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Zwischen Barbarei und Zivilisation

"Sao Paulo ist nicht schön, regt jedoch zur Reflexion an, weil sich die Stadt an dieser dünnen Grenze zwischen Barbarei und Zivilisation befindet, deren Metapher Sao Paulo ist", sagt Autor Carvalho über "seine" Stadt: So dient sie auch als Spielort eines Romans über das Leben japanischer Einwanderer.

Eine Rezension von Margrit Klingler-Clavijo | 05.01.2010
    Bernardo Carvalho, 1960 in Rio de Janeiro geboren, war zunächst
    Auslandskorrespondent der brasilianischen Tageszeitung Folha de Sao Paulo in Paris und New York, eh er sich der Literatur verschrieb, Bruce Chatwin und Oliver Sacks übersetzte, 1993 mit "Aberacao" seinen ersten Erzählungsband vorlegte, dem neun Romane folgten. Für den Roman "Neun Nächte" wurde er mit den renommiertesten Literaturpreisen Brasiliens - Jabuti und Machado de Assis - ausgezeichnet. Für "Mongolia" erhielt er 2003 den Preis des brasilianischen Kritikerverbandes APCA. 2004 wurde er zum zweiten Mal mit dem Jabuti geehrt und war Finalist beim hoch dotierten Literaturpreis Portugal Telecom.

    "Ich lebe in Sao Paulo, einer äußerst chaotischen, doch hochinteressanten und lebendigen Stadt, die nur so strotzt vor Energie, einer Art New York der Dritten Welt, ein New York der Armen mit viel Gewalt und einer kosmopolitischen Kulturproduktion. Ich habe lang überlegt, ob ich nicht ein Buch über Sao Paulo schreiben sollte, weil sich die brasilianische Literatur kaum auf diese Stadt bezieht. Das ändert sich allmählich seit den 90er-Jahren. ( ... ) Nachdem ich drei Jahre mit der experimentellen Theatergruppe Teatro da Vertigem zusammengearbeitet hatte, die ihre Stücke an so außergewöhnlichen Orten wie ehemaligen Gefängnissen und Krankenhäusern oder in Kirchen aufführt, wurde ich gefragt, ob ich ihr nächstes Stück schreiben wollte, das auf mehreren, auf dem Tieté fahrenden Schiffen gespielt werden sollte. Dieser Fluss fließt quer durch Sao Paulo und ist eine offene, stinkende Kloake, eine Art Symbol der gescheiterten Moderne."

    So beschreibt Bernardo Carvalho die größte Handels - und Wirtschaftsmetropole Lateinamerikas, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit ihren großspurigen Fortschrittsverheißungen Einwanderer aus aller Welt anlockte: Portugiesen, Italiener, Syrier, Libanesen, Deutsche, Japaner. Letztere haben 1908 in Sao Paulo ihr eigenes Stadtviertel "Liberdade" gegründet.

    Ebendort beginnt Carvalhos Roman im Stammlokal eines arbeitslosen Werbefachmanns. Dessen Inhaberin, eine ältere Japanerin namens Setsuko, bittet ihn zu vorgerückter Stunde, ihre Lebensgeschichte aufzuschreiben, auf Portugiesisch wohlgemerkt. Setsuko, die seit gut 50 Jahren in Sao Paulo lebt, lädt den Werbefachmann, der sich als verkappter Schriftsteller entpuppt, mehrmals zu sich nach Hause ein. In einer geradezu idyllischen Enklave, abgeschirmt vom Getöse der Großstadt, beginnt Setsuko von einem amourösen Dreiecksverhältnis zu erzählen. Darin hatte sich ihre Freundin Michiyo verstrickt, ein Mädchen aus gutem Hause. Die hatte Jokichi, den Sohn eines einflussreichen Industriellen geheiratet, obwohl sie sich nicht von Masukichi lösen konnte, einem Kyogen–Schauspieler, der sie demütigte und erniedrigte und seinerzeit auch Setsuko verführt hatte. Eingeschrieben ist der vertrackten Beziehungskiste noch eine tragische Verwechslungsgeschichte, wie sie in Kriegszeiten überall vorstellbar ist. Jokichis Vater, ein einflussreicher und einsamer Industrieller, möchte verhindern, dass sein einziger Sohn am Zweiten Weltkrieg teilnimmt. Daher schickt er anstelle des Sohnes einen einfachen Arbeiter in den Krieg, der stirbt und unter Jokichis Namen beerdigt wird. Als dieser nach dem Tod des Vaters von der Verwechselung erfährt, die ihm das Leben gerettet hat, möchte er sich bei der Familie des Arbeiters entschuldigen. Doch die lehnt die Entschuldigung und die von Jokichi ins Auge gefasste Entschädigung ab. Soweit in groben Zügen das Romangeschehen.

    Der ehemalige Werbefachmann, ein Nachfahre japanischer Einwanderer, wird über seine Recherchen mit der japanischen Kultur konfrontiert, die er bislang verschmäht hatte. Um die merkwürdigen Geschichten aufzuklären, die ihm Setsuko erzählte, bis sie urplötzlich verschwand, reist er sogar nach Japan. Geklärt werden die amourösen Verwirrungen allerdings erst ganz zum Schluss des Romans in einer Kleinstadt im Hinterland von Sao Paulo.

