleme. Dann hatten wir Hunger. Da war der Hunger und das war dann so das Wichtigste. Das Problem kam eigentlich, als ich meinen Mann kennenlernte. Ich habe auch vorher schon. Ich habe ihn kennengelernt, da war ich 19 Jahre alt. Ich habe auch vorher schon Jungs kennengelernt, aber ich habe keinen an mich rangelassen. Es war einfach Tabu, das Thema. Da habe ich dann gar nicht mehr daran gedacht, und dann lernte ich meinen Mann kennen.
Schulz: Das war dann 1950, fünf Jahre nach dem Krieg.
Biallas: Ich habe ihn 1949 kennengelernt. Wir sind ja nicht geflüchtet, weiter geflüchtet, sondern vertrieben worden nach Quakenbrück. Als ich meinen Mann kennenlernte, da hat man noch gesagt, man geht unschuldig in die Ehe. Da war das erst kein Thema. Aber irgendwann haben wir uns verlobt und ich hatte da eigentlich keine Probleme. Ich hatte jetzt nur Angst, wie ist seine Reaktion. Ich hatte vor der Verbindung keine Angst.
Ich wollte dann irgendwann. Ich war dann inzwischen 20, war verlobt, und er hat sich aber sehr zurückgehalten. Und dann habe ich irgendwann einmal gesagt, ich muss mit ihm sprechen, und das war ganz wichtig. Er hat mich in den Arm genommen. Er hat geschwiegen, während ich gesprochen habe. Er hat nichts gefragt. Er hat mich in den Arm genommen und hat gesagt, wenn Du nicht willst, musst Du mir nicht mehr erzählen, brauchst Du auch nie mehr davon zu reden, aber wenn Du es möchtest, dann bin ich immer bereit, Dir zuzuhören.
Ich wollte dann irgendwann. Ich war dann inzwischen 20, war verlobt, und er hat sich aber sehr zurückgehalten. Und dann habe ich irgendwann einmal gesagt, ich muss mit ihm sprechen, und das war ganz wichtig. Er hat mich in den Arm genommen. Er hat geschwiegen, während ich gesprochen habe. Er hat nichts gefragt. Er hat mich in den Arm genommen und hat gesagt, wenn Du nicht willst, musst Du mir nicht mehr erzählen, brauchst Du auch nie mehr davon zu reden, aber wenn Du es möchtest, dann bin ich immer bereit, Dir zuzuhören.
Schulz: Das Thema war ja auch Tabu in vielen Familien. Es war ein gesellschaftliches Tabu über Jahrzehnte. War das was, was für Sie die Verarbeitung eher schwieriger gemacht hat, oder war das was, was es erleichtert hat?
Biallas: Ich konnte das nicht haben, wenn darüber gesprochen wurde. Es wurde ja schon damals darüber gesprochen: Bist Du auch genommen worden? Die haben nie gesagt, vergewaltigt worden. Bist Du auch genommen worden? Sie haben über mich gesprochen, und das fand ich furchtbar. Was ist denn mit dem Kind passiert, haben sie meine Mutter gefragt. Das war wirklich schlimm. Ich habe mich geschämt! Ich habe gedacht ... Man fühlt sich schuldig.
"Wir haben nie darüber gesprochen"
Schulz: Sie sind auch in die Situation gekommen, dass Sie zusammen mit Ihrer Mutter in demselben Raum vergewaltigt wurden. Das ist nie Thema gewesen zwischen Ihnen?
Biallas: Wir haben nie darüber gesprochen. Ich habe mich sogar vor meiner Mutter geschämt und für meine Mutter geschämt. Ich weiß nicht, ob Sie verstehen, wie das ist. Wir haben dann da auch geschlafen. Es war nicht so, wie manche erzählen, wie es das erste Mal war, dass er kam und wieder ging. Es waren immer so Situationen, dass wir oft, auch als meine Mutter da war, geschlafen haben. Wir sind früh aufgestanden und dann war noch meine Tante und mein Bruder, die das alle wussten, und das war furchtbar für mich.
Schulz: Und dann, 50 Jahre danach, haben Sie alles aufgeschrieben. Warum?
Biallas: Dann habe ich es aufgeschrieben und ich wollte es nur für meine Familie aufschreiben. Ich hatte ja keine Ahnung, wie man ein Buch fabriziert. Ich bin dann einfach zu einer Druckerei gegangen und habe das Manuskript mitgenommen. Die haben mir aber dann geholfen, also beraten, und die haben schon gesagt - ich wollte nur 50 -, warum wollen Sie das nicht veröffentlichen. Und dann habe ich gesagt, nein, das möchte ich nicht, das ist mir zu intim. Und dann sagte er, machen Sie doch ein Pseudonym. Dann habe ich gesagt, wenn ich dann eine Lesung mache, jeder kennt mich, dann wissen sie es sowieso, also was soll das dann.
"Sonst wäre ich auch in Russland gelandet vier Jahre"
Schulz: Da hatte das gesellschaftliche Tabu ja sozusagen noch Bestand. Das haben Sie alles dann in diesem Jahrtausend veröffentlicht und da gab es ja auch dann mit dem Kinofilm "Anonyma" eine breitere Diskussion zum ersten Mal. Das finden Sie jetzt aber gut oder das hilft Ihnen jetzt wiederum auch weiter?
Biallas: Ja.
Schulz: Es sind jetzt ja 70 Jahre her, seitdem Sie das alles erlebt haben.
Biallas: Ja.
Schulz: Gibt es eine Schlussfolgerung, die Sie ziehen, die Sie jetzt auch den jüngeren Generationen mit auf den Weg geben wollen?
Biallas: Ja, gibt es. Erstens mal finde ich es gut, dass ich auf meiner Lesung zwei Jugendliche hatte, die die Bücher hatten, auch noch eins von meiner Freundin. Die ist auch Zeitzeugin, aber nicht vergewaltigt worden, aber hat das Kriegsende eben auch mit Bomben und so erlebt. Die haben alle drei Bücher gekauft, meine beiden und ihres, und haben gesagt, sie brauchen das für den Geschichtsunterricht, und das finde ich ganz wichtig. Und die haben gesagt, das haben wir ja nicht gewusst und das haben wir uns nicht vorstellen können und wie haben Sie das verkraftet. Dann habe ich gesagt, ich habe es dadurch verkraftet, dass ich eine glückliche Kindheit hatte, dass meine Mutter immer an meiner Seite war und dass ich immer Freunde gefunden hatte und auch meinen Mann, die das Schweigen akzeptiert haben. Mich hat nie jemand gefragt von der Familie. Vielleicht haben sie meine Mutter gefragt, ich nehme es an, mich nie. Sie haben alle gewartet, bis ich von selber das gemacht habe. Das hat mir geholfen und auch jetzt, dass wieder darüber gesprochen wird. Und was noch ganz wichtig ist, die Botschaft, die ich sagen möchte: Es waren nicht nur böse Russen, sondern auch gute, die mir geholfen haben, die mir zur Flucht geholfen haben. Sonst wäre ich auch in Russland gelandet vier Jahre und auch anders. Es hat auch gute gegeben.
Schulz: Sagt die 84-jährige Leonie Biallas. 1945 gehörte sie zu den Frauen, die zum Kriegsende Opfer von Massenvergewaltigungen geworden sind.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.