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Zwischen Bullerbü und Hagalund

Wenn wir hierzulande an Schweden denken - woran denken wir dann zuerst? - Genau, an Astrid Lindgren, an ihre zahlreichen Helden, an weiße Wölkchen im Himmelblau und Wälder und Seen und Freiheit und seit einigen Jahren sicher auch an die Tristesse schwedischer Vorstädte, in denen vom Leben gezeichnete schwedische Kriminalkommissare schon lange ermitteln müssen, bis sie Reste von unschuldigen Schäfchenwolken entdecken und von fundamentaler Güte des Menschen.

Von Siggi Seuß |
    Zwar wissen wir schon lange, dass es auch eine dunkle Seite Schwedens gibt - und damit sind nicht die Mittwintertage gemeint. Aber trotz alledem oder gerade deshalb: Der Traum vom schwedischen Paradies der Kindheit hält sich beharrlich, diese konkrete Utopie einer kleinen, naturnahen, überschaubaren - nicht unbedingt heilen, aber heilbaren Welt. Nirgendwo zeigt sich diese unauflösbar scheinende Spannung zwischen heiler, heilbarer und unheilbarer Welt so klar wie in der schwedischen Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Siggi Seuß stellt uns neue Bücher vor.

    Die Erben von Bullerbü tummeln sich neben den tragikomischen Junghelden, die Abenteuer zu durchleben und zu durchleiden haben, und die wiederum neben den "Schmutzigen Realisten" von Mats Wahl und seinen literarischen Mitstreitern. Wenn man jedoch das Klischee einer heilen Welt einmal beiseite legt und das Werk Astrid Lindgrens nicht auf die Sonnenseiten reduziert, dann finden sich in ihm eine ganze Menge dunkler Flecken, selbst in der schönsten Naturidylle: Krankheit und Tod sind nahe - man denke nur an die Brüder Löwenherz, man denke an "Mio, mein Mio", man denke an das dramatische Ende der Kindheit in "Ronja Räubertochter" oder an die einsamsten Kinder der Welt in "Nils Karlsson Däumling".

    "Die Gegenwelt von Bullerbü ist deprimierend und bösartig",".

    schreibt Maren Gottschalk in ihrem Buch "Jenseits von Bullerbü - Die Lebensgeschichte der Astrid Lindgren". Die Biografin begründet anschaulich, warum die bekannteste Schriftstellerin der Welt - die 2002 im Alter von 94 Jahren starb -, warum Astrid Lindgren das kleine Universum ihrer Kindheit rund um das Gehöft Näs in Smaland so beispiellos umfassend mit Leben füllte. Wie wir wissen, beeinflusst dieser kleine Kosmos auch die Generationen von Kinderbuchautoren nach ihr, selbst wenn sie inzwischen eher die Düsternis des Alltags als die Schönheit der Natur besingen. Es waren die unverplante Zeit, das unkontrollierte Spiel und die Weite der Natur, die die Schriftstellerin in späten Jahren des Erwachsenenlebens immer wieder inspirierten - auch oder gerade in Zeiten großer familiärer Sorgen.

    ""Für die erwachsene Astrid Lindgren sind die wichtigsten Erinnerungen an ihre Kindheit mit der Natur verknüpft","

    schreibt Maren Gottschalk..

    ""Sie umschloss all meine Tage und erfüllte sie so intensiv, dass man es als Erwachsener gar nicht mehr fassen kann."

    Die kleine Astrid kennt jeden Steinhaufen, jedes Gehölz und jeden Trampelpfad rund um Näs und

    "an all das erinnere ich mich besser als an die Menschen."

    Maren Gottschalk schärft mit der einfühlsamen Darstellung des schwierigen Lebens der Schriftstellerin den Blick für die komplexen Zusammenhänge von Dichtung und Wahrheit. Sie befragte Freunde und Bekannte Astrid Lindgrens, sie interviewte Tochter Karin Nyman - eine der bekanntesten schwedischen Übersetzerinnen aus dem Deutschen -, sie griff auf Selbstzeugnisse der Schriftstellerin zurück. Und sie nähert sich sensibel dem Thema Familienkatastrophen: Astrid Lindgrens Ehemann Sture starb 1952 an den Folgen seiner Alkoholsucht. Eine ähnlich tragische Krankengeschichte führte 1986 zum Tod ihres Sohnes Lars, der, als Spross aus einer kurzen Liaison der 18-jährigen Astrid, Zeit seines Lebens darunter zu leiden schien, sich nicht genug geliebt zu fühlen.

