Mit dem Fall des eisernen Vorhangs, vor gut fünfzehn Jahren, hat sich in Budapest viel verändert. Nicht nur die Wirtschaft und die politischen Strukturen, sondern auch das Leben der Menschen und das Stadtbild. Denn mit dem freien Markt kamen auch die Immobilienhaie, Großinvestoren und Spekulanten in die Donau-Metropole. Vielen ist dabei am Erhalt des historischen Stadtkerns oft weniger gelegen als am schnellen Profit. Und so übt Budapest derzeit den Spagat: Einerseits sucht die 1,7-Millionen- Metropole den Anschluss an das globalisierte Europa, andererseits will es nicht sein kulturelles Erbe und damit die nationale Identität verlieren.
Budapest im Jahr 2005. Es wird viel gebaut. Auch in der Erzsébetváros, der Elisabethstadt. Sie ist der kleinste der 23 Stadtbezirke und liegt auf der Pester Seite, also rechts der Donau. Einstmals war es ein lebendiger, vor allem von Juden bewohnter Stadtteil mit vielen Handwerksbetrieben und kleinen Läden. Heute sind viele Häuser, in denen meist alte, sozial schwache Menschen und Studenten leben, vernachlässigt und heruntergekommen. Viele dieser alten Häuser sollen nun abgerissen, breite Schneisen durch historische Ensembles gezogen, Kaufhäuser errichtet, Wohnungen luxussaniert werden. Erzsébetváros ist zum Tummelplatz für Spekulanten geworden und zum spannungsreichen Konfliktfeld.
Budapest im Jahr 2005. Es wird viel gebaut. Auch in der Erzsébetváros, der Elisabethstadt. Sie ist der kleinste der 23 Stadtbezirke und liegt auf der Pester Seite, also rechts der Donau. Einstmals war es ein lebendiger, vor allem von Juden bewohnter Stadtteil mit vielen Handwerksbetrieben und kleinen Läden. Heute sind viele Häuser, in denen meist alte, sozial schwache Menschen und Studenten leben, vernachlässigt und heruntergekommen. Viele dieser alten Häuser sollen nun abgerissen, breite Schneisen durch historische Ensembles gezogen, Kaufhäuser errichtet, Wohnungen luxussaniert werden. Erzsébetváros ist zum Tummelplatz für Spekulanten geworden und zum spannungsreichen Konfliktfeld.
Erwacht aus dem Dornröschenschlaf – Bauboom im ehemaligen jüdischen Ghetto !
Baulärm hallt durch die engen Gassen der Erzsébetváros, der Elisabethstadt. Zeugt von dem neuen Bauboom im ehemaligen jüdischen Ghetto. Zwischen niedrigen, grau verwitterten Altbauten, wachsen neue Appartementhäuser in die Höhe.
"Das Interessante ist: Jedes unserer Projekte hat einen eigenen Namen und ein Thema", sagt Tünde Angyal und zeigt mit ihrer rechten Hand auf einen Appartement-Neubau : Sechs Stockwerke hoch, rote Klinkerfassade, weiße, mit altgriechischer Ornamentik verzierte Balkone, schmiedeeisernes Eingangsportal. Tünde Angyal, blond, etwa 30 Jahre jung und von sportlich-dynamischer Erscheinung ist die "Kommunikations-Direktorin" einer Budapester Immobilien-Holding.
"Das ist das Haus der Helena. Ich mag es. Es passt gut hier hin und ist dennoch einzigartig" Tünde nickt dem uniformierten Sicherheitsmann zu, der im Foyer sitzt. Dann geht es zum nächsten Projekt: "Kiraly udvar" – Königs-Höfe, heißt es. Ebenfalls ein nobles, sechsstöckiges Appartement-Gebäude, das fast fertig ist.
"Es war in nur wenigen Monaten ausverkauft", sagt die PR-Frau und lächelt. Das Immobiliengeschäft boomt in der Budapester Altstadt. Vor allem hier, in der Erszébetváros, dem alten, ehemaligen jüdischen Viertel im 7. Bezirk. Viele Immobilien-Firmen wollen hier investieren. Immer mehr Appartements und Geschäftshäuser dorthin bauen, wo bisher noch alte, einstöckige Wohnhäuser mit Hinterhöfen stehen..
Die Gassen sind krumm und eng. Die alten Häuser stuckverziert aber grau und marode. Die meisten stammen aus dem 19. Jahrhundert, als sich die Erzsébetváros zum blühenden und lebendigen Stadtteil der jüdischen Bevölkerung von Budapest entwickelte, mit vielen Handwerksbetrieben, kleinen Läden und Theatern. Heute wohnen hier vor allem sozial Schwache und Studenten. Viele der alten Häuser stehen leer. Die Bezirksverwaltung hat sie räumen lassen. Später sollen sie abgerissen werden und die Grundstücke dann teuer an Investoren verkauft werden. Eine Politik, die viele Budapester empört.
"Dieses Haus sollte auch unter Denkmalschutz gestellt werden, aber der Schutz kam zu spät. Jetzt ist hier dieser hässliche Parkplatz." Die Architektin Ana Percel zeigt interessierten Besuchern, die neuesten Zerstörungen und Verwüstungen in der Elisabethstadt. Ana ist 61 Jahre alt und kennt jedes Haus in dem Viertel. Sie selbst ist jüdischer Abstammung aber wohnt auf der anderen Seite der Donau, in Buda.
"Viele kleine Appartements und jede Menge Autos sollen hier Platz finden, das sind die Pläne." Ana und ihre Freundin Orsolya Egri stehen neben einer riesigen Pfütze, zeigen in eine etwa zwanzig Mal fünfzig Meter große und zehn Meter tiefe Baugrube. Bis vor einigen Monaten stand hier das wunderschöne alte Haus eines jüdischen Silberschmiedes. Ein mit Jugenstil-Ornamenten verzierter Bau, mit kleinem umbautem Hinterhof. Es mache sie unendlich traurig und wütend, wie mit der Erzsébetváros umgegangen werde, sagen die beiden Frauen. Dem einstmals so lebendigen Stadtteil, der gegen Ende des Zweiten Weltkrieges von den Faschisten zum Ghetto umfunktioniert wurde und in dem doch die Mehrzahl der Juden den Holocaust überleben konnte.
