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Zwergen-Perspektiven

"Der Geliebte der Mutter" und "Das Buch des Vaters" - das waren die beiden letzten Erfolge des Schweizer Schriftstellers Urs Widmer, zwei durchaus autobiographische Romane. Eine ganz andere Erzählerfigur tritt in seinem neuen Roman "Ein Leben als Zwerg" auf. Hier ist ein Zwerg der Held, ja sogar der Autor dieses Buches. Ein kleiner Zwerg aus Gummi, wie man ihn in einem Spielwarenladen kaufen kann.

Von Walter van Rossum |
    Verehrter Hörer, falls Sie sich in ihrem Leben noch nie besonders für Zwerge interessiert haben, und falls Sie wenig Lust verspüren sollten, sich mit der Existenz solcher acht Zentimeter großen Gummizwerge auseinanderzusetzen, dann geht es Ihnen so, wie es auch dem Verfasser dieser Zeilen noch vor wenigen Tagen ging.

    Doch dann machte ich - widerwillig zunächst, wie ich gerne einräume - die Bekanntschaft eines dieser Zwerge. Und ich darf Ihnen versichern, wenn auch Sie dem Lebensbericht von Vigolette alt ein wenig Gehör schenken, dann könnte Ihre Einstellung zu solchen Hartgummiexistenzen sich rasch ändern.

    Ich heiße Vigolette alt. Ich bin ein Zwerg. Ich bin acht Zentimeter groß und aus Gummi. Hinten, so etwas im Kreuz, hatte ich einmal ein rundes Etwas aus Metall, und wenn mir jemand, ein Mensch mit seinen Riesenkräften, auf den Gummibauch drückte, pfiff es. Pfiff ich. Das Metallding ist aber längst von mir abgefallen, und ich pfeife nicht mehr. Die Menschen - die Kinder der Menschen vor allem - denken, ich sei ein Spielzeug. Ein Spielzwerg. Sie haben recht, aber sie kennen nur die halbe Wahrheit. Wenn ein Menschenblick auf einen von uns fällt, auf einen Zwerg, wird er steif und starr und ist gezwungen, in der immer selben Haltung zu verharren. Eine Lebensstarre, die jeden von uns so lange beherrscht, als Menschenaugen auf uns ruhen. Sie überfällt uns eine Hundertstelsekunde bevor der Blick uns erreicht und verlässt uns ebenso sofort, wenn der Mensch wieder woanders hinblickt. (...) Wenn aber niemand schaut, sind wir Zwerge äußerst fix. Wir können wie Irrwische durch Wohnungen sausen, Tischbeine hinauf, Tischbeine hinunter, wir gehen die glatten Wände hoch, wenn es sein muß.

    Außerdem sind Zwerge gewissermaßen unsterblich. Es soll sogar welche geben, die sind Tausend oder Zehntausend Jahre alt. Nun, so alt ist Vigolette alt noch nicht zu dem Zeitpunkt, da er uns seine Lebensgeschichte erzählt. Man könnte sein Alter sogar ziemlich genau bestimmen. Doch da bei Zwergen das genaue Alter keine große Rolle spielt, genügt eine grobe Schätzung: Vigolette alt dürfte so Anfang bis Mitte sechzig sein.

    Es ist nämlich so mit den Zwergen: Ihr eigentliches Leben beginnt erst nach ihrer Schöpfung als Gummiform. Über die Schöpfung der Zwerge kursieren allerlei Gerüchte und Vermutungen. Die riskanteste und vermutlich ein wenig größenwahnsinnige Theorie über ihre Entstehung besagt, dass sie nicht nur zugleich mit dem Urknall entstanden, sondern sogar die Ursache des Urknalls seien.

    Die evolutionstheoretische Fraktion der Zwerge vermutet hingegen eine Abstammung vom Menschen, der demzufolge ein aus dem Ruder geratener Zwerg sei. Ein eher nüchtern materialistisch gesonnener Kopf wie Vigolette alt hingegen sieht den Ursprung seiner Gattung eher in den Produktionsverhältnissen, das heißt, er sieht an seinem Ursprung die Herstellung in einer Fabrik unter Akkordbedingungen. Doch mit der Erschaffung seiner Hartgummihülle beginnt ein Zwergenherz noch lange nicht zu schlagen:

    Meine Erinnerung setzt - wie die all meiner Freunde - jäh und deutlich ein, als habe jemand einen Schalter in mir gedrückt. Plötzlich sah ich. Ich hörte. Ich fühlte. Eine ungewöhnliche Wärme durchströmte mich, eine Hitze, ein überwältigendes Gefühl. Ich lebte. Ich war allerdings in meiner Spielzeugstarre - ahnte in diesem ungeheuerlichen ersten Lebensmoment noch nicht, was das Herumflitzen für mich bedeuten würde - weil ein Kind mich in der Hand hielt und verzückt auf mich herabsah. Ich sah zu ihm hoch. Große Augen über mir, Nasenlöcher, ein Mund, der lächelte. Ich spürte den Puls des Kindes in den Fingern, die mich umklammerten. Sein Atem ging schnell, und es stieß kleine Glücksschreie aus. "Mami, schau! Den will ich, den da, den!"