    Warum taucht Astrid Lindgren immer wieder so tief in ihre Kindheitserlebnisse ein? Margareta Strömstedt, Astrid Lindgrens Biografin und eine der wenigen vertrauten Freundinnen , Margarete Strömstedt sagt dazu:

    "In ihrem Leben als Erwachsene gab es unheimlich viel, womit sie fertig werden musste; sie hatte viele Probleme. Und dann schrieb sie sich aus diesem Unglück heraus. Aber es war nicht nur eine Therapie. Es war gute, geniale Literatur."

    Die geniale Literatur Astrid Lindgrens bleibt in dieser Lebensgeschichte keine Randerscheinung. Maren Gottschalk verknüpft das Werk mit dem realen Leben der Autorin. Astrid Lindgren hat mit Vehemenz versucht, die innersten Angelegenheiten ihres Privatlebens vor den begehrlichen Blicken der Medienöffentlichkeit zu schützen. Es ist ihr nur zum Teil gelungen.

    "Es scheint fast, als habe sie für die Öffentlichkeit eine Kopie von sich selbst angefertigt, eine Puppe, die geduldig, freundlich, doch stereotyp auf die immer selben Fragen antwortet, während die wirkliche Astrid Lindgren sich längst irgendwohin aus dem Staub gemacht hat. Wahrscheinlich ins Arbeitszimmer zum Schreiben."

    Dort, im Arbeitszimmer, sollten wir sie uns auch zukünftig denken. Dort, von wo aus sie ihre kleinen, überschaubaren heilen, heilbaren und manchmal auch unheilbaren Welten erdachte und inszenierte. Der Schreibtisch im Arbeitszimmer - neben der Küche,

    "der beste Abflugplatz für eine Reise in die Phantasie"

    und für die Reise in die erinnerte Kindheit.


    Nach der Lektüre des nächsten Buches könnte es uns Lesern so ergehen wie dem zehnjährigen Percy beim Abschied von Blacky, dem einstmals wütenden Hengst aus Bauer Östermans Stall.

    "Ich werde jeden Tag an dich denken,".

    flüstert ihm Percy ins Ohr,

    "so gegen drei Uhr ungefähr. Ich werd dich nie vergessen."

    Naja, wir werden nicht jeden Tag um drei an jenen letzten Sommer der Kindheit denken, von dem Ulf Stark in "Ein Sommer mit Percy und Buffalo Bill" mit solch feinfühligem Humor erzählt, als sei er ein direkter Nachfahre von Astrid Lindgren. Alles ist da: schwedische Natur, Abenteuer, Menschen mit ihren Macken, Witz und - eine heilbare Welt.

    Es wird also nicht jeden Tag um drei sein, aber vermutlich immer dann, wenn wir irgendetwas entdecken, das uns nur im entferntesten daran erinnert, was sich damals, in den 1950er Jahren, zugetragen hat, auf dieser Insel im schwedischen Schärenparadies.

    "Herrlicher als so konnte das Leben nicht werden. Heute würden nämlich die Sommerferien anfangen. Und ich dachte lauter erfreuliche Gedanken."

    Unsere Liebe für literarische Wölkchenhimmel aus Skandinavien ist seit Bullerbü und Saltkrokan sowieso ungebrochen. Umso mehr gehen uns Geschichten nahe, die auf wundersame Weise Erde, Himmel und Hölle zu einem großen Ganzen zusammenfügen. Geschichten, die Lebenslust mit Leid verbinden und Alltägliches mit Außergewöhnlichem. Der 62-jährige Ulf Stark ist einer dieser Magier, die die Erinnerungen an ihre Kindheit mit Wirklichem und Fantastischem so füllen, dass man glaubt, die daraus gezauberte Welt sei nicht nur lebensfähig, nein, sie könne auch unsere eigene sein.

