"Da bin ich geboren. Das ist Pillau. Und hier ein Stückchen rüber, da haben uns die Russen rausgeholt."
Leni Neumann zeigt auf ein unscharfes Foto in ihrer Hand. Sie erzählt von ihrer Kindheit in Ostpreußen. An ihrer Wohnzimmerwand in Mönchengladbach hängen noch weitere ähnliche Fotos. Die Russen hatten Familie Neumann im April 1945 von Pillau nach Königsberg getrieben. Nach dem Krieg herrschte grausamer Hunger. Die Menschen aßen, was sie fanden: auch Unkraut und tote Tiere.
"Oder wenn ein Russe eine Apfelkitsche wegwarf, sind wir mit zehn Mann drüber hergefallen."
Leni Neumann ist trotz ihrer 81 Jahre eine drahtige, flinke Frau. Flink war sie schon als 14-Jährige, als sie sich von Königsberg nach Litauen durchschlug.
"Der Zug ging bis Moskau und wir haben uns aufs Dach gelegt oder unter den Waggon. Da waren so Wasserkessel und da haben wir uns drunter gelegt. Die Russen durften uns ja nicht sehen, da wären wir dran gewesen. Einmal haben sie mich aus dem Zug geschmissen. Na, gut es war Winter, da bin ich in so 'n Schneegraben gelandet."
Abgemagert, kahl geschoren, als Junge verkleidet
Denn nach dem harten Winter 1946/47 gibt es im nördlichen Ostpreußen gar nichts mehr zu essen. Leni Neumann ist abgemagert, ihr Kopf kahl geschoren, sie trägt eine Mütze und wattierte Jacke, damit sie wie ein Junge aussieht, um nicht vergewaltigt zu werden. Sie ist allein. Zwei ältere Schwestern sind vor Kriegsende in den Westen geflüchtet. Ihre Mutter starb an Typhus. Ein Jahr später sterben die vier jüngeren Geschwister und der Vater.
"Regelrecht verhungert. Fünf Stück in einem Monat. Wenn wir wenigstens Grünzeug gehabt hätten. Dann hätten wir was zu kauen gehabt. Aber nichts, gar nicht! Also, wie die alle gestorben sind. Da ist die Liebe gegangen, die Hoffnung gegangen, da ist alles gegangen. Ich hab keine Gefühle gehabt für irgendwas."
In Litauen will das verkleidete Mädchen betteln. So wie rund 20.000 andere deutsche Kinder und Jugendliche. Ohne Eltern versuchen sie, dort zu überleben, geben sich lettische Namen, lernen die Sprache. Wer als Deutscher auffällt, riskiert, vertrieben zu werden. Später nennt man diese kleinen Deutschen "Wolfskinder". Leni Neumann geht zu Bauern aufs Land. Meistens allein.
"Das einzige, was wir hatten war ein Stückchen Brot, dann hatten wir Glück gehabt. Wir haben dann im Garten auch schon mal Gurken geklaut. Wir wurden satt und das war die Hauptsache. Und wir haben viel geschlafen."
Draußen unter Stroh, auf Feldern oder in Wäldern. Etliche der Wolfskinder kommen bei ihren Streifzügen ums Leben oder werden misshandelt. Einige finden zumindest vorübergehend eine Bleibe bei Bauern. Dort arbeiten sie auf den Feldern oder im Stall. Auch Leni Neumann hat Glück, trifft auch Menschen, die ihr helfen.
"Wenn sie uns kommen sahen, hatten sie schon was in der Hand. Und dann war auch klar, die waren ja überlaufen durch uns Deutsche. Ich hatte, das Gefühl, das war ich meiner Mutter schuldig, dass ich ihre ältesten Mädchen noch mal aufsuche und sage was passiert ist. Das war immer der Gedanke: Ich muss dahin. Ich muss das denen sagen."
Schreckliche Erfahrungen prägen fürs Leben
Aber die Schwestern können ihr nicht genügend Nestwärme geben. Leni fühlt sich allein gelassen mit ihren schrecklichen Erfahrungen. Es fällt dem Mädchen schwer, sich im Westen anzupassen. Es kommt ins Heim, reißt aus, vagabundiert. Jahre später aber wendet sich ihr Schicksal zum Guten.
"Mein Mann, der war eigentlich der, der mir noch mal den Mut zu leben gegeben hat."
So richtig unbeschwert ist Leni Neumann jedoch nie wieder.
"Nach außen spiele ich die Lustige, aber innerlich weine ich. Selbst heute werde ich nachts wach und höre meine kleine Schwester weinen und rufen."