Eine Frau, die ihren Mann verloren hat, weil er untergetaucht ist und versucht, sein altes Leben abzulegen. Ein Junge, der, von Propaganda verblendet, an der Nazi-Ideologie festhält, ein junges Mädchen, das schreckliche Dinge mit ansehen muss und dennoch über allem schweben kann. Und ein fahrender Artist, den es plötzlich nicht mehr wegzieht. In ihrem gemeinsam verfassten Roman "Trümmertänzer" entfalten die Autoren Gabriele Kosack und Günter Overmann die Lebenswege ihrer Protagonisten vor dem Hintergrund der ersten Wochen nach Ende des Zweiten Weltkriegs.
Die Handlung spielt im zerbombten Berlin und beginnt kurz vor der Kapitulation Ende April 1945, als alles in Trümmern liegt. Die Russen haben die Stadt eingenommen, während die Amerikaner bei Magdeburg die Elbe erreichen. Mitten drin: Mathilde Tegge. Sie harrt mit ihrer Tochter Karla in ihrer Steglitzer Wohnung aus. Von ständiger Todesangst begleitet, versucht Mathilde, sich mit der 14-Jährigen alleine durchzuschlagen. In der Wohnung wird es allmählich eng. Denn Mathildes Schwester Heidrun sucht dort mit ihrer Familie Unterschlupf. Während Heidrun genau weiß, wie man Andere für die eigenen Belange instrumentalisiert, verlässt sich Mathilde nicht auf fremde Hilfe, sondern kämpft als Trümmerfrau ums Überleben. Jeden Tag steht sie in ihrem einzigen Paar Schuhe auf Schuttbergen, schleppt schwere Mauersteine und Beton und reibt sich ihre Hände wund.
"Was es wenig gibt, sind Romane über Trümmerfrauen. Das war die Grundidee: Wir schreiben einen Roman über eine Trümmerfrau."
Ohne das Durchhaltevermögen ihrer Hauptfigur Mathilde zu heroisieren, schildern Gabriele Kosack und Günter Overmann detailliert, wie widrig und gefährlich die Bedingungen waren, unter denen sich Frauen für den Wiederaufbau ihrer Städte einsetzten. Beim Lesen weht Einem der Staub der Schutthaufen regelrecht in die Augen. Das Autorenduo Gabriele Kosack und Günter Overmann verknüpft private Schicksale mit Geschichte. Dabei entstehen Szenen von filmischer Plastizität. Der Roman "Trümmertänzer" erfüllt beides: das Bedürfnis des Lesers nach geschichtlicher Aufklärung und literarischer Unterhaltung.
Kosack: "Ich glaube, womit man unterhalten kann ist, wie genau wir den Alltag der Menschen beobachtet haben. Wir haben sehr viel recherchiert, das hat auch großen Spaß gemacht beim Schreiben. Und deshalb sehe ich da in erster Linie ein Bild des Alltags. Wie geht man auf Hamsterfahrt, was ist dabei zu beachten, welche Mühsal hat gerade unsere Hauptfigur gerade eine Frau zu bleiben. Solche Details, darauf haben wir großen Wert gelegt."
Overmann: "Und was natürlich unterhält sind, in meinen Augen, große emotionale Situationen. Und die schafft man natürlich besonders in Krisenzeiten wie der unmittelbaren Nachkriegszeit, wo alles infrage steht. Was vorher galt, gilt jetzt nicht mehr ... und man muss damit jetzt zurechtkommen. Wenn da denn auch noch die Liebe hineinspielt, kommt man eben in große Schwierigkeiten und große Situationen und das ist, glaube ich, was unterhält."
Dichtes Beziehungsgeflecht der Romanfiguren
Die Hauptfigur Mathilde steht zwischen zwei Männern: Zum einen ist da ihr Ehemann Franz, der als Gestapo-Beamter auf der Flucht vor den Russen Berlin verlassen hat. Er will sich den Amerikanern stellen. Von ihnen erhofft er sich die Chance auf Überleben. Zum anderen lernt Mathilde Camillo Baumgartner kennen, einen Roma, der als Artist in Berlin geblieben ist, obwohl seine Familie von den Nazis ermordet wurde. Das Schicksal von Mathilde, Franz und Camillo ist eng miteinander verbunden. Camillo macht Franz für den Tod seiner Familie verantwortlich und sucht ihn zunächst vergeblich in Berlin. Der Seiltänzer verliebt sich in die Frau seines Feindes, eine Frau, die wie er Musik liebt und die er in einem Keller zum heimlichen Klavierspielen einlädt. Außerdem rettet er Mathildes Tochter Karla in den Trümmern das Leben, was ihn noch enger an Mathilde bindet.
In ausgefeilten Dialogen gestalten Gabriele Kosack und Günter Overmann das Beziehungsgeflecht zwischen den einzelnen Figuren sehr dicht.
Overmann: "Wir sind ja in unserem Brot- und Butterberuf Fernsehautoren. Und da gilt eben der Satz 'Show not tell'. Der gilt ja auch in diesem Genre von Literatur auch. Das heißt, wir versuchen, dann die Figuren eher in Situationen zu versetzen. Und wenn sie einen bestimmten Charakter haben, rennen wir ihnen hinterher und versuchen daraus, die Geschichte zu entwickeln."