    Die Grundzüge der Handlung sind nicht neu. Der zehnjährige Ulf verbringt - wie jedes Jahr - die Sommerferien mit Eltern und nervendem älteren Bruder im Haus der Großeltern auf einer Schäreninsel. Einzigartig hingegen ist die Mischung aus einprägsamen Naturstimmungen, aus funkelnden Dialogen, treffender Situationskomik und liebevoll ironischer Zeichnung der Figuren. Großvater gebärdet sich wie ein fürchterlicher Brummbär, Großmutter dagegen ist eine feinsinnige alte Dame. Stört es einen großen Geist wie Ulf? Vorerst nicht. Er hat Ferienkumpels, er hat Pia, seine Jahrhundertliebe, die von ihrem Glück allerdings noch nichts weiß.

    "Ich holte meinen Zeichenblock hervor. PIA schrieb ich mit Großbuchstaben an den oberen Rand. Aber wie sah Pia noch mal aus? Ich wusste noch, dass sie dunkle Haare hatte und eine hübsche Figur. Aber wie sahen ihre Lippen aus? Und ihre Nase und ihre Augen? Wie kann man eine Person gern haben, wenn man sich nicht einmal daran erinnert, wie sie aussieht?

    Ich begnügte mich erst mal mit einem Gesicht ohne Nase, Augen oder Mund."

    Und dann hat Ulf noch Blutsbruder Percy, den er auf die Insel einlud, ohne Eltern und Großeltern Bescheid zu sagen. Percy tritt auf. Und damit kommt Dramatik ins Spiel, herzzerreißendes Liebesleid neben schwerelosem Leicht-Sinn, grenzenloser Optimismus neben einer Ahnung von fundamentalem Schmerz in der Welt der Erwachsenen.

    Der gute Percy nimmt kein Blatt vor den Mund. Sein Alles-tun-wollen, "was man so macht, wenn man in den Ferien ist", klingt wie eine Drohung.

    "Was soll man da schon sagen? Also ruderten wir zu einer Insel, wo wir zwei sehr schöne Schwungfedern fanden, eine von einer Eiderente und eine von einer Möwe. 'Jetzt bin ich Glückliche Wolke, weil ich so glücklich bin', erklärte Percy und steckte sich die Eiderfeder hinters Ohr. 'Und wer bist du?' 'Großer Arsch', sagte ich, damit er hörte, wie bescheuert das klang."

    Das kann ja heiter werden! - Es wird heiter, es wird sinnenfroh und es wird gelegentlich traurig. Und wir können uns über ein unvergessliches Sommerbuch freuen, auch dank der federleichten Karikaturen von Heike Herold und der pfiffigen Übersetzung von Birgitta Kicherer.


    "Ich wünschte, es wäre eine geheime Geschichte. Manchmal wünschte ich, es gäbe überhaupt keine Geschichte zu erzählen. Vielleicht wäre das besser für alle gewesen."

    Unsere nächste Geschichte - Ake Edwardsons "Samuraisommer" - beginnt geheimnisvoll. Eine Nacht, vermutlich nach irgendwelchen schrecklichen Ereignissen, irgendwo in den Wäldern Smalands, irgendwo an einem See, dort, wo auch Astrid Lindgren zu Hause war, dort, wo 1000 schwedische Geschichten zu beginnen scheinen.

    "Jetzt ist es spät, Mitternacht. In den Häusern des Camps herrscht Stille. An der Decke dieses Hauses hängt ein Licht, das blauen Schein verbreitet und den Boden nicht richtig erreicht. Ich sitze auf dem Boden. Er besteht aus Erde. Das Licht dort hoch oben am Himmel ist der Mond."

    Der junge Held, den der schwedische Krimiautor Ake Edwardson hier erzählen lässt, heißt eigentlich Tommy, nennt sich aber Kenny und ist ein Samurai. Jedenfalls sieht er sich so, seit er sich die Philosophie dieser feudalen japanischen Kämpfer zu Eigen gemacht hat, um mit seiner Familientragödie zurechtzukommen. Seit der Vater gestorben ist, schickt die psychisch völlig überforderte Mutter den Sohn jedes Jahr in ein Sommercamp für verhaltensauffällige Kinder.

