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Zwiesprache mit dem Schicksal

Psychologie. - 101 Tote und 104 teilweise schwer verletzte Menschen - das war die bittere Folge des Eisenbahn-Unglücks von Eschede am 3. Juni 1998. Kölner Wissenschaftler betreuten Überlebende und Hinterbliebene mehrere Jahre lang und werteten die Ergebnisse ihrer Behandlung wissenschaftlich aus.

Von Martin Hubert | 03.06.2008
    Um 10:28 Uhr am Vormittag des 3. Juni 1998 springt der ICE 884 in der Nähe der niedersächsischen Kleinstadt Eschede aus dem Gleis. Den Rettungshelfern, die an der Unglücksstelle eintreffen, bietet sich ein entsetzliches Bild: zerquetschte Waggons, klagende Menschen, Leichenteile, die verstreut herumliegen. Im Lauf des Tages trifft auch der Kölner Psychologe Rainer Lehnen vom Malteser Hilfsdienst an der Unglücksstelle ein.

    "Es war gegen Abend, da war dann dieser Zug ausgeleuchtet, sehr viele Helfer fuhren da herum, das war eine sehr seltsame Aura auch, sehr bedrückt, ja, also auch eine Sprachlosigkeit herrschte vor, also dieses Gefühl, das kann ich noch sehr gut in mir wach rufen - wie man es vielleicht jetzt auch merkt - es erschien mir sehr unwirklich."

    Was zu sehen war, war kaum auszuhalten, also erschien es irreal. Rainer Lehnen hat damals am eigenen Leib ein Gefühl verspürt, das sich bei vielen direkt vom Unglück Betroffenen zu einem schweren Trauma entwickelte. Sie können den Schrecken der Katastrophe nicht bewältigen und leiden noch jahrelang darunter. Das betraf Überlebende der Katastrophe genau so wie Hinterbliebene. Ende des Jahres 1998 wurde Rainer Lehnen Mitarbeiter eines Nachsorge-Projekts, das solche Menschen betreute und dies wissenschaftlich auswertete. Es gibt unterschiedliche Ansätze der Traumaforschung, alle unterstellen jedoch, dass ein traumatisches Erlebnis den inneren Schutzraum zerstört, der einer Person ein elementares Gefühl von Sicherheit verleiht. Das Eschede-Nachsorgeprojekt ging daher davon aus, dass die urplötzlich eintreffende Katastrophe von Eschede die Betroffenen in ihrem bisherigen Selbst –und Weltverständnis zutiefst verunsichert hatte. Professor Gottfried Fischer vom Institut für klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Köln, der Leiter des Projekts:

    "Diese Erschütterung des Selbst- und Weltverständnisses, das nimmt einmal die Form an, dass man an sich selber zweifelt und viele Betroffene geben sich dann auch die Schuld für etwas, was sie gar nicht selbst verursacht haben, das ist eine Art magische Selbstbeschuldigung, die dann oft auftritt. Im Eschedezug zum Beispiel haben sich viele gefragt: wieso bin ich eigentlich in diesen Zug eingestiegen?"

    In ihrem Weltverständnis waren diese Menschen insofern erschüttert, als sie das Vertrauen in ihre Umwelt, ihre Mitmenschen und in die Technik völlig verloren hatten. Die Vorstellung zum Beispiel, noch einmal in einen Zug zu steigen, löste bei manchen von ihnen schreckliche Ängste und blitzartige Erinnerungen an das Unglück aus, die so genannten flashbacks. Die Therapeuten versuchten die Betroffenen zunächst schrittweise zu beruhigen und dann an die erinnerbaren Fakten des Unglücks heranzuführen, damit sie diese bewusst als Teil ihres Lebens akzeptieren konnten. Aber nicht allen gelang es. Rainer Lehnen:

    "Also ich gehe davon aus, dass es Betroffene gibt, die auch immer noch damit zu tun haben, die auch trotz Therapie es nicht schaffen konnten, dieses Ereignis zu verarbeiten, wobei man da auch anführen muss, es gab natürlich bei diesem Ereignis auch zahlreiche schwer Verletzte, wo dann die Verletzungsfolge auch immer wieder ein Dauerthema ist, das eben durch dieses Ereignis ausgelöst worden ist, aber jetzt einen eigenen Verlauf nimmt auch."

    Je schwerwiegender die körperlichen Folgen waren, desto schwieriger ließ sich das Trauma behandeln. Das ist eines der Ergebnisse des Kölner Betreuungsprojekts. Es bestätigte auch eine neuere Einsicht in der Traumaforschung: dass es meist nicht gut ist, Betroffene direkt mit ihrem Erlebnis zu konfrontieren. Eine Beruhigungsphase muss einer solchen möglichst emotionsfreien Konfrontation immer vorgeschaltet werden. Um den Behandlungsverlauf gut planen zu können, wurde im Eschede-Nachsorgeprojekt auch der so genannte Kölner Risikoindex eingesetzt und erfolgreich getestet. Er besteht aus einem Katalog von zehn Fragen, die den Schwergrad der Verletzung oder die Dauer des Schockzustands während des Unfalls betreffen. Zusätzlich wird festgehalten, ob der Betreffende schon früher traumatische Erlebnisse hatte, ob er unter besonderen Belastungen steht oder ob er gut sozial verankert ist. Mit Hilfe des Antwortprofils lässt sich dann jeder Betroffene in eine von drei Gruppen einteilen, die unterschiedlich betreut werden müssen. Zum einen gibt es die Hochrisikogruppe: ein Viertel der Betroffenen litten nach Eschede an Langzeitfolgen, benötigten also eine Therapie. Daneben gibt es die so genannten "Selbstheiler", die kaum Hilfe von außen benötigen. Schließlich, so Gottfried Fischer, existiert eine so genannte "Wechslergruppe":

    "...die zu Selbstheilern werden, wenn sie genügend Unterstützung erfahren, die aber auch zu Risikopersonen werden können, wenn sie widrige Umstände hinterher erfahren, zum Beispiel Misstrauen der Behörden und ewige Bürokratie und nicht glaube, dass irgendwas passiert ist."

    Einfühlsamer und unbürokratischer Umgang mit den Betroffenen schwerer Unfälle. Und möglichst frühzeitige Klassifizierung ihres psychologischen Risikopotenzials, damit sie adäquat betreut werden können. Das sind die Grundforderungen, die sich aus dem Kölner Eschede-Projekt ergaben. Darauf aufbauend erarbeitet das Kölner Institut zur Zeit in Zusammenarbeit mit den Städten Köln, London, Madrid und Amsterdam ein europäisches Regelwerk für den guten Umgang mit traumatisierten Personen nach Katastrophen.