    Wie bereits in früheren Romanen inszeniert Bernardo Carvalho ein ausgeklügeltes Spiel mit Identitäten und Masken. Da ist der aktive Leser mit detektivischem Scharfsinn gefragt, um bei den häufigen Namens - und Identitätswechseln der Romanfiguren nicht den Überblick zu verlieren. Doch es lohnt sich, in einen Roman einzudringen, der durch beeindruckende Beschreibungen einer globalisierten Arbeitswelt besticht, der Fremdsein und existenzielle Verunsicherung zur Sprache bringt und nicht über zivilisatorische Brüche hinweg sieht. Was ist Fiktion, was Realität? Gibt es heutzutage überhaupt noch Schriftsteller mit ureigenem Stil und individueller Note? Carvalho erörtert diese Fragen, indem er sich ausführlich auf die japanische Kultur bezieht, auf das Kyogen - Theater und Schriftsteller wie Yukio Michima und Jun´ichiro Tanisaki, vor allem auf dessen "Lob des Schattens":

    "Ich war begeistert von Tanisaki, verkörpert er doch für mich den Autor, der sich in einem widrigen Umfeld behauptete, der Welt des Korpsgeistes, der großen Firmen, wo der Einzelne wie eine Art Ameise für das Kollektiv arbeitet. Dennoch hat er eine Literatur geschaffen, die es so in Japan vor ihm nicht gegeben hatte. Er hat der Literatur seinen ganz persönlichen Stempel aufgedrückt, was mich brennend interessiert. Es war schon ein Ausdruck von Militanz auf Tanisaki zurückzugreifen an einem Ort wie Sao Paulo, der dem individuellen Schaffen derart abträglich ist."

    Bei Carvalhos Reflektionen über die Funktion von Literatur fließen, ohne dass er das eigens hervorhebt, seine jüngsten Erfahrungen an der Peripherie von Sao Paulo mit ein. Die endlosen und erbitterten Diskussionen beim "Teatro da Vertigem", das die Arbeit im Kollektiv bevorzugt, während er auf den individuell schaffenden Autor setzt, jedoch bei seiner Arbeit mit jugendlichen Analphabeten erkennen muss, dass ihnen seine Art von Literatur gar nicht zugänglich ist. Etwa zur gleichen Zeit fanden im Mai 2005 in Sao Paulo Überfälle und Belagerungen von Banken, Busstationen und Polizeirevieren statt, bei denen blitzschnell agierende Verbrecherbanden in anonymen Netzwerken operierten.

    "Die terroristischen Zellen agierten anonym, als ob es keinen Autor gäbe. Da war eine Konjunktion von Leuten am Werk, ohne dass man erfuhr, wo der Befehl herrührte, wer den Befehl gab. Panik in der Stadt. Angriffe auf Polizeireviere. Nachmittags wurde die Arbeit niedergelegt, und ganz Sao Paulo kehrte erschrocken nach Hause zurück. Ich bekam einen Hass auf die Leute, weil sie so feige waren angesichts der Überfälle des organisierten Verbrechens. Wie kann eine Stadt mit 17 Millionen Einwohnern, plötzlich einem Dutzend Menschen nachgeben und überhaupt keinen Widerstand leisten? Ich schäumte vor Wut und wollte den Leuten zu schreien: Wovor flieht ihr überhaupt?"

    Bei seinen Recherchen über Japaner in Brasilien machte Carvalho viele Entdeckungen, die in den Roman mit eingeflossen sind. So hatte Yukio Mishima nach dem Zweiten Weltkrieg Brasilien als Journalist bereist und war im Hinterland von Sao Paulo bei einem Sympathisanten japanischer Rechtsextremisten zu Gast gewesen, die hartnäckig Japans Niederlage im Zweiten Weltkrieg leugneten. Als Schriftsteller interessiert sich Carvalho vor allem für das mangelnde Zugehörigkeitsgefühl der nach Brasilien emigrierten Japaner.

    "Ich interessierte mich für ein Exil, wo man weder Japaner noch Brasilianer ist, also für jemand, der sich nicht an eine fest umrissene Identität klammern kann. Das ist zwar hart, doch als Schriftsteller interessiere ich mich vor allem dafür. Ich wollte ein Werk schaffen, dass dieses "Kein Zuhause Haben" zur Sprache bringt. Genau da sollten die Überlegungen eines Autors ansetzen. Ich habe nie verstanden, was eine nationale Identität ausmacht, das klingt merkwürdig, ich leide darunter und habe das an meine Romanfiguren weitergegeben."

    Dass sich Carvalho japanische und keine italienischen oder portugiesischen Einwanderer ausgesucht hat, um über die Risse und Brüche von Identitäten zu reflektieren, erklärt sich über seine Kritik am westlichen Entwicklungsmodell.

    "Diese Stadt und Brasilien generell sind das Ergebnis einer Projektion des Westens, einer westlichen Kolonisation und deren Verlangen nach Aufklärung. Das ganze Verfassungssystem Brasiliens wurde nach westlichem Vorbild geschaffen: die Vorstellung, etwas über Ausbildung und Erziehung zu erreichen, dass es bürgerliche Rechte gibt, was jedoch faktisch Tag für Tag negiert wird. Obwohl Sao Paulo sehr gewalttätig ist, ist die Stadt zugleich sehr inspirierend, da man mit tieferen Wahrheiten in Berührung kommt. Sao Paulo ist nicht schön, regt jedoch zur Reflexion an, weil sich die Stadt an dieser dünnen Grenze zwischen Barbarei und Zivilisation befindet, deren Metapher Sao Paulo ist."

    Bernardo Carvalho: "Die Sonne geht in Sao Paulo unter". Luchterhand, München, 2009. Übersetzung aus dem Portugiesischen: Karin von Schweder - Schreiner. Preis: 19,95 Euro