Es ist schockierend, dass diese Häuser, die all das Durcheinander in der Geschichte überlebt haben, jetzt in großer Gefahr sind, empört sich Orsolya Egri, eine Cafehaus-Besitzerin aus Buda. Die Ignoranz der Bezirksverwaltung und die Profitgier der Investoren drohen endgültig zu zerstören, was den Zweiten Weltkrieg und den Sozialismus überlebt hat.
Anfang der 30er Jahre hat der ungarische Schriftsteller Lajos Nagy, über das Leben und den Alltag der Menschen in der Erzébetváros , der Elisabethstadt, geschrieben. Und er schildert in seiner Kurzgeschichte "Mietshaus" nicht nur das Milieu in einem typischen Mietshaus in der Hársfastraße, sondern er übt auch Gesellschaftskritik an den Zuständen der damaligen Zeit.
"Unter dem Dach im dritten Stock. Dritter Stock, 42. Ein Zimmer und Küche. Niemand ist zu Hause. Wanzen ruhen in den Ritzen und in den Spalten der Bettgestelle, Schaben unter dem Kochherd, zwischen der Holzkiste und der Wand. Im Zimmer steht ein braun polierter Schrank mit zwei Türen, er ist auch im Zwangsvollstreckungsprotokoll eingetragen. Im Schrank sieben Pfandscheine, schön zusammengefaltet, der Reihe nach entsprechend der Verfallsfrist. Die Wasserleitung in der Küche tropft, der Hahn ist bereits seit sechs Wochen entzwei. .... Die Küchentür ist geschlossen, die zwei quadratischen Fenster über der Tür stehen offen, durch sie strömt Gestank ins Freie. Von außen schlägt zwar ein milderer, doch weitaus vielseitiger Gestank zurück, so ist immer so viel vorhanden, wie als Verteidigungswaffe gegen jede Art von Feind notwendig ist: Bettler, detailliert: Vertreter, Stromableser, Gerichtsboten, Gläubiger. Es ist schon vorgekommen, dass ein Gläubiger auf dem Absatz kehrtmachte und nur herauswürgte, dass er in der kommenden Woche wiederkommen würde. Eine Person etwa, die jemanden etwas gebracht hätte, Geld, eine Stellung, ein Geschenk oder wenigstens eine gute Nachricht – ein solches Individuum erschien der allgemeinen Erinnerung nach im Durchschnitt einmal in zweihundert Jahren, und da das Haus anno 1882 gebaut wurde, kann es leicht sein, dass es noch einmal einhundertneunundvierzig Jahre auf sich warten lässt..."
1786 ermöglichte das Toleranzedikt des österreichischen Kaisers Josef II. die Ansiedlung von Juden knapp außerhalb der Budapester Stadtmauer. Und so konnte sich in der heutigen Erzsébetváros, ein eigenständiges jüdisches Stadtviertel entwickeln, mit allem, was dazugehört: Handwerksbetrieben, koscheren Lebensmittel-Geschäften, Cafés, Restaurants und Synagogen.
Dem pulsierenden Leben wurde jedoch im Zweiten Weltkrieg ein jähes Ende gesetzt. 60.000 Menschen waren damals im jüdischen Ghetto monatelang zusammengepfercht. Viele von ihnen sind dem Holocaust zum Opfer gefallen, aber mehr als die Hälfte konnte überleben. Viele der Überlebenden emigrierten erst nach dem Krieg, weil sie im Kommunismus keine Zukunft mehr für sich sahen. Aber einige blieben auch in der Erzsébetváros - bis heute. Das Durchschnittsalter des Viertels in der Innenstadt, das zum 7. Bezirk gehört, ist heute das höchste von ganz Budapest. Doch nun soll sich das ändern. Bezirksbürgermeister György Hunvald will die Elisabethstadt modernisieren, attraktiv machen für junge, wohlhabende Innenstadtbewohner.
Aber der Bauboom und die Sanierungsvorhaben drohen in der Erzsébetváros zu zerstören, was Jahr für Jahr Tausende von Besuchern anlockt: Der Geist des alten Budapest.
In der Dob utca, der Trommelgasse, im Haus Nr. 22, befindet sich die Konditorei Froehlich. Ein kleiner Laden mit Café und Backstube, den es hier schon seit 1953 gibt. Damals wohnten in der Erzsébetváros noch viele orthodoxe Juden. Sie kauften hier die koscheren Kuchen, Torten und Plätzchen. Noch immer wird in der Konditorei Froehlich nach den strengen religiösen Regeln gebacken, doch die Straße selbst wirkt ziemlich vereinsamt: Viele Häuser und Läden stehen leer. Nur in der Cukrászda, der Konditorei, spürt man noch ein wenig von der Atmosphäre der alten Elisabethstadt.
Was die Froehlichs traurig macht – Budapest letzte koschere Konditorei bangt um seine Zukunft
Es duftet nach frisch gebackenem Kuchen und gemahlenem Kaffee. Drei alte Frauen sitzen an einem der kleinen, runden Tische und trinken Kakao mit Sahne. Im Schaufenster baumelt ein bunter Davidstern. Ein Schuljunge mit Schlabberhosen, großem schwarzen Hut und langen, dunklen Schläfenlocken deutet mit dem Finger auf die Plätzchen in den alten Holzregalen und den Kuchen in der verzierten Glasvitrine:
"Hier, das ist der Flodni. Das ist ein traditionelles jüdisches Gebäck mit Äpfeln, Mohn und Nüssen. Und das sind Kastanienkipfel," sagt Erika Froehlich, die Chefin der Konditorei. Sie zwinkert mit ihren braunen, mandelförmigen Augen. Ein Lächeln huscht über ihr rundes, blasses Gesicht. Alles was die Konditorei Froehlich verkauft, ist koscher. Auch das "Monarchie-Gebäck", die österreichisch-ungarischen Quarktaschen und Krapfen, werden nach strengen religiösen Regeln hergestellt. Erika Froehlich hat die Zubereitung von Kind auf gelernt, in dem jüdisch-orthodoxen Haushalt ihrer Eltern und in der Konditorei:
"Eigentlich sind wir hier im Laden aufgewachsen. Ich und mein Bruder", sagt die Mittdreißigerin und setzt sich vorsichtig an einen der kleinen Café-Tische. In ihrem Nacken klebt ein großes Wärme-Pflaster. Sie trägt einen braunen Pullover, einen braunen Rock. Keinen Ring an den Fingern, aber eine Kette mit einem kleinen Davidstern. Bruder Robert ist heute ein Rabbi in der benachbarten Dohany-Synagoge, der größten Synagoge Europas. Erika studierte Betriebswirtschaft und übernahm vor vier Jahren das Geschäft der Eltern. Was sie verändert hat? Nicht viel, sagt Erika, die selber keine Kinder hat:
Eine Konditorei sei wie ein Baum. An Wurzeln und Stamm dürfe man nichts verändern. Nur an den Ästen und den Blättern. Der Laden sehe deshalb noch immer so aus wie früher. Nur zwei moderne Kühlschränke gibt es, für die Erfrischungsgetränke. Eine Computerkasse. Und immer mal wieder eine neue kleine Galerie im Café. Erika dreht vorsichtig ihren steifen Hals, blickt auf die schwarz-weissen Gemälde, die an der hellgelben Wand hängen. Sie zeigen, enge Gassen und Hinterhöfe. So, wie sie es immer noch gibt, in der Erzsébetváros. Erika liebt diese Bilder, sie erinnern sie an ihre Kindheit.