    Uti heißt der Junge, dem Vigolette seine Berufung ins wahre Zwergenleben verdankt, und an Utis Seite verbringt er die ersten 60 Jahre. Das heißt anfangs als Spielzeug, zumal Utis Schwester Nana bereits über eine Reihe von Artgenossen verfügte, und so bildet sich schnell eine Zwergenpopulation von etlichen Wichten, die sich prächtig miteinander verständigten, ohne dass die Menschenkinder je davon Kenntnis erlangt hätten. Und die sich prächtig zu amüsieren verstanden.

    Da wären etwa die Ausflüge zu nennen, die die Zwerge vorzugsweise in Kolonne unternehmen.

    Wir waren also meist nachts unterwegs. Am Tage waren wir ja im Dienst. Am Abend, wenn die Kinder im Bett waren - im gleichen Zimmer wie wir; wir mussten warten bis sie schliefen -, brachen wir auf, alle vier, alle sieben eine Weile lang, alle neune später, endlich alle siebzehn. So ergab sich wie von selbst jene schicksalhafte Gänsemarschordnung. Zuvorderst ging Dunkelblöe. Er war der Führer. Wenn er innehielt, einer plötzlichen Gefahr wegen, prallten alle Nachfolgenden: Zwerg auf Zwerg, bis hin zum letzten. Keiner stoppte rechtzeitig, jeder sagte "Au" oder "Hoppla".
    Gerne werden dabei übrigens muntere Lieder gesungen, wie zum Beispiel das oft angestimmte "Heio" oder "Im Frühtau die Zwerge".

    Dunkelblöe hielt dann seine Faust hoch, als halte er eine Laterne in ihr; und das war Wunder war, seine Hand war ein Laterne und leuchtete in einem blassgrünen Glühwürmchenlicht. Hell genug für ihn - Zwergen genügt ein Lichthauch -, um um sich zu spähen, zu horchen, uns endlich das Zeichen zum Weitermarschieren zu geben, so dass sich unser eng gedrängter Haufen entspannte und wir, einer hinter dem anderen, weitertrotteten.

    Natürlich lauerten auch überall Gefahren, der Hund etwa und nachts kreuzte die Katze gerne den Weg der ordentlich marschierenden Zwergentruppe. Manches Expeditionsziel schien auf den ersten Blick nicht so interessant.

    Das Esszimmer, das neben dem Papi-Mami-Zimmer lag, war ein problemloses, nicht sonderlich aufregendes Forschungsgebiet.

    Sieht man mal von dem wunderbaren Esstisch ab. Allerdings war die Tischplatte zu hoch, und sie ragte weit über den Ansatz der Beine hinaus, außerdem war sie spiegelglatt. Doch so ein Zwerg gibt so schnell nicht auf. Nach etlichen Versuchen hat Vigolette den Höhenkamm erklettert:

    Die Tischplatte, ihre Oberfläche, war auch schwarz, aber nicht dumpf wie die Unterseite, sondern glänzend. Spiegelglatt. Ich richtete mich auf und marschierte los. Mein Spiegelbild begleitete mich mit jedem Schritt, und als ich mich vorbeugte und nach unten sah, kam mir die Wölbung meines Bauches bedeutender vor, als ich sie gerne gehabt hätte.

    Hin und wieder gab es auch wunderbare Überraschungen - zum Beispiel als die Schar der Wichte zum ersten Male ein offenes Fenster entdeckt und nicht nur die Aussicht genießt:

    Vor allem aber war der Sims warm, wunderbar warm, von der Frühlingssonne so herrlich erwärmt, dass wir alle vier aufstöhnend niedersanken und uns wälzten und drehten.

    Eine Gruppe der Zwerge, die mit dem Beinamen "Böse", erwiesen sich bald als geübte Kletterer und sie machten gewaltige Touren:

    Sie hatten Muskeln wie Stahlseile und Lungen wie Dampframmen und waren in allen Nächten draußen im Freien. Sie bestiegen die vier Hausseiten auf zunehmend schwierigen Routen. (...) Die größte Herausforderung - neben der Blitzableiterroute und natürlich der Großen Antenne - war die Nordwand in der Falllinie.

