Archiv


Zwiespalt in Kiew

Die ukrainische Staatsspitze unterstützt die Pläne der USA für ein Raketenabwehrsystem in Europa. Das Land könnte sich neben Polen und Tschechien sogar eine Beteiligung auf eigenem Boden vorstellen. Damit wären zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Die Ukraine könnte Pluspunkte in Washington und in Brüssel bei der Europäischen Union sammeln. Florian Kellermann berichtet.

    Es ist ein Ort, an dem die Kiewer sonntags gerne spazieren gehen: das weitläufige Gelände des Weltkriegsmuseums. Zu Sowjetzeiten wurde es angelegt, als Symbol für die militärische Macht des Ostblocks. Ausgediente Flugabwehr-Kanonen säumen hier die Promenade, ein Freilichtmuseum präsentiert Panzer und auch eine Mittelstreckenrakete.

    Aber nicht deswegen kommen die Kiewer gerne hierher, sondern wegen der frischen Luft und der herrlichen Aussicht auf den Fluss Dnipro, versichern Lyudmilla und Lena, zwei Kindergärtnerinnen, 42 und 43 Jahre alt.

    "Wir sind gegen Waffen und gegen Wettrüsten. Überall auf der Welt gibt es liebenswerte Menschen. Wir arbeiten mit Kindern aus Armenien, Georgien, sogar aus afrikanischen und arabischen Ländern. Sie sind alle talentiert und sprechen schon ein wunderschönes Ukrainisch. Diese Waffen hier braucht die Welt nicht."

    Wie die meisten, die am Weltkriegsmuseum spazieren gehen, haben Lyudmilla und Lena von den Plänen der USA gehört, im Nachbarland Polen eine Raketenbasis zu errichten. Und wie die meisten Ukrainer sind sie dagegen. Der 58-jährige Wolodymyr Hrihorjowitsch, ein Flugzeugingenieur, wünscht sich sogar, dass die Regierung der Ukraine die Militärbasis offiziell ablehnt.

    "Polen braucht diese Raketenbasis nicht, schließlich werden sie von niemandem bedroht. Was die Amerikaner behaupten, dass die Basis Raketen aus dem Iran abwehren soll, ist Unsinn. Die Iraner haben keine Raketen von solcher Reichweite. Für mich ist das eine Drohgebärde der USA gegenüber Russland. Deswegen hat Putin Recht, wenn er sich aufregt."

    Eine Umfrage zum US-Raketenschild gibt es in der Ukraine noch nicht. Aber sie würde wohl eine deutliche Mehrheit gegen die Pläne der polnischen Regierung ergeben. Das sieht man schon daran, wie wenige Ukrainer einen Beitritt ihres Landes zur NATO wollen. Denn das Argument ist in beiden Fragen das gleiche: Zwar sind viele Ukrainer für eine Orientierung ihres Landes in Richtung Europa, aber sie wollen trotzdem die Beziehungen zu Russland nicht verderben.

    Ganz anders sieht das die Staatsspitze in der Ukraine. Von Präsident Viktor Juschtschenko hatte es niemand anders erwartet, er gilt als westlich orientiert und spricht sich ohne Einschränkungen für das Raketenschild aus. Aber erstaunlicherweise pflichtet ihm diesmal auch Ministerpräsident Viktor Janukowitsch bei. Dabei hatte Janukowitsch noch im Wahlkampf letztes Jahr bessere Beziehungen zu Russland versprochen.

    Der Kiewer Politologe Kost Bondarenko erklärt das so:

    "Janukowitsch und Juschtschenko rivalisieren im Moment um die Gunst der USA. Amerika ist von Präsident Juschtschenko enttäuscht - und das will der Ministerpräsident nutzen. Janukowitsch will den USA zeigen, dass er als Partner verlässlicher ist als der Präsident. Er will damit Juschtschenko einfach die außenpolitische Initiative aus der Hand nehmen."

    Russland, so scheint es, schwimmen die Felle in der Ukraine davon. Immerhin ist ein NATO-Beitritt der Ukraine in weite Ferne gerückt - durch den Wahlsieg von Janukowitsch und der Partei der Regionen im vergangenen Jahr. Aber Moskau hatte sich mehr erwartet - zum Beispiel in Sachen US-Raketenschild.

    "Moskau ist enttäuscht. Aber Janukowitsch entstammt dem Donezker Wirtschaftsclan, und das sind Pragmatiker. Politik wird dort durch die Brille von wirtschaftlichen Interessen wahrgenommen. Bei einer Integration mit Russland wären die Geschäftsleute dort, die ja für ukrainische Verhältnisse sehr reich sind, nur noch Randfiguren. Deshalb balanciert Janukowitsch zwischen Russland einerseits und dem Westen andererseits."

    Die Spaziergänger am Weltkriegsmuseum verstehen das sehr gut, auch wenn ihre wirtschaftlichen Interessen nicht mit denen der Donezker Industriebosse vergleichbar sind. Vitalij Juriewitsch, ein 31-jähriger Philosphie-Dozent:

    "Die Ukraine sollte weder gegen Russland sein, noch gegen die USA. Sie sollte für europäische Werte eintreten. Sonst wird sie zermalmt wie von den Steinen einer Getreidemühle."