"Es war sehr familiär hier bei uns in der Dob Utca. Alle kannten sich untereinander, man grüßte sich, wechselte ein paar Worte, man kannte die Kauzigkeiten. Bei Onkel Zoli zum Beispiel, bei ihm musste man die Äpfel immer umdrehen, weil er die schlechte Seite nach hinten und die schöne nach vorne haben wollte. Oder die Frau mit der Turmfrisur, die einen nie erkannte, aber sich freute, wenn man sie grüßte."
Onkel Zoli und seinen Gemüseladen gibt es nicht mehr. Der Uhrmacher ist weg, der Perückenladen und viele andere auch. Immer mehr jüdische Bewohner sind im Laufe der Jahre aus der Erzsébetváros weggezogen, in andere, besser erhaltene Stadtteile. Oder ins Ausland. Aber einige sind auch mit ihren Geschäften geblieben. So wie die Froehlichs.
"Mein Vater konnte sich einfach nicht vorstellen, dass diese einzige koschere Konditorei in Budapest einmal nicht mehr sein würde", sagt Erika und nimmt das Handy, das die Verkäuferin ihr entgegenstreckt. Der Vater war während des Krieges aus Ostungarn nach Budapest geflüchtet, hatte sich im Ghetto der Erzsébetváros versteckt und als einer der wenigen seiner Familie so den Holocaust überlebt. 1953 kaufte er dann die kleine koschere Bäckerei in der Dob utca und baute sie um in eine Konditorei.
Erika Froehlich legt das Handy zur Seite. "Das war Gabor, der Glaser aus der Kiraly utca", sagt sie. Der Glaser ist empört. Nach über 50 Jahren muss er jetzt raus aus seinem Laden. Die Bezirksverwaltung will die alte Erzsébetváros sanieren. Ohne Rücksicht auf ihre Bewohner. Erika Froehlich hält die rechte Hand an ihr steifes Genick, es schmerzt. Auch sie bangt um die Zukunft:
"Seit Jahren fürchten wir um unsere Existenz. Der Bezirk setzt alles daran, um dieses Haus verkaufen zu können. Erst sagen sie, dass wir den Laden kaufen können, dann einen Monat später heißt es plötzlich, dass das Haus saniert werden soll. Und dann führen sie das Haus irgendwelchen Investoren vor, und zeigen ihnen was man hier bauen könnte, wenn man das Haus abreißt."
Noch hat Erika Froehlich ein wenig Hoffnung, dass der zivile Widerstand gegen die rücksichtlose Sanierung der Erzsébetváros wächst und dass sich die Verwaltung des 7. Bezirkes eines Besseren besinnt.
"Ich wünsche mir, dass dieses Haus hier erhalten bleiben, dass der Bezirk und die Stadtregierung ein Viertel erhalten, das unserer Geschichte würdig ist."
Erika Froehlich schaut auf die alter Uhr an der Wand. Sie möchte noch die Abrechnungen fertig machen, sagt sie. Morgen, am Samstag, bleibt die Konditorei geschlossen. Dann ist Sabbat.
Es gilt als eine der demokratischen Errungenschaften der Wende von 1989, dass politische Entscheidungen in Ungarn möglichst dezentral getroffen werden. So sind es die einzelnen Bezirke und nicht die Hauptstadtverwaltung, die heute die Planungshoheit bei der Stadtentwicklung in Budapest haben. Doch der Verwaltung des 7. Bezirks fehlt für die dringend erforderliche Sanierung der Elisabeth-Stadt das nötige Geld. Deshalb sollen die Grundstücke an private Investoren verkauft werden. Doch diese denken eher an Abriss und an Neubauten, als an kostspielige Sanierung. Und so kollidieren die Interessen der Anwohner mit denen der Investoren, und die Interessen der Spekulanten mit denen der Denkmalschützer und der UNESCO. Diese erklärt das Viertel im Jahr 2002 schließlich zur Schutzzone. Trotzdem beginnen zwei Jahre später die ersten Abrissarbeiten. Es kommt zu Bürgerprotesten. Das staatliche Denkmalamt erwirkt mit Unterstützung der Hauptstadtverwaltung und der Ungarischen Jüdischen Glaubensgemeinde darauf hin einen zumindest vorläufigen Abrissstopp. Das war im Sommer vergangenen Jahres. Seitdem arbeitet eine unabhängige Kommission an Plänen für eine behutsamere und sozial-verträglichere Sanierung und eine Wiederbelebung des jüdischen Viertels.
"Ovas", zu Deutsch: "Einspruch" heißt die Bürgerinitiative, die gegen den Abriss und die rücksichtslose Sanierung der Erzsébetváros mobil macht. Mit Protest-Demonstrationen, Stadtrundgängen, Podiumsdiskussionen und Ausstellungen, versuchen die "Ovas"- Leute die historische Bedeutung der Elisabethstadt in das öffentliche Bewusstsein zu bringen und zu retten, was noch zu retten ist. Mit wenig Geld und viel Engagement leistet man zivilen Widerstand gegen die derzeitige Baupolitik. Sprecherin und Aktivistin von Ovás ist die Caféhaus-Besitzerin Orsolya Egri. Sie lebt und arbeitet im nobleren Buda, wie die meisten ihrer Mitstreiter.