    Vigolette alt beginnt also im Alter von etwa 60 Jahren von seinem Leben zu erzählen. Das kann man ziemlich genau daran ablesen, wie er jenen Uti beschreibt, der ihn ins Leben gewählt hat:

    Ja, manchmal sitzt an dem Tisch der Mann, dem ich gehöre. Der mir gehört. Er ist mein Schicksal, ich bin seins. Ich weiß es, er nicht.

    Wenn ich es nicht zweifelsfrei wüsste, ich würde es nicht glauben: dass dieser alte Mann mit seiner Glatze, seinem bizzaren Haargewusel auf den Schädelseiten (Putzwolle oder so was, grau), seinem Schnauz, seinen Tränensäcken unter den stier glotzenden Augen jener verwandelte Bub mit den schwarzen Wuschelhaaren und der hellen Stimme ist! Hätte ich nicht jeden Tag seiner Verwandlung miterlebt, ich schwöre bei Gott - Zwerge haben keinen Gott -, dass der da ein ganz anderer ist. Keinerlei Ähnlichkeit mit jenem Jungen, nicht so viel. Der da ist gewiß sterblich, das sieht ein Blinder. Seine Tage sind gezählt, die Wetten gehen nur noch, ob 300 oder 3000. Der kleine Junge wirkte durchaus so, als könnte er ewig bleiben.


    Dieses Signalement lässt kaum einen Zweifel: Es muss sich um den Schweizer Schriftsteller Urs Widmer handeln, Jahrgang 1938. Naturgemäß spielt er eine gewisse Rolle in den Memoiren seines Zwerges, allerdings kommt er selbst kaum zu Wort, sein Wirken als Geistesriese scheint den Zwerg kaum zu beeindrucken. Allenfalls auf der Rückseite des Buchumschlags erlaubt sich der Schriftsteller eine Erläuterung des Zwergentextes. Und da heißt es:

    Als ich ein Kind war, spielte ich, zusammen mit meiner Schwester, mit Gummizwergen. Einem einzelnen zuerst, dann mit einer Handvoll, endlich mit einem großen Trupp. Sie waren Spielzeugwesen aus Hartgummi, die den Helden aus Walt Disneys Filmklassiker "Schneewitchen und die sieben Zwerge" nachgebildet waren. - Mein Liebling war der, der im Film-Original "Sleepy" heißt. Mein Gott, wie liebte ich ihn! Er war ein kraftvoller Zwerg mit strahlend blauen Augen, der heute so geworden ist, wie ihn der Schutzumschlag dieses Buches zeigt. Ja. Ich bin ja auch nicht mehr der, der ich damals war. - Mein Zwerg blieb dann in meiner Nähe, auch wenn ich mich, zugegeben, nicht jeden Tag um ihn kümmerte. Ich führte mein Menschenleben und wusste nicht, dass er die ganze Zeit über ein Leben als Zwerg gelebt hatte. Ich ahnte noch nicht einmal, dass er das ABC so gut wie jeder andere beherrschte. Vor meinen Augen und dennoch hinter meinem Rücken hat er dieses Buch geschrieben, und ich werde den Teufel tun, auch nur ein einziges Komma daran zu ändern.

    Den ein oder anderen geneigten Hörer werden diese Bemerkungen vielleicht auf eine falsche Fährte lenken, besonders die Gruppe der Widmer-erfahrenen Leser könnte sich täuschen. Die nämlich werden sich daran erinnern, dass der hoch geschätzte Schweizer Autor, dem sein Zwerg noch zwischen 300 oder 3000 Tagen auf Erden gibt, dass also Urs Widmer in seinen letzten Büchern damit begonnen hat, deutlich autobiographische Zeichen zu setzten, die sich übrigens schon ankündigen in Titel wie "Der Geliebte meiner Mutter", dem kurz darauf der Roman "Das Buch des Vaters" folgte.

    In beiden Büchern tritt Herr Widmer persönlich kaum ins volle Rampenlicht. Und so könnte man glauben, mittels des Zwergenberichts wählte er eine raffinierte Perspektive, gebrochen, und gerade deshalb zur Preisgabe von Intimem geeignet. Doch hier muss man Entwarnung geben - auch wenn dies manchen Widmer-Fan enttäuschen mag. Die Nah - oder gar Intimaufnahmen von Urs Widmer sind spärlich, wenn es sie denn überhaupt gibt.

