Die tödliche Fracht wog knapp viertausend Tonnen und wurde bei halbwegs klarer Sicht abgeworfen, in mehreren Wellen. Die Stadt in der Tiefe ging vielerorts in Flammen auf, durch die Bomben und das gewaltige Feuer wurde schließlich eine Fläche von insgesamt 35 Quadratkilometern zerstört - mehr noch als gut anderthalb Jahre zuvor in Hamburg. Die Luftangriffe der amerikanischen und britischen Alliierten auf Dresden am 13. und 14. Februar 1945 markieren einen traurigen Tiefpunkt in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs: Schätzungsweise 25.000 Menschen kamen bei dem sogenannten "Feuersturm" ums Leben, vor allem Zivilisten und Flüchtlinge. Die Bomber-Verbände flogen weitere verheerende Angriffe, etwa auf Pforzheim, Essen und Würzburg. Der britische Historiker Richard Overy vergleicht diese Offensive in den letzten Kriegsmonaten mit einem "entfesselten Orkan" und spricht von - Zitat - "übertriebener Gewalt". Er erklärt sie unter anderem mit der Angst der Alliierten vor einer neuerlichen deutschen Gegenoffensive, möglicherweise sogar mit chemischen Waffen. Auch der Drang nach Vergeltung habe eine Rolle gespielt:
"Die amerikanischen Luftstreitkräfte allein warfen zwischen Januar und April 1945 mehr als viermal so viel Bomben ab wie Deutschland in den zehn Monaten des ‚Blitz' auf England. Für beide alliierte Luftwaffen trug der Umstand, dass es in dieser entscheidenden Phase des europäischen Krieges möglich war, das ganze Potenzial ihrer Waffe unter Beweis zu stellen, wesentlich zur Bereitschaft bei, die Offensive auf die Spitze zu treiben, um dem Feind den Gnadenstoß zu versetzen. (S. 563)"
Bombenkrieg als militärische Option der Zeit
Damit ist auch eine der wichtigen Fragen benannt, um die Richard Overys große Geschichte des Bombenkrieges in den Jahren zwischen 1939 und 1945 immer wieder kreist: Warum befürworteten nicht nur die Diktaturen die strategischen Angriffe aus der Luft, sondern auch die politischen und militärischen Eliten der beiden großen liberalen Demokratien? Noch in der Zwischenkriegszeit wurde intensiv über international verbindliche Regeln für den sogenannten "Luftkrieg" nachgedacht: Die "Haager Luftkriegsregeln" von 1923 etwa sanktionierten jeden Angriff, der bewusst auf die Zerstörung zivilen Eigentums oder die Tötung von Zivilisten zielte - sie wurden aber von keinem Staat ratifiziert. Der Bombenkrieg, so zeigt Richard Overy, war nicht nur eine selbstverständliche militärische Konfliktbewältigungsstrategie der Moderne, sondern die militärische Option der Zeit. Entsprechend breit wurde darüber in der Öffentlichkeit diskutiert. Architekten, Ingenieure und Beamte entwickelten überall in Europa Pläne zum Schutz der Zivilbevölkerung vor Luftangriffen.