"Einspruch!" – Budapester Bürger kämpfen für den Erhalt der Elisabethstadt
Hohe Decke, gläserne Seitenwände und auch der Name "Tranzit" erinnern daran, was hier einmal war: Die Wartehalle eines Busbahnhofes. Nun dient der elegant geschwungene Glas-Beton-Bau, am Kostolány Platz in Buda, als Kunst- und Musikcafé. Mit gediegenen Caféhaus-Möbeln, großen Grünpflanzen, Bildern, Bücherregalen und einer Bar
"Es ist aus den 60er Jahren und eigentlich ein ziemlich hübsches Gebäude," sagt Orsolya Egri und setzt sich aufrecht in die Ecke eines weichen, roten Sofas.
Die groß gewachsene, schlanke Caféhaus-Besitzerin trägt einen glänzenden, roten Kimono. Hat ihre dunkelbraunen Locken lose zusammengesteckt. Einige fallen dennoch in ihr schönes, feines Gesicht, das ein wenig dem von "Sissy" ähnelt. Der östereichisch-ungarischen Kaiserin Elisabeth, die in Ungarn noch immer verehrt wird wegen ihres sozialen Engagements. Eigentlich mag sie den Stil der 50er, 60er und 70er Jahre überhaupt nicht, sagt Orsolya
""Das gilt genauso für das jüdische Ghetto - ich finde es wichtig, dass wir unser Architektur-Erbe respektieren und es nicht zerstören, um etwas Neues zu bauen."
Das jüdische Viertel befand sich in der Elisabethstadt und wurde gebaut als Sissy noch Königin von Ungarn war, Mitte des 19. Jahrhunderts. Nun ist es bedroht durch die Immobilien-Spekulanten und die Geschichtsvergessenheit der Bezirksverwaltung und ihres Bürgermeisters Hunvald, klagt Orsolya, verschränkt die Arme über der Brust und krümmt sich, als bereite der Abriss der alten Häuser ihr körperliche Schmerzen:
"Es ist einfach tragisch, es ist eine Sünde was geschehen ist. Es geht hier nicht um religiöse Angelegenheiten, es geht auch nicht nur um Architektur - es ist eine moralische Frage."
Und darum habe sie sich entschlossen für die Elisabethstadt, die Erzsébetváros zu kämpfen. Zusammen mit einer Hand voll Freunden, einer Architektin, einem Schrifsteller, einem Filmemacher und einem Wirtschaftsprofessor gründete sie die Initiative "Ovas!" "Der Name "Ovas" steht immer zusammen mit einem Ausrufungszeichen", sagt Orsolya. Ihr Ziel ist kompromisslos: Ein totaler Abrissstopp in der Erzsébetváros:
Im Sommer letzten Jahres organisierte Ovas! Protestdemonstrationen in dem bedrohten Viertel – mit einigem Erfolg: Das staatliche Denkmalamt schaltete sich ein, ebenso der Budapester Oberbürgermeister. Sie unterstützen die Forderungen von "Ovas!". Mit dem 7. Bezirk wurde zumindest vorläufiger Abriss-Stopp vereinbart, der aber nun, Ende dieses Jahres, auslaufen soll. "Herr Hunvald, der Bezirksbürgermeister, versucht uns zu zermürben" sagt Orsolya und verengt ihre grünen Augen zu kleinen Schlitzen:
Bezirksbürgermeister Hunvald habe sie bei der Polizei angezeigt. Er beschuldige sie, die alten Gebäude in der Erzsébetváros zu beschädigen. Weil sie dort den Buchstabe "R" auf die zum Abriss vorgesehen Häuser gesprüht hatte. Mit goldener Farbe auf die grauen Fassaden. Das Symbol sollte zeigen: Diese Häuser sind schützenswert.
Hunvald ist ein viel größerer Vandale als sie, sagt Orsolya, faltet das Schreiben zusammen und legt es auf den Tisch, schließlich seien die meisten dieser Häuser nicht mehr da. Seit sie für die Erszébetváros kämpft wachsen die Schwierigkeiten. Ihr Auto sei beschädigt worden, die Steuerprüfungen häuften sich und jetzt noch diese lächerliche Anzeige. "Ich bin keine Heldin", sagt die junge Unternehmerin. Ihr Gesicht ist blass geworden. Der Kampf für die Elisabethstadt kostet Kraft:
"Es gibt so viele Widerstände gegen die man hier kämpfen muss. Die falsch informierten Bewohner, korrupte Politiker und Bürokraten und natürlich die Immobilienentwickler, die nicht daran interessiert sind die teure und zeitraubende Renovierung der Häuser zu übernehmen, sondern diese lieber schnell abreißen und auf der grünen Wiese neu bauen wollen."
Orsolya erhebt sich aus dem Sofa und entschuldigt sich. Sie müsse sich noch auf die Foto-Ausstellung vorbereiten, die sie gleich in ihrem Café Tranzit eröffnen wird. Sieben Fotografen zeigen das alte jüdische Viertel, seine Häuser und Hinterhöfe aus unbekannten und reizvollen Perspektiven.
Rund 100 Besucher sind in das Tranzit-Café gekommen: interessierte Budapester Bürger, Ovas-Leute und Attila Györ, Kunsthistoriker am staatlichen Denkmalamt, der nach den Protesten von Ovas dafür sorgte, dass wenigstens 51 Häuser unter Denkmalschutz gestellt wurden, gegen den erklärten Willen von Bezirksbürgermeister Hunvald und seiner Verwaltung, wie er sagt.
"Wir stießen auf völliges Unverständnis. Wir sollten ihnen erklären, warum wir ihre Pläne jetzt durchkreuzen und warum wir das nicht bereits vorher unter Denkmalschutz gestellt hätten."
Leider hat seine Behörde nicht die Macht, das ganze Viertel unter Denkmalschutz zu stellen, sagt Györ, genau so wenig wie die Budapestester Hauptstadtverwaltung, denn die Stadtplanung wird in Budapest nun mal in den einzelnen Bezirken verantwortet. Keine gute Voraussetzung für eine behutsame Stadterneuerung.
