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Zweiter Weltkrieg
Massenhafte Vergewaltigungen durch Siegermächte

Im Zweiten Weltkrieg kamen die Alliierten nicht nur als Befreier, sie vergewaltigten unzählige Frauen. Im kollektiven Gedächtnis sind vor allem die Russen als Täter abgespeichert - doch auch die Soldaten der West-Alliierten verübten massenhaft Sexualverbrechen, wie die Historikerin Miriam Gebhardt in "Als die Soldaten kamen" aufzeigt.

Von Otto Langels |
    Panzer der Alliierten fahren beim Vormarsch im März 1945 durch die Straßen der Stadt Kevelear.
    Panzer der Alliierten fahren beim Vormarsch im März 1945 durch die Straßen der Stadt Kevelear. (picture alliance / dpa / Pix Features, V. and P. Wickman)
    "Auf leisen Sohlen drangen sie ins Gericht und vergewaltigten mich und alle Frauen. Sogar die alte Leiterin, die ich heute noch schreien höre: Let me go, I am an old woman."
    So erinnert sich Jahrzehnte später eine Pfälzerin an die Ankunft amerikanischer Soldaten 1945 in ihrem Heimatort.
    Es ist inzwischen längst Gemeingut, dass russische Soldaten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs und auch noch lange nach der Kapitulation hunderttausende Frauen und Mädchen vergewaltigten. Untersuchungen aus den 1990er-Jahren, die allerdings auf einer dünnen empirischen Basis beruhen, gehen von rund 100.000 Fällen allein in Berlin aus sowie zahllosen weiteren Opfern in der sowjetischen Besatzungszone und den ehemaligen Ostgebieten.
    Amerikaner, Franzosen und Briten vergewaltigten massenhaft Frauen
    Kaum im kollektiven Gedächtnis ist hingegen verankert, dass auch Amerikaner, Franzosen und Briten massenhaft Frauen vergewaltigten. Die Konstanzer Historikerin Miriam Gebhardt hat für eine bemerkenswerte Studie umfangreiches Material über sexuelle Gewalt am Ende des Zweiten Weltkriegs zusammengetragen:
    "Was mir selbst auch unbekannt gewesen war, waren die Vergewaltigungen der GIs, die eigentlich nach dem gleichen Schema auch abgelaufen sind; also die meistens Hausdurchsuchungen gestartet haben, dann haben sie geplündert, Essensvorräte mitgenommen, Wertsachen, Souvenirs und dann eben sehr häufig auch gemeinschaftlich sich über die Frauen hergemacht. Und das konnte dann auch alle Frauen treffen."
    Bekannt ist zum Beispiel aus einer Studie des Historikers Marc Hillel über die französische Besetzung Deutschlands, dass französische Soldaten im Stuttgarter Raum 1.200 Frauen vergewaltigten, das jüngste Opfer war 14, das älteste 74. In Konstanz kam es zu 400 sexuellen Übergriffen, in Freudenstadt zu 500. Doch die vereinzelten Angaben ergeben kein verlässliches Gesamtbild. Lückenhaft sind auch die Zahlen zur US-Armee: Im Frühjahr 1945 standen 500 GIs wegen der Vergewaltigung deutscher Frauen vor Gericht. Daraus errechnete der amerikanische Kriminologe Robert Lilly in einer Untersuchung aus dem Jahr 2007 eine Gesamtzahl von 18.000 Vergewaltigungen, wobei er eine hohe Dunkelziffer von bis zu 95 Prozent zugrunde legte.
    Miriam Gebhardt geht einen anderen Weg: Sie hat in Archiven weitere Unterlagen zu den alliierten Besatzungssoldaten gefunden.
    "Es gibt tatsächlich für alle bundesdeutschen Länder Zahlen von Kindern, die durch Vergewaltigung gezeugt worden sind und auch mit der Nationalität der Väter. Und man weiß allgemein, dass ungefähr bei jeder hundertsten Vergewaltigung ein Kind zur Welt kommt."
    Aus diesen Angaben kommt die Autorin auf 190.000 sexuelle Übergriffe allein von GIs - also mehr als zehn Mal so viel wie Lilly - und auf 860.000 Vergewaltigungen insgesamt in Deutschland. Bei ihren Berechnungen geht sie davon aus, dass es im Westen genauso viele Opfer gab wie in Ostdeutschland, und sie vermutet, dass britische Soldaten weniger Frauen vergewaltigten als die Amerikaner. Doch belegen kann Gebhardt diese Annahmen nicht.