    "Ich sitze schon ziemlich lange hier, neben mir liegt mein langes Schwert, meine Katana. In diesem Licht ist es nicht mehr als ein Schatten. Am Gürtel habe ich mein kurzes Schwert, mein Wakizashi. Ich spüre den Schaft, wenn ich mich bewege, aber ich will mich nicht bewegen. Im Moment möchte ich überhaupt nichts tun. Ich habe eine Geschichte zu erzählen."

    Und er erzählt: vom Camp, von der Lagerleiterin - anscheinend einer Psychopathin - die nur "die Alte" genannt wird, von ihrem diktatorischen Regiment, vom Lageralltag, von Feinden und Freunden, con seinem "Schloss", das er zusammen mit seinen Kriegern heimlich an einem verwunschenen Ort im Wald baute.

    "Der Wald schien wie immer riesig zu sein. Er ging ewig so weiter, um die ganze Erde herum. Dieser Wald hing mit anderen Wäldern im ganzen Land zusammen, und sie setzten sich fort über alle Grenzen in andere Länder hinein. Dieser Wald war derselbe Wald bis hinauf nach Norrland und weiter nach Finnland und Russland, Sibirien und weiter in die Mongolei und nach China. Bis zum Meer und auf die andere Seite des Meeres, zur japanischen Insel Kyushu."

    Er erzählt von seiner Liebe zu Japan und von seiner heimlichen Liebe zu Kerstin, die sich, genauso wie er, am liebsten wegträumen würde.

    "Ich werde schon noch dorthin kommen."
    Sie sah fast aus, als würde sie mir glauben.

    "'Aber was ist so aufregend an den Samurai?', fuhr sie fort. 'Es ist besser als das hier', antwortete ich. 'Das hier? Was meinst du damit?' 'Alles hier', sagte ich. 'Nicht nur das Camp. 'Ich machte eine Handbewegung, als gehöre der Wald auch zu dem, was ich meinte. 'Dieses ... Leben oder wie man es nennen soll.'"

    Dieses Leben - oder wie man es nennen soll - birgt dramatische Ereignisse, die auf eine Katastrophe hinzusteuern scheinen. Ake Edwardson bindet das Geschehen an wunderschöne Naturstimmungen, die durchaus als Reminiszenz an die Welten Astrid Lindgrens verstanden werden können. Trotzdem verfestigen sich, je weiter die Geschichte fortschreitet, zwei erhebliche Mängel. Zum einen bleibt die Charakterzeichnung der erwachsenen Bösewichte oberflächlich. Der Hintergrund ihrer Bösartigkeit wird genauso wenig beleuchtet wie die interne Logik ihrer Handlungen. Und schließlich passiert etwas, das eine fundierte Geschichte keineswegs braucht, um Spannung zu erzeugen: Der Autor verknüpft die Dramatik des Naturgeschehens mit der Dramatik menschlicher Handlungen. Das heißt, vereinfacht: Es blitzt und donnert verdächtig häufig in der Natur, wenn es bei den Menschen blitzt und donnert, und umgekehrt - eine dramaturgische Peinlichkeit, von der beim nächsten Roman noch öfter die Rede sein wird.


    Beim "Samuraisommer" wird dieser Mangel durch die sensible Beschreibung der Weltfluchten des jungen Helden noch im Zaume gehalten. Bei einem anderen viel versprechenden schwedischen Schriftsteller, der vor zwei Jahren mit "Brando" einen furiosen Debütroman hinlegte, sieht die Sache etwas anders aus. In Mikael Engströms neuem Roman "Steppo", der die Geschichte eines ziemlich kaputten, knapp 15-jährigen Helden erzählt, klingt bereits der Leitsatz bedrohlich:

    "Es würde ein regnerischer Herbst werden."

    Dabei bleibt es nicht. Wir befinden uns in einer heruntergekommenen Gegend des Stockholmer Stadtteils Hagalund, wo Steppo zusammen mit seiner Mutter in einer hässlichen Hochhauswohnung im 13. Stock lebt. Auch Steppos Vater starb vor kurzem, und der Sohn kommt mit der völlig überforderten, wehleidigen Mutter nicht klar. "Tristesse" als Beschreibung für den inneren und äußeren Zustand des Milieus ist dabei noch untertrieben.