Als Seiltänzer schwebt Camillo gleichsam über den Trümmern. Zusammen mit seiner Artistentruppe sorgt er mit einer beeindruckenden Show für etwas Abwechslung im tristen Berliner Trümmeralltag. In Gabriele Kosacks und Günter Overmanns Roman "Trümmertänzer" existiert Schönes und Schlimmes nebeneinander. Unterschiedliche Weltauffassungen prallen aufeinander. So unterschiedlich die einzelnen Figuren auch agieren - die Autoren bewerten die Beweggründe und Handlungsmotive der einzelnen Figuren nicht, weder Heidruns über das Kriegsende hinaus an der Ideologie der Nazis festhaltenden Sohn Frieder, noch Mathildes rebellische Tochter Karla.
"Frieder ist letztlich ein Porträt meines Schwiegervaters, weil eben sein Vater eng in die Geschehnisse des Nationalsozialismus verstrickt war, dann auf so einer Napula war, der uns erzählt hat, dass er im Mai 1945 eigentlich gedacht hat, das Volk war des Führers nicht wert und noch hat weiterkämpfen wollen, und der dann in den Jahren 1945/46/47 diesen persönlichen Entnazifizierungsprozess als 15- und 16-Jähriger machen musste."
Von einer strengen preußischen Erziehung dazu angehalten, seinen Pflichten als Frau nachzukommen, hält Mathilde an ihrem verschwundenen Ehemann Franz fest. Sie hat Angst, ihre Gefühle für Camillo zuzulassen, wird er doch als "Zigeuner" beschimpft und auch nach Ende des Nazi-Regimes mit Verachtung gestraft.
Overmann: "Die Vorurteile, die Stimmungen, die schon vor 1933 dazu geführt haben, dass der Nationalsozialismus möglich wurde, die haben natürlich nicht mit dem 8. Mai 1945 aufgehört, sondern zogen sich noch bis in die 1960er, teilweise bis in die 1970er hinein.
Kosack: "Mathilde ist unsere Leuchtfigur, unsere Galionsfigur, bei der wir die Entwicklung sehen, die sich ja wirklich auf macht. Sie kämpft für ihre Gefühle, sie kämpft aber auch wirklich, um zu verstehen, was passiert ist, sie kämpft auch für ihr Gewissen, sie kämpft mit und für ihre Schuld."
So beginnt Mathilde, über das Leben an der Seite ihres Mannes Franz nachzudenken. Wie viel Schuld hat er als Beamter der Gestapo wirklich auf sich geladen? Und welche Annehmlichkeiten hat seine Position ihrem eigenen Leben eingebracht? Was geschah in den Konzentrationslagern, und hat Franz Camillos Familie tatsächlich umgebracht? Vielleicht ist Franz sogar für das Schicksal des Bruders ihrer Freundin Lena mitverantwortlich. Fragen, über die Mathilde nie mit Franz gesprochen hat. Der ist längst in Sicherheit und arbeitet als Undercoveragent für die amerikanischen Besatzer. In ihrem Auftrag spürt er Naziverbrecher auf, und seien es seine Ex-Kameraden. Sein Ziel ist es, in die USA auszuwandern, Mathilde mit zu nehmen und ein neues Leben zu beginnen. Die Frage, ob er sich als Gestapo-Beamter mitschuldig gemacht hat, verdrängt Franz.
Overmann: "Ich glaube, dass viele Männer- und ich habe die in meiner Kindheit noch erlebt- so gestrickt waren, dass sie diese Frage überhaupt nicht an sich rangelassen haben."
Kosack: "Franz drängt es, und das denke ich, ist die verdrängte Schuld, weg, raus, Amerika! Mein Großvater war sehr involviert in die Schreckensherrschaft des Dritten Reichs, und seine drei ältesten Kinder sind erst mal aus Europa abgehauen nach dem Krieg. Während Camillo, der ja eigentlich der Fahrende ist, bleibt, um seine Rache zu vollenden. Und gleichzeitig findet er da etwas Neues in Mathilde, was er noch nie hatte. Wir haben da gespielt, wobei ich beim Schreiben immer wieder merke: Das ist mir gar nicht bewusst, dass ich da ein ganzes Gewebe von Symbolik aufbaue, dass dann einem Leser auffällt."
Kein moralischer Holzhammer
Das Autorenpaar Gabriele Kosack und Günter Overmann ist sich der Gefahr bewusst, über eine Zeit zu schreiben, die sie selbst unmittelbar nicht erlebt haben. Anmaßung und Besserwisserei, Geschichtsunterricht und moralische Unterweisung wären fehl am Platz.
"Es wird eben nicht mit dem moralischen Holzhammer rum geknüppelt. Ich finde, das ist auch die Demut der Nachgeborenen. Wie Bert Brecht es in seinem Gedicht an die Nachgeborenen so gut beschreibt. Wer von uns kann sich denn schon anmaßen zu sagen, wenn wir jetzt wieder eine Diktatur hätten, würde ich in den Widerstand gehen. Ich weiß es von mir persönlich überhaupt nicht, wie ich reagieren würde."
Das Autorenduo Overmann/Kosack wollte in "Trümmertänzer" mit den Mitteln filmischen Erzählens der Zeit und möglichen Schicksalen Einzelner so nahe kommen wie es geht. Das ist ihnen sehr gelungen. Den Lesern von "Trümmertänzer" begegnen farbig gestaltete und in ihrem Eigenleben äußerst widersprüchliche Figuren. Sie sind weder ausschließlich böse noch ausschließlich gut. Was Gabriele Kosacks und Günter Overmanns Roman "Trümmertänzer" vor allem lesenswert macht, ist die spannungsreiche und vielschichtige Handlung. Wer weiß, vielleicht wird ja einmal ein Film daraus.
Gabriele Kosack / Günter Overmann: "Trümmertänzer", Roman, Elster Verlag, 2013, 320 Seiten, 24 Euro.