"Ich spreche davon, weil die Erfahrung des Krieges ein Licht auf die gegenwärtige polnische Politik wirft. Ein großes Bemühen im Lande ist es, die Sicherheit zu gewähren. Dies ist die Lehre, die Polen weniger aus seiner Geschichte als aus seiner geopolitischen Lage zieht, die uns 1939 zum Verhängnis wurde."
Jerzy Margański, Botschafter der Republik Polen in Berlin ließ keinen Zweifel: Die Erinnerung an Hitlers Überfall am 1. September 1939, dem nur 16 Tage später der Einmarsch der Roten Armee folgte, spielt bis heute eine eminent politische Rolle im Land. Die Sicherheitsfrage stelle sich angesichts der Kämpfe in der Ost-Ukraine mit voller Brisanz erneut, sagte Margański und forderte unverhohlen die Stationierung von NATO-Truppen im Osten Polens. Neu war diese Forderung ebenso wenig wie die Feststellung des Freiburger Historikers Ulrich Herbert, dass heute wissenschaftliche Einigkeit über Ausbruch, Verlauf und Folgen des Zweiten Weltkriegs herrsche. Als alarmierend muss hingegen Herberts Schlussfolgerung daraus gelten.
"Das führt dazu, dass dieser Krieg seine Bedeutung als zentraler oder sogar alleiniger Ausgangspunkt und Bewertungsbezug gegenwärtiger gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen verliert und vorwiegend zum Gegenstand allein historischer Betrachtungen wird. Dadurch aber, so mein Eindruck, wird der Blick auf die Furchtbarkeit dieses Krieges und den in diesem Kontext begangenen Massenverbrechen in dem Maße intensiviert und präzisiert, als die politische Instrumentalisierung dieser Ereignisse abnimmt."
Imagination aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft
Ulrich Herbert verstieg sich zu der Behauptung, dass das öffentliche Gedenken an den Krieg neben dem wissenschaftlichen Konsens über die historischen Geschehnisse nur eine untergeordnete Rolle spiele. Zu Zeiten, in denen russische Kampftruppen zum Schutz von "Volksgenossen" vor der vermeintlich "faschistischen Junta" in Kiew in die Ukraine einmarschieren, muss Herberts Einschätzung als pure Imagination aus dem Elfenbeinturm der Wissenschaft erscheinen. Der Warschauer Historiker Włodzimierz Borodziej wagte es wenigstens, gegenüber Herberts Traum von friedlicher Einigkeit nationale Sensibilitäten des Gedenkens an den 1. September 1939 ins Spiel zu bringen.
"Im Sommer 2014 dominiert der russische Schatten über Tallin, Riga und zu einem gewissen Grad auch Vilna eindeutig das Gedenken. Das Drehbuch scheint nach dem Krieg um die Ost-Ukraine festzustehen. Russische Minderheit, ein Hybrid-Krieg, angebliche Einkreisung durch den Westen, letztlich der Kampf gegen den wiederauflebenden Faschismus, wie Wladimir Putin ihn gerade am Freitag wieder beschworen hat."
Nur ansatzweise neue Perspektiven
So geriet die Veranstaltung, die von der Bundestiftung "Erinnerung, Verantwortung, Zukunft" organisiert worden war, auf weiten Strecken zu einer Alibi-Diskussion, in der man sich gegenseitig der hehren Harmonie in der europäischen Erinnerungskultur zu versichern suchte. Allein der australische Historiker Nicholas Stargardt von der Oxford-University präsentierte eine historisch ansatzweise neue Perspektive, in dem er den Zweiten Weltkrieg als "deutschen Krieg" beleuchtete.
"Die Söhne sollten schaffen, woran ihre Väter gescheitert waren. Es lag an Ihnen, den Teufelskreis ständiger Wiederholung zu durchbrechen, der jede Generation dazu verdamme, in Russland zu kämpfen. Während linke und liberale Denker die Geschichte unter dem Gesichtspunkt des Fortschritts sahen, glaubten Konservative, dass sie zyklisch und in Form von Wiederholungen verläuft."
Es wäre viel Platz gewesen, um über die derzeitige Wiederkehr dieser zyklischen Geschichtsauffassung in Ost-Europa und in Russland zu sprechen. Oder über die Bedeutung der Anhänger des einstigen Nazi-Kollaborateurs Stepan Bandera für den inner-ukrainischen Konflikt heute. Stattdessen zog Ulrich Herbert aus Hitlers Vernichtungskrieg am Ende ein "positives Fazit", da er einen "antitotalitären Grundkonsens" in fast allen europäischen Staaten etabliert habe – "in welcher Interpretation auch immer".