    " Blutig, voll gekotzt und betrunken - aber er selbst wusste nichts mehr davon. Er hatte seine Mutter, ihr ewiges Gemecker, ihre Krankheiten und die ganze Kacke zur Hölle gewünscht."

    Es hat sich Hoffnungslosigkeit breit gemacht, gebrochene Helden allerorten, Idioten, Ignoranten, Gewalt und Gewaltbereitschaft, Zerstörungswut, Opportunismus, Drogen, Alkohol, natürlich auch Liebeskummer. Was am Anfang noch erschütternd klang, vor allem, wenn dramaturgisch kein Zweifel an der Authentizität des Geschehens aufkam, das hat sich inzwischen in vielen Romanen - ähnlich wie bei schwedischen Krimiszenerien - zum Stereotyp verfestigt. Mikael Engströms Debütroman "Brando" war da erfreulich anders: Er spielte zwar im tristen Milieu, aber er erschuf gleichzeitig fantastisch lebensnahe Refugien der Hoffnung. Davon ist in "Steppo" so gut wie nichts mehr übrig geblieben. Der Held leidet wie ein Schwein, und der Autor lässt den einst klugen, aufmerksamen Steppo im wahren Sinne des Wortes immer tiefer in die Scheiße treten. Die einzigen Lichtstrahlen am Horizont treten mit einem - wir haben es geahnt! - vom Leben gezeichneten Polizeiinspektor auf und mit der Gestalt von Eva, die von ihren Mitschülern - auch von Steppo - brutal gemobbt und zur Außenseiterin gestempelt wird. Bis eines Tages in Steppo etwas dämmert.

    "War er nicht schon einsam? Waren nicht alle verdammt einsam? Alle in der ganzen Schule? Jeder versuchte, mit jemandem zusammen zu sein, um seine Einsamkeit zu vertuschen. Götter und Göttinnen mit Göttern und Göttinnen. Versager mit Versagern. Und ein paar blieben immer noch übrig."

    Steppos zielloser Zickzackweg, mit Eva als unscheinbarer Lichtgestalt am Horizont - das könnte durchaus eine spannende, lebensnahe Geschichte werden. Könnte, wenn da nicht dieser Hang des Autors zu dem bereits erwähnten, nennen wir ihn etwas gestelzt, negativen Super-Impressionismus wäre. Als wolle Engström allein schon aus Opposition zum zählebigen Schwedenklischee alle weißblauen Wölkchenhimmel und Bullerbü-Idylle aus den Jugendbüchern verbannen. Dass Hagalund nicht nur im Herbst das Schreckensbild aller Heile-Welt-Sucher ist - keine Frage. Die Vorstellung aber, dass schlechte Wetterlagen zum negativem Verhalten der Menschen führen wie der Glockenschlag zum Speichelfluss im Psycholabor, diese Vorstellung wird von Mikael Engström denn doch so arg überstrapaziert, dass es schon lächerlich wirkt.

    "Der Schnee fiel dicht, schwer und nass herab und bedeckte den Boden mit einer dünnen Schicht aus klebrigem, wässrigem Brei ."

    "Bald würde der Schnee in Regen übergehen, alles davon- und in die Gullys hinunterschwemmen."

    "Der Regen strömte über die beschlagenen Scheiben."

    Lassen wir den Regen strömen, wenden uns von den Licht- und Schattenseiten des schwedischen Impressionismus in der Nachfolge von Astrid Lindgren ab und werfen zum Schluss einen kurzen Blick übers Gebirge hinüber nach Südnorwegen. Dort, in Bergen, lebt einer der bekanntesten Dramatiker der Gegenwart, Jon Fosse, und der hat ein Kinderbuch geschrieben, das man als kleine Hymne an die - auch symbolisch gesehen - unendliche Weite des skandinavischen Wölkchenhimmels und die unendlichen Geschichten darunter verstehen könnte. "Schwester" heißt die kurze Erzählung von einem vierjährigem Jungen und seiner Sehnsucht nach der großen unbekannten Welt, die als faszinierende Fjordlandschaft vor seinem Haus liegt und deren Gefahren er noch nicht kennt. In Norwegen wurde "Schwester" zum Besten Kinderbuch des Jahres gekürt.