    "Also das, was ich dann am Schluss herausgefunden habe mit den 860.000, ist wirklich nur eine Schätzung, die auch eine Einladung ist an die Kollegen, mir zu sagen, was daran vielleicht ein Denkfehler sein könnte beziehungsweise auch, wie man es anders noch mal errechnen könnte."
    Genaue Zahl von Vergewaltigungen vermutlich nicht ermittelbar
    Die genaue Zahl wird sich jedoch vermutlich nie ermitteln lassen. Wenn Frauen massenhaft von amerikanischen Soldaten vergewaltigt wurden, warum existieren, im Unterschied zum Auftreten der Rotarmisten, kaum Berichte zu den GIs als Tätern? Warum gelten sie bis heute als sympathische Befreier mit amourösen, freiwilligen Beziehungen zu deutschen Frolleins?
    "Ich denke, die Rolle der westlichen Befreier war auch viel ambivalenter, mit denen waren viele Hoffnungen ja auch verknüpft, nämlich der Demokratisierung und des Wohlstands. Es war sehr viel schwerer, übereinzubringen, dass sie aber auch gleichzeitig vergewaltigt haben."
    Jenseits aller fragwürdigen Hochrechnungen hat Miriam Gebhardt ein bewegendes Buch geschrieben. Dem verbreiteten Klischee von den bereitwilligen Ami-Liebchen setzt sie ein verstörendes Bild brutaler sexueller Gewalt entgegen: Im bayrischen Moosburg notierte der Pfarrer in seiner Dorfchronik, dass 17 Mädchen und Frauen von - so wörtlich - "Negern" einmal oder mehrmals missbraucht und ins Krankenhaus eingeliefert wurden. Im Landkreis Freising requirierten GIs Zimmer, sperrten zehn bis 15 Frauen darin ein und wechselten sie wiederholt aus. Vergewaltigung war, wie Miriam Gebhardt eindrücklich beschreibt, ein massenhaftes Verbrechen, dem siebenjährige Kinder wie alte Frauen zum Opfer fielen; und dies, obwohl Militärgerichte teilweise drastische Strafen verhängten.
    Kaum Anerkennung und Empathie als Kriegsopfer
    Nach 1945 fanden die betroffenen Frauen kaum Anerkennung und Empathie als Kriegsopfer, denn sexuelle Gewalt war in Deutschland lange Zeit ein stark tabuisiertes Thema. Während einem deutschen Autofahrer bei einem Verkehrsunfall mit einem alliierten Jeep ein finanzieller Ausgleich zustand, konnte eine vergewaltigte deutsche Frau keine Entschädigung erwarten, es sei denn, sie hatte nach der Vergewaltigung ein Kind bekommen und war verheiratet. Dem deutschen Ehemann wollte man wohlgemerkt nicht zumuten, so der Hintergrund der Regelung aus dem Jahr 1956, für ein "Besatzerkind" aufkommen zu müssen.
    "Allerdings waren die Hürden dafür praktisch unüberwindbar, weil man musste nicht nur einen makellosen Leumund haben und durfte eigentlich keine alleinstehende junge Frau sein, noch dazu aus der Stadt oder evakuiert, sondern eine unschuldige Tochter des Bürgermeisters, dann hatte man noch eine gewisse Chance."
    "Als die Soldaten kamen" ist ein einfühlsam geschriebenes Buch für ein breites Publikum. Miriam Gebhardt berichtet von Müttern, die sich für ihre Töchter opferten, sie beschreibt Fälle von sexueller Sklaverei, sie schildert das Schicksal eines 14-jährigen Mädchens, das wochenlang immer wieder von Rotarmisten vergewaltigt wurde, sie erwähnt eine 82-jährige Greisin, die sich von dem, was man ihr antat, nicht mehr erholte. Viele Frauen begingen bereits vor der Ankunft der Roten Armee Selbstmord, weil sie die nationalsozialistische Propaganda von den "asiatischen Bestien" im Ohr hatten, manche brachten sich danach um, einige erlagen ihren schweren körperlichen Verletzungen. Die seelischen Verletzungen wirken bei vielen Überlebenden bis heute nach.
    Miriam Gebhardt: "Als die Soldaten kamen. Die Vergewaltigung deutscher Frauen am Ende des Zweiten Weltkriegs", Deutsche Verlags-Anstalt, München 2015, 352 Seiten, 21,99 Euro, ISBN 978-3-421-04633-8.