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Zwischen Alptraum und Absurdität

Im sozialistischen Rumänien wird ein Elfjähriger Zeuge, wie Beamte des Geheimdienstes seinen Vater abholen. Fortan gilt der Junge in der Schule und auf der Straße als Dissident. György Dragomán schildert in "Der weiße König" die ungeheuerliche Gewalt und Absurdität der Diktatur.

Von Sabine Peters |
    Das System "Diktatur" will vereinheitlichen, es schert Individuen gewaltsam über einen Kamm - und jede Literatur versucht, dieses Bestreben zu unterlaufen. Die Sprache setzt dem Eindeutigen das Mehrdeutige entgegen; inhaltlich werden Handlungen entwickelt, die der geballten Macht etwas entgegenhalten - und wenn es nichts ist als der einzelne, widerständige und zerstörbare Mensch.

    Aldous Huxley hat in seinem Roman "Schöne neue Welt" eine Gesellschaft anästhesierter "Glücklicher" durch die Figur eines Wilden konterkariert, der ihnen seinen Wunsch nach Gott, Poesie, Freiheit und Sünde entgegenschrie. Der Wilde scheiterte, und doch war dieses Scheitern Ausdruck von Selbstbestimmung und Protest.

    Ist ein Kind so etwas wie ein Wilder? György Dragomán hat seinen zweiten Roman "Der weiße König" konsequent aus der Perspektive eines Kindes geschrieben, das im Rumänien der achtziger Jahre aufwächst. Dabei verfällt er keineswegs in einen naiven Tonfall, den Erwachsene gern mit der "unschuldigen" Kindheit assoziieren.

    Dragomán wurde 1973 in Siebenbürgen geboren, heute lebt er in Budapest. Neben seiner Arbeit als Autor schreibt er Filmkritiken und übersetzt Klassiker der Moderne wie Beckett und Joyce. Sein Buch "Der weiße König" ragt über viele realistische Romane, die in osteuropäischen Diktaturen spielen, weit hinaus. "Der weiße König" wird derzeit in fünfzehn Sprachen übersetzt, und man wünscht diesem kunstvoll kalkulierten, verstörenden Buch entsprechend viele Leser. Denn Dragomán folgt einer Forderung Kafkas: Literatur müsse die Axt für das gefrorene Meer in uns sein.

    Der Autor erzählt aus dem Alltag des Jungen, Szenen, die wie Kurzfilme funktionieren. Die äußerst konzentrierten, verdichteten Episoden werden allerdings von etwas Surrealem, Alptraumhaften durchweht - als seien die Figuren von einem Augenblick zum nächsten Bewohner einer Unterwelt geworden.

    Dem Elfjährigen sind Ausdrücke wie "politisch unzuverlässig" oder "staatsfeindliche Sabotage" geläufig. Sein Vater wird plötzlich abgeholt, zu einer "Dienstreise"? Ein Gewirr verästelter Gerüchte legt nahe, dass er in ein Arbeitslager interniert wurde. Vom Großvater, einem Parteisekretär, ist keine Hilfe zu erwarten. Der Junge versucht, seiner Mutter beizustehen; einmal begleitet er sie zu einem höhergestellten "Genossen", um - vergeblich - herauszufinden, was aus dem Vater geworden ist. Der Genosse möchte mit der Mutter allein sein, und der Junge stiehlt im Nebenzimmer den weißen König eines Schachautomaten. Dieser König funktioniert manchmal als geheimer Glücksbringer; er könnte auch für den Vater stehen, aber Dragomán vermeidet es, ein Bild mit Symbolik zu überladen.

    Es sind auf den ersten Blick oft unscheinbare Episoden, die geschildert werden, und doch lauert hier stets eine Dimension des Schreckens, die ans Groteske rührt. Da schindet ein Lehrer im Jahr 1986 seine Schüler auf dem Fußballfeld - dass sie teilweise von ihm schon blutig geschlagen sind, wird nebenbei klar - und als Soldaten auftauchen, um die vom Reaktorunfall in Tschernobyl herrührende Radioaktivität zu messen, raten sie den Kindern, Ballkontakt zu meiden. Wie sollen sie dann Fußball spielen? Keine Antwort. Sie müssen eben spielen.

    Opfer und Täter sind in diesem Buch nicht sauber zu unterscheiden - die ganze Gesellschaft ist skrupellos, brutal, verschlagen, zynisch. Die Erwachsenen finden ein Ventil in den Kindern, aber auch unter ihnen herrschen Erpressung, Verrat und Gewalt. Wie sehr auch schon ein Kind das repressive System verinnerlicht hat, wird deutlich, wenn der Elfjährige ganz selbstverständlich mit seinem eigenen Verschwinden rechnet: Als Sohn von "Staatsfeinden" selbst politisch verdächtig, stellt er sich vor, wie sein Bild aus einem Klassenfoto entfernt wird - so, wie auf einem Bild diverser Generäle die Gesichter derjenigen, die in Ungnade fielen, retuschiert wurden.

    Bei allem Grauen gibt es in diesem Roman Augenblicke, in denen die Hoffnung aufscheint, es könne einen unzerstörbaren Kern im Menschen geben. Der Bauarbeiter Spitzhacke entschuldigt sich bei dem Jungen für den zynischen Spaß, den er und seine Kollegen mit ihm trieben, sofern sie behaupteten, seinen Vater gesehen zu haben. Spitzhacke führt den Jungen in seine Hütte, wo er eine ganze Schar Vögel hält. Sie hören verzaubert ihrem Gesang zu, und dann erklärt der Mann, "was wir als schöne Musik wahrnehmen, sei in Wirklichkeit nur Geschrei, ein Fluchen und Drohen".

    Es ist gewagt, zu sagen, für Dragománs Roman gilt die Umkehrung: Das Schreien, Fluchen und Drohen der Figuren wird hier selbst zu einer Musik. "Gewagt" ist das, weil der Autor sich ja mit realen zeitgeschichtlichen Erfahrungen auseinandersetzt. Und doch findet der Roman zu einem Ausdruck, zu einer Form, die über die Tatsachen hinausreicht. Dragomán leugnet nicht die ungeheuerliche Gewalt und Absurdität der Diktatur, malt sie auch nicht schön - und doch entsteht hier eine Art von Musik. Sie ist durchdringend, schneidend und dabei seltsam leicht.

    In einem fulminanten Finale wagt der Junge einen radikalen Aufstand: Anlässlich der Beerdigung des Großvaters, einer durch und durch verlogenen Veranstaltung, führen Gefängnisaufseher den Vater in Ketten herbei. Eine Einbildung des Kindes? Die Realität jedenfalls wird gesprengt, der Furor bricht aus. Die Sprache, die über weite Strecken hinweg mäandriert, sich einmal verzögert, dann beschleunigt, stürmt jetzt unaufhaltsam voran: Im letzten düster leuchtenden Bild zeigt Dragomán den Jungen, der sich durch die aufgestörte schreiende Trauerversammlung schlägt. Ein wildes, wild gemachtes Kind, das in seinen erhobenen Armen eine Brechstange hält und das dem Gefangenentransporter mit dem Vater nachrennt, immer schneller und schneller.
    György Dragomán: Der weiße König
    Aus dem Ungarischen von Lazslo Kornitzer
    Suhrkamp, 280 Seiten, 19,80 Euro