"Im allgemeinen bestimmen die Investoren was gemacht wird und setzen ihre Interessen durch."
Orsolya ist wieder aufgetaucht. Jetzt in einem knöchel-langen weißen Kleid. Darin sieht sie wirklich aus wie "Sissy", die kaiserlich-königliche Namensgeberin der Elisabethstadt. In den Händen hält sie einen kleinen Zettel, mit den Worten, die sie den Besuchern der Ausstellung gleich zur Eröffnung sagen will.
"Was wir uns wünschen: dass Leute, die sich für ihre Nachbarschaft interessieren oder die eine besondere Beziehung zu einem Viertel haben, dass die sich erheben. Dafür haben wir gekämpft, das ist Demokratie, dass Du Deine Meinung offen sagst. Dass Du dazu stehst. Und dass Du auch dafür kämpfst."
Seine Herkunft, als uneheliches Kind einer Magd, brachte dem ungarischen Schriftsteller Lajos Nagy in seiner Kindheit viel Bitterkeit und Erniedrigung ein. Das erklärt die soziale Empfindlichkeit in seinen Werken. In seiner Kurzgeschichte "Mietshaus" übt er heftig Gesellschaftskritik und hält den Spekulanten und Miethaien dabei den Spiegel vor.
"Dritter Stock, 35. In unmittelbarer Nähe der Hintertreppe und des gemeinsamen Klosetts. Hier wohnt die Witwe Kuczora. Ein Zimmer und Küche. In einem Bett schlafen zwei. Eine Kaffeemamsell, die nachts in dem großen Kaffeehaus "Goldener Drache" beschäftigt ist, und eine Arbeitslose, die während dieser Zeit das Bett übernimmt. Frau Kuczoro wirtschaftet draußen in der Küche herum, schüttet Kaffee in die Mühle, weil sie sich bald das Abendbrotessen zubereiten will. Auch sie ist unzufrieden, möge die Pest das Ganze holen, an allem sind die Juden schuld. Weil die Menschen nun mal so sind, als ob die Welt wahnsinnig geworden wäre. ... Drinnen im Bett schlafen noch drei, einer im anderen Bett, einer auf dem Diwan, einer auf der Erde. Das sind die Tagesmieter; in der Nacht sind es zwölf, sie schlafen auch in der Küche Peter Keczege wurde auslogiert, er kam nachts betrunken nach Hause und erbrach sich, weil er keinen Alkohol vertrug; warum trinkt ein solches Schwein. Jetzt hängt draußen am Haustor ein Zettel; Frau Kuczora hat ihn von der Kaltmamsell schreiben lassen: "Ein Bett für einen anständigen jungen Mann abzugeben. Alles weitere 3. Stock, 35. "
Gozsdu udvar"zu Deutsch Gozsdu-Höfe, heißt das größte, der alten Gebäude in der Elisabethstadt. Es ist ein historisch und architektonisch wertvoller Wohn- und Geschäftskomplex, der 1902 von der Stiftung des rumänischen Kaufmanns Manó Gozsdu errichtet wurde. Jahrelang gab es Streitereien um die Zukunft des Gebäudes mit insgesamt sechs Hinterhöfen. Sie führten sogar zu Interventionen der rumänischen Regierung, die auf einen Erhalt ihres kulturellen Erbes in Budapest pochte. Jetzt sollen die Gozsdu-Höfe saniert und renoviert werden - für viele zig Millionen Euro. Die historische Fassade steht unter Denkmalsschutz und muss erhalten bleiben. Aber innen wird alles neu: Luxuswohnungen, unter- und überirdische Geschäftspassagen, ein Parkhaus und ein Wellness-Zentrum sollen bis Ende nächsten Jahres entstehen. Derzeitige Bewohner und Ladenbesitzer in der Erzsébetvarós, die vom Bezirk vor die Tür gesetzt werden, werden sich hier allerdings keinen neuen Standort leisten können.
Der größte private Bauinvestor in Budapest heißt Ehud Amir und kommt aus Israel. In der Erzsébetváros saniert er die Goszdu-Höfe und löste heftige Bürgerproteste aus, als er in dem jüdischen Viertel eine Reihe alter Häuser abreißen ließ. Am nördlichen Stadtrand von Budapest baut er gerade einen riesigen Wohnpark für gehobene Ansprüche. Die Baustelle ist mit 22 Hektar die derzeit größte in ganz Mitteleuropa.
Ein Mann im Bauboom – Budapest größter Immobilien-Entwickler kommt aus Tel Aviv
Ehud Amir steuert seine schwarze Limousine auf die riesige Baustelle. "Alles das hier, wird von uns gebaut", sagt der 35-Jährige merklich stolz. Hier, unmittelbar am Ufer der Donau, entsteht eine 20 Hektar große Luxuswohnanlage. Umzäunt und bewacht von Sicherheitsleuten.
Amir parkt den Wagen vor einem der elegant geschwungenen Wohntürme. Die ersten 224 Appartements sind fast fertig. Über 3000 sollen in den nächsten Jahren noch dazu kommen.
Im dunklen, maßgeschneiderten Anzug und eleganten schwarzen Schuhen steht der junge Chef der "Autoker"" Immobilien-Holding jetzt zwischen staubigen Baustoffpaletten und ratternden Planiermaschinen. Groß, schlank, kurz frisiertes, schwarz glänzendes Haar, freundlich-markantes Gesicht – Ehud Amir gäbe auch einen gut aussehenden Schauspieler ab. Aber er ist gelernter Finanzkaufmann. Aus dem israelischen Tel Aviv kam er vor zehn Jahren in die ungarische Hauptstadt. Als Immobilien und Finanzberater einer internationalen Consulting-Firma. Stieg dann aber selbst in das boomende Budapester Baugeschäft ein:
"Ich hatte bemerkt: Immer nur Zahlen und Nummern bringen mir keine Befriedigung. Wenn man dagegen ein Haus sieht, wie dieses hier, so eine Energie, die hier drinsteckt - das gibt wirklich ein gutes Gefühl."
Ehud blickt hinauf zu einem der fast fertigen Zehnstöcker seines "Marina-Part", wie er das Projekt getauft hat. Die edlen Holzfenster hat er persönlich ausgewählt, sagt der Präsident und Vorstandschef von ""Autoker"". 33 Firmen gehören inzwischen zu seiner Immobilienholding.