"Der Bombenkrieg nahm (...) zunächst weniger im Umfeld der Militärs als in den Vorstellungen der Öffentlichkeit Gestalt an, wo er sich im hellen Licht der allgemeinen Besorgnis weiterentwickelte, lange bevor die meisten Luftstreitkräfte überhaupt die Möglichkeit oder auch nur ein theoretisches Interesse daran hatten, sich ein strategisches Potenzial zuzulegen, das den Feind entscheidend treffen konnte. Natürlich blieben die Luftstreitkräfte nicht unberührt von den Bildern künftiger Kriege, die in der öffentlichen Diskussion gezeichnet wurden, denn die Luftmacht spielte in allen Voraussagen eine entscheidende Rolle. (S. 73)"
Verschiedene europäische Schauplätze des Luftkrieges
Mit der Zerstörung Guernicas im Spanischen Bürgerkrieg und schließlich mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 wurde der Bombenkrieg blutige Realität – und ein sich beständig radikalisierender Mechanismus. Richard Overy schildert die Entwicklung der verschiedenen Kriegsetappen detailliert und gestützt auf einen breiten Materialfundus, darunter etwa neu erschlossene Quellen der deutschen Luftwaffe zum sogenannten "Blitz" - zu den strategischen, weil vor allem auf die Industrie zielenden Luftangriffen gegen England. Die verschiedenen europäischen Schauplätze des Luftkrieges werden in einzelnen Kapiteln ausführlich beschrieben, die jeweiligen Etappen dabei immer auch kursorisch in die Gesamtgeschichte des Zweiten Weltkriegs eingebettet und – das ist eine große Stärke des Buches - mit einer ausführlichen Analyse der Zivilgesellschaften in den kriegführenden Ländern, den sogenannten "Heimatfronten", kombiniert. Insgesamt entsteht eine vielschichtige und wirklich europäische Perspektive, die viel Raum bietet für den Vergleich und sich nicht darauf beschränkt, die Bombenlast bei jeder neuen Offensive zu summieren. Richard Overy erzählt dabei auch von weniger bekannten Aspekten des Krieges in der Luft, etwa von den deutschen Bombardements auf sowjetische Städte, darunter Stalingrad. 1942 begann eine massive und verheerende Angriffswelle der Luftflotte 4 unter dem Kommando von Wolfram von Richthofen.
"Unterlagen der Luftwaffe beweisen (...), dass die Bomberflotte 1600 Einsätze gegen Stalingrad flog und rund tausend Tonnen Bomben abwarf, wenn auch wahrscheinlich innerhalb von sechs Tagen und nicht etwa allein an jenem 23. August. (...) Die Angriffe konzentrierten sich auf wichtige militärische, administrative und wirtschaftliche Ziele, zu denen auch die großen Öltanks am Wolgaufer zählten." (S. 303)"
Probates Mittel um Bevölkerung zu demoralisieren
In Großbritannien - und auch in den USA - wiederum galten die Luftangriffe zu dieser Zeit längst als probates Mittel, um die Bevölkerung des "Dritten Reiches" zu demoralisieren und ein Ende des Zweiten Weltkriegs zu bewirken. Zwei Dinge seien zu erreichen, heißt es in einem Memorandum der Royal Air Force vom Juli 1941: erstens Zerstörung und zweitens Todesangst. Beides wurde erreicht, der Krieg aber ging trotzdem noch fast vier Jahre weiter. Insofern ist die Bilanz der Luftangriffe desaströs – eine Tatsache, die übrigens auch vielen Zeitgenossen aufgefallen war, so auch dem Ökonomen John Kenneth Galbraith, der empfindlich registrierte, dass die deutschen Wirtschaftsbetriebe überhaupt nicht in dem Maße zerstört wurden, wie von Engländern und Amerikanern geplant. Die Hauptlast trug die Zivilbevölkerung in Europa. Der angeblich beste Krieg der Moderne erwies sich als fatales Debakel: Er konnte seine eigentliche Aufgabe nicht erfüllen und war moralisch kompromittiert, schreibt Richard Overy am Ende seines über 1.000 Seiten starken Buches. Es ist eine Geschichte von Brutalität und Zerstörung, ebenso aber von blinder Technikbegeisterung und Selbstüberschätzung der militärischen und politischen Eliten. Und es ist eine Geschichte, die vielfach neue Perspektiven eröffnet und deshalb zu den ganz wichtigen Darstellungen zu diesem Thema gehört.
"Der Bombenkrieg. Europa 1939 bis 1945". Aus dem Englischen übersetzt von Hainer Kober. 1056 Seiten sind bei Rowohlt erschienen und kosten 39 Euro 95.