    Der Schriftsteller bleibt ein vertrauter Schatten im Blickfeld des Zwerges, einer der ihn als Kind bespielt und der ihn später als Erwachsener in die Hosentasche steckt und mit dem Gummizwerg als Fetisch um die halbe Welt reist, die Vigolette auf diese Weise kennenlernt.

    Ich habe die Höhepunkte der europäischen Kultur im Ohr! (Uti ließ kein Museum und keine romanische Kirche zwischen der Nordsee und Gibraltar aus) - Und natürlich hörte ich unaufhörlich rauschende Wellen (Uti hatte eine Leidenschaft fürs Meer), Schiffstuten, den Motor von Utis Motorroller, das Getöse einfahrender U-Bahnen, die mit Geknatter untermischten Musiken, aus dem Transistorradio, Gläserklirren und Tellerklappern in Kneipen. Flughafenansagen. War das ein Gelärme oft, Uti gehörte nicht zu den Stillen im Lande!

    Doch kaum ein Wort darüber, was seinem Reiseleiter, nämlich Urs Widmer, dabei so alles widerfährt. Mit einem Wort: Vigolette gibt sich äußerst diskret. Allerdings wird die Gnomenbande einmal unfreiwillig zu Spannern als sie Zeugen eines denkwürdigen Spektakels im Elternschlafzimmer werden:

    Tatsächlich stand die Tür offen, und ich sah, als ich über die Schwelle sauste, hoch über mir auch gleich ein Stück Papi, seine nackten Füße, die über das Bettende hinausragten und auf und nieder wippten. Seltsame Laute von da oben. Papi grunzte jedes Mal, wenn seine Füße nach unten fuhren, und Mami - ja, auch Mami mußte auf dem Bett oben sein, obwohl sie unsichtbar blieb - jaulte oder seufzte in Papis Tempo. Ich stand ratlos da und staunte diese Zehen an, krüppelige Stummel mit schwarzen Nägeln. Als aber Papi plötzlich mit doppelter Kraft losbrüllte und Mami wie eine Sirene klang, floh ich unters Bett. Über mir hoben und senkten sich die Matratzenfedern. Ein Lärm wie in einer Maschinenhalle. Hoch über mir, gegenüber auf dem Fensterbrett, lugten meine Zwergenfreunde hinter den Hyazinthengläsern hervor. Sie starrten auf etwas, was ich nicht sah - auf was eigentlich? -, und hatten rote Gesichter, weitaufgerissene Augen und offene Münder. So hatte ich sie noch nie gesehen, so hingegeben. Dunkelblöe glotze so selbstvergessen, dass er jede Tarnung aufgegeben hatte und im vollen Licht, beide Hände vor dem Bauch gefaltet, vor einer roten Hyazinthe stand.

    Das Staunen der Zwerge kommt nicht von ungefähr, denn die Kraftakte des Fleisches sind ihnen unbekannt. Ein Geschlechtsleben findet nicht statt. Es gibt ja auch genügend andere Arten, sich zu amüsieren. Ebenso bleiben den Zwergen dunkle Erfahrungen nicht erspart.

    Die Tage, Monate, Jahre verflogen. Vor den Fenstern schossen die Birken in die Höhe, und der Kirschbaum wurde so mächtig, dass die Böse den Schwierigkeitsgrad der Tour von 4 auf 8,5 anhoben. (...) Aber eigentlich verging die Zeit wie selbstverständlich, sie rann im Zwergenrhythmus dahin, und der misst sich an der Ewigkeit. Ewig minus ein Tag, das war unser Lebensgefühl, und dieser letzte Tag schien noch sehr weit weg zu sein. Wir waren ja auch immer noch die alten. Die Gleichen. Gut, ein paar Veränderungen hatte es gegeben, zum Schlechten hin, in Richtung Vergänglichkeit, aber sie waren kaum der Rede wert. Bös neu, das war ein Unfall gewesen. Eine Ausnahme. Das Loch in der Nase von Lochnas alt war größer geworden, klaffender. Die Farbe war bei manchem etwas abgerieben, besonders die Bäuche der Himmelsblöe, die nicht ohne Grund, ständig gegen irgendwelche Hindernisse stießen, waren blankgescheuert und zeigten den nackten Gummi. Bei mir stand auch nicht alles zum besten. Ich bröselte.

    Doch das ist vielleicht noch milde ausgedrückt. In seiner kurzen Notiz weist Urs Widmer auf das Photo auf dem Buchumschlag hin: das würde den heutigen Zustand seines Zwerges wiedergeben. Da scheint der Zustand des Bröselns schon der Vergangenheit anzugehören und die leibliche Verfassung von Vigolette alt ähnelt er einer gedunsenen Kröte voller Geschwüre, gepaart womöglich mit einer altgermanischen Fruchtbarkeitsgöttin, kurz, Vigolette ähnelt deutlich mehr kalter Lava als einem putzigen Gummizwerg.