Noch bevor ein neuer Wohnblock gebaut wird, hat Amir die meisten Appartements bereits verkauft. Der bewachte Wohnpark am grünen Donauufer ist heiß begehrt, bei erfolgreichen Aufsteigern und jungen, solventen Familien.
"Okay, das Baugerüst steht noch im Weg, aber ansonsten ist der Blick einfach unglaublich von hier. Wenn es fertig ist, werden die Leute hier morgens sitzen und frühstücken. Ich glaube, das hier ist jedes Geld der Welt wert."
Ehud steht vor dem noch unverglasten Panoramafenster im zehnten Stock, lässt seinen Blick über die Donau und angrenzendes Berg-Panorama schweifen. Im sonnigen Gegenlicht sieht man die ersten grauen Haare an seinen Schläfen. Bisher ist alles bestens gelaufen bei seinem steilen Aufstieg vom angestellten Finanzberater zu Budapests größtem Immobilien-Entwickler. Aber nun hat sich Ehud Amir auf ein neues, ihm noch unbekanntes, Terrain vorgewagt: Die Sanierung des "Gozsdu Udvar" - eines riesigen Altbaukomplexes mit sieben Hinterhöfen, mitten in der Erzsébetváros, der Elisabethstadt.
"Ja. das ist etwas völlig anderes. Und - wie ich von Anfang an befürchtet habe - bereitet es mir sehr viel mehr Kopfzerbrechen als ein Neubau."
Der Israeli hat das gewaltige Sanierungsprojekt in dem alten jüdischen Viertel von einem Freund übernommen, dem das Geld ausgegangen war. "Aber wenn der Gozsdu Udvar erst einmal fertig ist, werden wir sehr stolz darauf sein," Ehuds schwarzen Augen blicken in die Ferne.
"Vor allem weil der Gozsdu Udvar zur jüdischen Geschichte von Budapest gehört. Und ich als Jude muss mich damit verbunden fühlen. Es gibt dort eine einzigartige Baustruktur. Wir sind glücklich dass wir das Recht haben, sie zu erhalten."
Über den Ärger, den er sich in der Erzsébetváros eingehandelt hat, sagt der Immobilien-Entwickler Amir nichts. Nach dem Abriss einiger alter Gebäudeteile, kam es dort zu Protesten. Ein Abrissstopp wurde verhängt, der auch seine Vorhaben betrifft. Bürger, Denkmalschützer und Bezirksverwaltung ringen um die Überarbeitung der Sanierungspläne. Wie denkt Amir über die nun aufgeflammten Konflikte? Der sonst so entscheidungsfreudige Investor schaut etwas ratlos zuckt mit den Schultern.
Er versucht sich da raus zu halten, soweit es geht, sagt Amir, denn wenn man sich in die Politik einmischt, kann man langfristig nur verlieren.
"Natürlich spenden wir etwas für die Stadt und für die Renovierung der Stadt. Aber sonst halten wir uns da ganz raus. Wenn er mehr alte Häuser renovieren soll, anstatt sie abzureißen und neue zu bauen, dann muss der Bezirk sie entsprechend günstig verkaufen," findet der erfolgreiche Finanz- und Immobilien-Experte
!Junges, lebendiges Leben – auch das gibt es wieder in den alten Gemäuern des jüdischen Viertels. Es gibt ein paar neu eröffnete kleine Restaurants, ein jiddisches Cabarét und den "Szimpla Kert", zu Deutsch: simpler, einfacher Garten, ein alternatives Kultur-Café, betrieben von einem vierköpfigen Kollektiv. Junge Leute, die sich als Studenten kennen gelernt haben und nun einen florierenden Laden betreiben, der in Szene-Kreisen inzwischen weit über Budapest und Ungarn hinaus bekannt ist.
Neues Leben in verlassenen Häusern – ein Alternativ-Café in der Erzsébetváros
Es ist Sonntagnachmittag. Und es ist noch ruhig im Szimpla Kert. Sonnenstrahlen dringen in das alte, unverputzte Backsteingemäuer durch einen kleinen Innenhof und durch das teilweise fehlende Dach. Dort, wo es hell ist, wachsen tropische Grünpflanzen und heimische Geranien. In den dämmrigen Nischen des Gebäudes, sieht man mehrere Bars, alte Couchgarnituren, Wiener Caféhaus-Tische und Tischtennisplatten. Einige der Gäste sitzen vor ihrem Laptop, schreiben oder surfen im Internet. "Drahtlos über unser Funknetz", sagt Attila Kisch, der gerade in seinen Laden kommt. Er ist hier der "Chef", aber dieses Wort mag er eigentlich nicht:
"Wir sind hier zu viert, aber natürlich arbeiten hier viele Leute und ein bisschen sieht es so aus wie ein Familien-Unternehmen."
Attila Kisch ist Anfang dreißig. Er trägt ein goldbraunes Samtjacket, zu handgestricktem, blauen Pullover und Bluejeans. Sein blondes Haar ist dynamisch kurz geschnitten. In der Hand hält er einen kleinen Aktenkoffer. Früher hat er mal Soziologie studiert, nun leitet er die Geschäfte des Ruinen-Cafés in der alten Elisabethstadt. Das Wort "Ruinen-Café" mag er allerdings auch nicht.
"Das ist ein ehemaliges Industriegebäude in der Innenstadt Hebräische Ofenfabrik, ich habe keine Ahnung, was das bedeuten kann. Wir sind sowieso im jüdischen Viertel, unser Nachbar ist ein jüdisches Bad, ein rituelles Bad."
1948 war der jüdische Eigentümer nach Südamerika ausgewandert, nachdem die Kommunisten alle Häuser und Gewerbebetriebe in der Erzsébetváros verstaatlicht hatten. Das hat Attila von dem Sohn des ehemaligen Besitzers erfahren, als der vor einiger Zeit nach Ungarn kam, um die Fabrik seiner Eltern anzuschauen. Er staunte, dass er hier in der Kazinczy-Gasse nun ein neues Café vor fand, inmitten der verfallenden alten Häuser.
"Es war vor drei Jahren, als wir zum ersten Mal auf die Idee kamen, dass im Bezirk so viele Häuser, alte in schlechtem Zustand sind. Und dass wir sie für eine Zeitlang verwenden können."