    ""Er stand vor dem Haus und konnte das Boot sehen. Es lag unten beim Bootssteg am Ufer, ein hübsches Boot, weiß und hübsch. Und der Fjord war so blau und glatt, dass die Berge sich auf das Wasser gelegt hatten, und jetzt lagen sie da, grün und schwarz und braun. Kein einziges Boot war auf dem Fjord zu sehen, vielleicht war es noch zu früh am Morgen? Und niemand war wach außer ihm, Mutter nicht, Vater nicht, seine Schwester nicht. Nur er war wach, so kam ihm das jedenfalls vor, er war der Einzige auf der ganzen Welt, der wach war, dachte er. Er stand da in seinem Schlafanzug und schaute zum Fjord runter. Er atmete tief ein und atmete langsam aus."

    Knappe und unverblümte Sätze, dazu knappe und unverblümte Farbbilder von Aljoscha Blau, und trotzdem entsteht auf 50 Seiten Geschichte der ganze Kosmos eines kleinen Kindes, das vom großen Unbekannten vor der eigenen Haustür fasziniert ist, aber keine Worte für die Größe findet. Der Junge weiß nur, er möchte hineingehen in diese Welt. Er tut es. Er tut es verbotenerweise, mehrmals. Schließlich nimmt er seine ein Jahr jüngere Schwester an der Hand und führt sie in dieses unbekannte Universum. Er will seine Entdeckung mit ihr teilen. Angst haben beide nicht. Angst haben die Eltern - und sie ziehen die Konsequenzen.

    "Er muss drinnen bleiben, hat seine Mutter gesagt, weil er immer schlimme Sachen macht, auf die Straße geht, zum Boot geht, er hätte auf der Straße überfahren werden können, und als er ins Boot gestiegen ist, hätte er ins Wasser fallen und ertrinken können, sagt sie. Er ist völlig unmöglich, sagt sie. Er muss drinnen bleiben. Allein drinnen."

    Jon Fosse kommentiert nicht, er beschreibt, was passiert, er fasst die Gedanken des Jungen in Worte. Der Autor fokussiert die Fantasie der Leser auf die kindliche Vorstellung einer Welt, die noch entdeckt werden will. Und das Ende bleibt offen - wie bei allen Geschichten, selbst wenn sie sich auf der letzten Seite versöhnlich verabschieden. Das ist gute Literatur - egal für welches Alter.

    "Er legt seine gesunde Hand seiner Schwester auf die Wange und er fühlt sich ganz, ganz allein. Er wird nie ganz allein sein müssen, denkt er und dann legt er den Kopf an die Schulter von seiner Schwester und sie legt den Arm um seinen Bauch. Er ist immer allein, denkt er und lauscht auf den Atem von seiner Schwester, hin und her, wie die Wellen, wie die Grashalme da im Wind, hin und her, immer hin und her wie die Wellen, ganz allein, wie die Wellen."


    Besprochene Bücher:

    Maren Gottschalk: Jenseits von Bullerbü. Die Lebensgeschichte der
    Astrid Lindgren

    Beltz & Gelberg
    212 Seiten
    16,90 Euro, ab 14 Jahre

    Ulf Stark: Ein Sommer mit Percy und Buffalo Bill
    Bilder von Heike Herold. Aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer
    Carlsen Verlag
    240 Seiten
    12,50 Euro, ab 9 Jahre

    Ake Edwardson: Samuraisommer Aus dem Schwedischen von
    Angelika Kutsch
    Carlsen Verlag
    208 Seiten
    13 Euro, ab 12 Jahre

    Mikael Engström: Steppo. Voll die Krise"
    Aus dem Schwedischen von Birgitta Kicherer
    Carl Hanser Verlag
    284 Seiten
    13,90 Euro, ab 14 Jahre
    Jon Fosse: Schwester
    Mit Bildern von Aljoscha Blau, Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel
    Bajazzo Verlag
    54 Seiten
    2,90 Euro, ab 8 Jahre


    Zusätzlicher Tipp zur Astrid-Lindgren-Spurensuche:

    Sabine und Wolfgang Schwieder: Wo ist Bullerbü? Auf den
    Spuren von Astrid Lindgren durch Schweden

    Ein Reiseführer für die ganze Familie
    Verlag Friedrich Oetinger
    246 Seiten
    14,90 Euro