    Beim Autorenphoto von Urs Widmer mag man nicht so weit gehen, aber unübersehbar: die Jahre sind nicht spurlos an Uti vorbeigegangen - und natürlich hat das Altern der Kinder weitreichende Konsequenzen für die Zwerge.

    Uti war jetzt ein großer Brocken mit einer tiefen Stimme, der Knickerbocker und manchmal sogar lange Hosen wie Papi trug. Die beiden spielten immer seltener mit uns, und mir war das sogar recht so. Das ständige Gespieltwerden kann einem ganz schön auf den Geist gehen. Dass das der Anfang vom Ende war, das fiel mir gedankenlosem Trottel nicht ein.

    Der Anfang vom Ende besteht in der allmählichen Auflösung der Zwergengemeinschaft. Erst geht Grünsepp bei einem Ausflug verloren, dann ziehen die Eltern um, die Kinder werden älter und die Zwerge landen im Keller - erst zwischengelagert, aus Pietät, denn niemand möchte so ganz seine einstigen Lieblinge liquidieren, erst mal bloß ein bisschen vergessen. Nur Vigolette bleibt in Utis Nähe - einsam auf einem zwergenleeren Regal in der seltsamen Gesellschaft von einem Zahnarzt aus Lehm und seinem tönernen Patienten.

    Doch auf wundersame Weise geht die Geschichte weiter. Zunächst trifft Vigolette völlig unerwartet Dunkelblöe wieder und die beiden erleben noch manches Abenteuer. Beim nächtlichen Fernsehgucken sehen sie nicht nur halbnackte Frauen mit riesigen Brüsten, sondern ...

    Plötzlich erschien vor uns ein Bild von solch überrumpelnder Wucht, dass Dunkelblöe, der schon hochgesprungen war, um den nächsten Sender zu drücken, in der Luft stehenblieb. Jedenfalls schaffte er es, neben der Zapp-Taste zu landen. Wir standen und glotzen fassungslos. Vor uns auf diesem turmhohen Fernsehbild, waren wir selbst. Oder, wohl doch, solche, die, die uns aufs Haar glichen.

    Doch eines Tages scheint wirklich alles zu Ende zu gehen. Uti - wie Vigolette beharrlich den Schriftsteller Urs Widmer zu nennen pflegt - Uti also renoviert seine Wohnung und seine Putzfrau ergreift die Gelegenheit die Zwerge im Müllsack in den Keller zu entsorgen. Aber dem listigen Vigolette gelingt die Flucht aus dem Sack, schließlich schafft er es sogar noch, Dunkelblöe mittels einer Grammophonnadel aus seinem Verlies herauszuschneiden und ihn von Salatblättern und leeren Thunfischdosen zu befreien.

    Allerdings wird die Überraschung bald noch größer, denn hier im Keller... Doch davon sollten wir hier lieber nicht berichten, denn das rührende und wunderbare Finale, das große Show-down der Zwergenschar verdient es wahrlich Wort für Wort im Original gelesen zu werden.

    Urs Widmer hat ein rätselhaft entzückendes Buch geschrieben. Bis zuletzt hält er die Perspektive eines acht Zentimeter großen verdammt in die Jahre gekommenen Gummizwergs durch. Die Geschichte Vigolettes und seiner Wichtgenossen rührt und amüsiert gleichermaßen – und außerdem gerät man dabei ins Grübeln, ins Sinnieren. Was ist das eigentlich: das Leben der Dinge, die wir uns aneignen, die wir humanisieren, mit deren Hilfe wir uns in der Welt symbolisieren, während die geliebte Dinge nicht antworten können? Wir lieben tote Dinge.

    Diese sonderbare Beziehung erfüllt die Stummheit der Welt mit Leben. Und natürlich beruht diese Liebe darauf, dass die Dinge nicht antworten können. Und das Schöne an Widmers Buch ist, dass er seine Zwerge nicht antworten läßt. Er gibt ihnen vielmehr ein eigenes Leben. Und dann beginnen wir die Zwerge zu lieben, weil sie es sind und nicht, weil wir es sind. Und so gesehen darf man vielleicht sagen: Urs Widmers Buch ist ein Buch über gar nichts, es sind zärtliche Exerzitien der Zärtlichkeit.

    Urs Widmer:
    Ein Leben als Zwerg
    Diogenes Verlag, Zürich 2006, 177 Seiten