Geld hatten Attila und seine Kollegen damals keines. Aber an Ideen mangelt es ihnen nicht. Es gelang ihnen eine billige Miete aus zu handeln und befreundete Architekten halfen ihnen, dass die einsturzgefährdeten Gemäuer fachgerecht gesichert wurden. Möbel und Einrichtung besorgten sie sich auf dem Flohmarkt. Und so manches brauchbare Teil fand sich auch noch in der alten Fabrik. Attila zeigt auf das alte stählerne Jugendstil-Handwaschbecken. Es hängt oben an der Wand und ist mit rankenden Gewächsen bepflanzt.
"Wir konnten nie für eine lange Zeit denken, wir haben also einfach aufgebaut, so billig wie möglich ist. Trotz der Billigkeit wollten wir auch, dass es gut aussieht."
Einige Ideen für das Café und den angeschlossenen Biergarten im Innenhof, hat er sich in Berlin abgeguckt, sagt Attila. In den Neunzigern hat der dort studiert. Damals entstanden viele neue Kneipen und Cafés in den alten, unrenovierten Häusern. Vor allem am Prenzlauer Berg und in Mitte. Heute seien diese Orte total "angesagt" bei Berlinern und Touristen. Auch in der Erzsébetváros gab es schon einen Boom für die alternativen Szenekneipen. Inzwischen sei der aber schon wieder vorbei.
"Der Höhepunkt war letzten Sommer, als so sechs, sieben Open-Air-Bars, sagen wir, in der Umgebung waren. Und dann diesen Sommer hat hauptsächlich die Bezirksverwaltung ihre Meinung geändert und wollte ein bisschen diese Entwicklung stoppen."
Der Bezirk kündigte den Läden, die in seinen Immobilien aufgemacht hatten, kurzerhand die Verträge. Die Häuser stehen jetzt wieder leer und warten auf den Abriss. Der Szimpla Kert hatte Glück, denn die alte Ofenfabrik gehört nicht dem Bezirk sondern einer privaten Immobiliengesellschaft. "Noch lassen sie uns in Ruhe" sagt Attila und schließt eine Tür auf, die das Café und den Biergarten von dem hinteren Teil des Gebäudes trennt.
Attila streckt den linken Arm aus und zeigt ein stolzes Lächeln. Er steht in einem Kinosaal. Der Zuschauerraum hat Platz für 50 Besucher und ist mit alten Autositzen. Marke Lada und Trabant ausgestattet. Das Kino ist die neueste Idee des Szimpla Teams.
"Und jetzt werden wir auch eine Filmwoche machen, wo die Filme nur mit englischen Untertiteln laufen, weil auch unter den Kinozuschauern gibt es ziemlich viele Nicht-Ungarn."
Das Szimpla Kert in der Erzsébetváros ist ein beliebter Treffpunkt für junge Leute aus ganz Europa geworden, die mit den Billigfliegern auch schon Mal für einen Kneipenabend in die ungarische Hauptstadt jetten. Aber wie lange es den Szimpla Kert noch geben wird, weiß Attila Kisch auch nicht..
"Erster Stock, 14 und 19. Doppeleingang von der Treppe aus. Der Hausbesitzer. Das Fräulein spielt Klavier. Der Komponist Régholt dreht sich im Grabe um. "Herrlich!" seufzt Alfréd, der Sohn eines anderen Hausbesitzers. Drei Häuser und zwei Häuser macht fünf Häuser. Der Hausbesitzer verhandelt in seinem Arbeitszimmer mit dem Doktor, der der Anwalt und Verwalter der drei Häuser ist. "Schrecklich!" braust der Hausbesitzer auf. "Es ist schon der Zehnte, und einige haben noch immer nicht gezahlt. Eine Wohnung steht leer. Und wenn sie ein Jahr leer steht, billiger gebe ich sie nicht ab. Die Leute möchten umsonst wohnen. Zuerst kommen bei denen Putz und Fresserei, der Hausbesitzer jedoch soll aus seinem eigenen Haus ausziehen und die Straße fegen! ... "Es muss unbedingt eine Besserung eintreten. Ich erwarte eine Verbesserung". "Ja, selbstverständlich. Die Mieten können nicht so bleiben. Und sagen Sie, lieber Herr Doktor, sind sie informiert, wird es eine Renovierungsanleihe geben oder nicht? Schließlich kann ich das Gebäude doch nicht von meinem eigenem Geld instand halten, wo es doch ein nationales Vermögen darstellt und es somit auch im Interesse des Staates liegt, dass es sich in einem guten Zustand befindet."
Das Erzsébetváros ist wieder zu dem geworden, was es früher schon einmal war: eine Spielwiese für Spekulanten und Miethaie. Doch anders als früher, rührt sich heute ziviler Widerstand. Vor allem die junge Generation wehrt sich gegen den Abriss der historisch und kulturell wertvollen Altstadt-Quartiere – manche mit legalen, andere auch mit illegalen Mitteln. So hat sich im Umfeld der Budapester Universitäten eine junge Hausbesetzer-Szene formiert, die fest entschlossen ist kompromisslos für ihre Ziele zu kämpfen.
19 Uhr abends an der philologischen Fakultät der "Elte"- Universität: 23 junge Frauen und Männer haben sich in einem kahlen Seminarraum versammelt und besprechen die Themen-Liste an der Tafel. "Medien" steht da zum Beispiel und "Straßen-aktionen". Und ganz oben: "Centrum Squat." Squat ist das englische Wort für Hausbesetzung. Und "Centrum" nennt sich die hier versammelte Gruppe, nach einem alten Budapester Kaufhaus, das sie eine zeitlang besetzten.
Radikal und illegal – In Budapest formiert sich eine junge Hausbesetzer-Szene
Schwarze Kapuzenpullis, Punks mit Dosenbier, Hip-Hopper, Rasta-Freaks und Normalos: 23 junge Leute sitzen im kahlen, neonbeleuchteten Seminarraum der "ELTE"-Universität , diskutieren. Über das nächste Flugblatt, über eine Kampagne im Internet. Und über die Frage welche Häuser geeigneter sind: Die von privaten Eigentümern oder die des. Bezirkes. Geeigneter sind für einen "Squat", eine Hausbesetzung. Eine Stunde lang dauert die Sitzung der "Centrum-Squat", wie sich die Gruppe selber nennt.
Wir gehen jetzt in die Dohany Strasse, das ist so zehn, 15 Minuten von hier", sagt Maxi, Mitbegründer und Sprecher der "Centrum-Squat". Dort in der Erzsébetváros liegt ihr derzeitiges "Hauptquartier", der Kellerklub "AK 57". Wir bereiten uns dort auf den nächsten "Squat" vor, sagt Maxi.
"Es war ein langer Prozess mit verschiedenen Stufen. Verschiedene Leute von uns haben besetzte Häuser überall in Europa besucht. Sie erlebten dort eine große Gastfreundschaft bei den Besetzern. Immer wieder wurden sie gefragt, ob es besetzte Häuser auch in Ungarn gibt."
Schnellen Schrittes eilt Maxi über die abendliche Rakóczi Straße. Ein unauffälliger junger Mann Mitte zwanzig, mit halblangem, gepflegtem Haar und weichen Gesichtszügen. Er studiert Englisch, Literatur, Filmtheorie und Kunstphilosophie, erzählt er. Viele in der Gruppe kämen aus der philosophischen Fakultät. Aber auch Agrarstudenten, Mathematiker und Geografen seien dabei. Und andere Leute aus den verschiedensten Szenen. Gemeinsam sei ihr Ziel: sich in der Stadt selbst verwaltete und autonome Räume zu schaffen, jenseits vom allgegenwärtigen Kommerz und Kapitalismus.
"Was wir wirklich wollen: Ein Haus zu haben, um eine soziales und kulturelles Zentrum für uns zu schaffen, das sich auch um den Schutz der Stadt kümmert. Und wir würden ihnen gerne zeigen, dass sie uns nicht stoppen können""
Mit "sie" meine er die etablierte Politik im Allgemeinen und die Bezirksverwaltung im Besonderen. Natürlich habe die Gruppe zu Anfang versucht, ganz legal an eines der vielen leer stehenden Häuser in der Erzsébetváros oder anderswo zu kommen. Aber die Bezirksverwaltung habe sie immer wieder "abblitzen" lassen. Mit legalen Mitteln oder normalen Protesten käme man oft nicht mehr weiter. Auch Umweltgruppen oder andere NGO´s griffen deshalb immer häufiger zu außergewöhnlichen Maßnahmen. Um ihre Ziele durchzusetzen, gegen die Interessen der etablierten Politik.
Er hoffe, dass sich dieser Radikalisierungsprozess weiter fortsetzt. Maxi eilt die Treppe einer Fußgängerunterführung hinunter. Sie wurden noch zu sozialistischen Zeiten gebaut, als Budapest versuchte, eine autofreundliche Stadt zu werden. Heute erstickt die Hauptstadt im Dauerstau. "Budapest gehört auch Dir", diesen offiziellen Werbeslogan, hatten Maxi und die anderen an das Haus in der Kazinczy-Gasse gehängt. Erst kürzlich hatte die "Centrum-Squat" es besetzt. Konnten es aber nicht halten. Nach 48 Stunden wurden sie sich von der Bezirksverwaltung und der Polizei verjagt. Maxis weiche Gesichtszüge sind jetzt angespannt. Beim nächsten Mal werde es jeden Fall besser laufen. Strategie und Logistik seien verbessert worden. Die Zahl der Sympathisanten steige. Bis zu 200 Leute wären zur aktiven Unterstützung bereit. Und vielleicht dreißig würden sie auch verbarrikadieren.
"Das kann ausreichen, um wirklich etwas zu erreichen. Nicht in dem Sinne, dass wir das Haus tatsächlich auf Dauer halten können. Aber es reicht, um zu zeigen, dass jedes Mal, wenn sie uns raus schmeissen, wir nicht schwächer, sondern stärker werden."
Maxi bleibt vor einem großen Eisentor stehen, tippt einen Nummern-Code ein, um es zu öffnen und eilt über den Hinterhof zu einem Kellereingang im rechten Seitenflügel des alten Mietshauses. Hier befindet sich das Hauptquartier der Hausbesetzer-Gruppe. Die Räume wurden von einer wohltätigen Stiftung zur Verfügung gestellt. Kein besetztes Haus also.
"Hier ist unser Aktiv-Raum". Maxi macht eine ausladende Armbewegung in den großen Keller. Am Pinboard hängen Fotos von spanischen Hausbesetzern. Über einer Wäscheleine frische gemalte Protestplakate für die nächste Besetzungsaktion. Auch das Mobiliar dafür gibt es schon: Alte Tische und Stühle, die hier noch repariert werden. In einer Ecke hockt ein Mitstreiter am Computer, surft drahtlos im Internet. Aus dem Nachbarraum dringen harte Punk-Rock-Rhythmen.
Viele von uns kommen aus der Punkszene, sagt Maxi. "Entschlossene Leute". Er selber mag keinen Punkrock, nur elektronische Experimentalmusik, sagt der angehende Kunstphilosoph. Im Bar-Raum gibt es jetzt eine heiße Suppe für alle. Alkohol gibt es nicht. Weil jetzt der neue Schlachtplan geschmiedet werden soll, für die nächste Hausbesetzung in der Erzsébetváros. Dann wird Maxi alle Anwesenden darum bitten ihre Handys abzuschalten und die Batterien herauszunehmen. Aus Sicherheitsgründen.
"Wir glauben, dass der Staatsschutz unsere Telefone abhört," sagt Maxi und lächelt. Er weiß: Rituale sind enorm wichtig für den Zusammenhalt der Gruppe. Die fest entschlossen ist den Kampf aufzunehmen - für ihre Vorstellungen von einem lebenswerteren Budapest.
Sie hörten "Gesichter Europas": Zwischen Abbruch und Aufbruch –
Kehrseiten einer Generalsanierung: Die Elisabeth-Stadt in Budapest.
Eine Sendung von Jan-Uwe Stahr. Die Musikauswahl traf Matthias
Mauersberger. Die Literaturauszüge entnahmen wir Lajos Nagys Kurzgeschichte "Mietshaus" aus "Nyugat und sein Kreis", erschienen im Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1989. Gelesen wurden sie von Hans-Gerd Kilbinger.