Heiner Geißler, geboren am 3. März 1930 als Sohn eines Oberregierungsrats in Oberndorf am Neckar. Ursprünglicher Berufswunsch: Priester. Studium der Philosophie und der Rechte.
1965 als Abgeordneter der CDU erstmals in den Bundestag gewählt. Ab 1967 Minister für Soziales, Gesundheit und Sport in Rheinland-Pfalz. Wiederbelebung der katholischen Soziallehre durch die neue soziale Frage. 1977 Generalsekretär der CDU unter dem Parteivorsitzenden Helmut Kohl. 1982 bis 1985 Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit. Nach Zerwürfnis mit Kohl Verlust des Amts als Generalsekretär 1989. 2002: Ausscheiden aus dem Deutschen Bundestag. Mai 2007: Eintritt bei Attac, dem globalisierungskritischen Netzwerk. Hobbys: Bergsteigen und Musik.
1965 als Abgeordneter der CDU erstmals in den Bundestag gewählt. Ab 1967 Minister für Soziales, Gesundheit und Sport in Rheinland-Pfalz. Wiederbelebung der katholischen Soziallehre durch die neue soziale Frage. 1977 Generalsekretär der CDU unter dem Parteivorsitzenden Helmut Kohl. 1982 bis 1985 Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit. Nach Zerwürfnis mit Kohl Verlust des Amts als Generalsekretär 1989. 2002: Ausscheiden aus dem Deutschen Bundestag. Mai 2007: Eintritt bei Attac, dem globalisierungskritischen Netzwerk. Hobbys: Bergsteigen und Musik.
Verbeugen und verbiegen
Heiner Geißler: "Ich bin alles gewesen mit Ausnahme Bundeskanzler, und das hätte ich auch gekonnt."
Günter Müchler: In der Politik waren Sie ein Kämpfertyp, einer, der gerne zuspitzte, einer, der dafür bekannt war, dass er Konflikten nicht aus dem Wege ging. Im Privatleben ein Liebhaber gefährlicher Sportarten. 1992 sind Sie mit dem Gleitschirm abgestürzt in der Südpfalz, lebensgefährlich verletzt. Damals waren Sie, ich glaube, 62. Herr Geißler, die extreme Herausforderung - brauchen Sie so etwas?
Heiner Geißler: Nein, also, sagen wir, Gleitschirmfliegen oder Klettern nennt man oft Extremsport, aber er ist nur extrem für diejenigen, die den Sport nicht beherrschen. Und nun kann mal ein Unglück passieren. Ich bin im Übrigen nicht abgestürzt, sondern musste eine Baumlandung machen, und es war der falsche Baum, eine Kiefer, die hatte einen Windbruch, das habe ich der von oben aber nicht angesehen. Da bin ich mit der Baumkrone sozusagen 20 Meter runtergefallen. So war der Vorgang. Aber gut, ich meine, Klettern, Bergsteigen, Gleitschirmfliegen sind schon Herausforderungen, aber ich brauche das nicht, sondern ich habe das immer gemacht, weil mir das Spaß gemacht hat.
Müchler: Ich muss gestehen, dass ich vom Bergsteigen überhaupt nichts verstehe, aber ich stelle mir vor, dass man zum Klettern gute Kondition haben muss. Welche Eigenschaften hat ein guter Bergsteiger sonst noch, die auch ein erfolgreicher Politiker haben sollte?
Geißler: Man kann die Vergleiche ziehen, aber sie sind nur beschränkt tauglich. Man muss auf jeden Fall gute Kondition haben. Das Bergsteigen ist ein Allround-Sport, ist was anderes als auf einer 400-Meter-Bahn im Stadion herumzurennen oder Tennis zu spielen, wo man einen Ball einfach über ein Netz schlägt, sondern das Ganze spielt sich ab in einer großartigen Umgebung in der Regel. Man muss auch die Technik beherrschen, die Seilknotentechnik, und man muss einen Haken auch schlagen können. Es sind charakterliche Eigenschaften notwendig, man muss umkehren können, was vielen schwerfällt und die dann deswegen auch ihr Leben verlieren. Man muss sich aufeinander verlassen können, man muss solidarisch sein. Das Wetter beobachten ist eine wichtige Voraussetzung, Mond, Sonne, Sterne. Es ist also ein Sport, der den ganzen Menschen in Anspruch nimmt, deswegen ist er so attraktiv. Es ist fast das letzte Abenteuer, das die Menschen noch erleben können.
Müchler: Lassen Sie uns ruhig die Metapher noch etwas dehnen. Jeder Bergsteiger will zunächst einmal auf den Gipfel, das vermute ich jedenfalls, aber nicht jeder Gipfel lässt sich bezwingen. Was fehlt in der Bilanz Ihrer politischen Bergsteigerei? Welchen Gipfel hätten Sie noch gerne erklommen, haben ihn aber nicht geschafft?
Geißler: Im Grunde genommen fehlt kein Gipfel. Ich bin alles gewesen, mit Ausnahme Bundeskanzler, und das hätte ich auch gekonnt. Aber ich war…
Müchler: Das bot sich nicht an?
Geißler: Es bot sich deswegen nicht an, wenn man die Spitze erklimmen will in dem Sinne, wie Sie das genannt haben, muss man sich - also, jedenfalls ich hätte mich verbiegen müssen, man muss so viele Verneigungen machen nach links und nach rechts, und dazu war ich nicht bereit.
Müchler: Aber es verneigen sich auch andere.
Geißler: Es verneigen sich auch andere, das ist richtig, aber darunter leidet ja die Politik auch.
Müchler: Leiden Sie an der Politik heute?
Geißler: Nein. Leiden, das wäre… Ich kann mich nach wie vor aufregen, das ist richtig, ich kann zornig werden wegen politischer Entscheidungen oder auch der politischen Entwicklung, aber wenn man leidet, nicht wahr, büßt man die Fehler anderer Leute, hat mal Adenauer gesagt.
Leiden am Kapitalismus
Geißler: "Die Solidarität ist der Grundwert, der am meisten gefährdet ist, und er ist gefährdet durch den Kapitalismus."
Müchler: Sie sind Christ, ich glaube, Sie wollten mal Priester werden. Sie sind katholisch, linkskatholisch, sage ich jetzt einfach mal, Anhänger der katholischen Soziallehre.
Geißler: Auch nur bedingt, was das letzte Sozialwort der Bischofskonferenz anbelangt, das könnte ich niemals unterschreiben. Aber das ist eben schon ein Zeichen dafür, dass selbst die Sozialkommission der Deutschen Bischofskonferenz vom Zeitgeist angefressen ist, vom Neoliberalismus. Es tut mir leid, aber das kann ja auch gar nicht anders kommen, wenn man den Herrn Tietmeyer, den ehemaligen Bundesbankpräsidenten, zum Vorsitzenden der Sozialkommission der katholischen Kirche in Deutschland macht. Da kann ja nur ein Unglück dabei herauskommen.
Müchler: Warum?
Geißler: Das Einzige, was ihn auszeichnet in dem Bereich, ist, dass er sonntags in die Kirche geht offenbar, aber sozialpolitisch hat der Mann keine Ahnung.
Müchler: Kommen wir noch mal zurück auf die katholische, auf die klassische katholische Soziallehre, jedenfalls sind Sie immer jemand gewesen, wenn ich das richtig einordne, der Politik auch weltanschaulich verankern wollte, sich jedenfalls dagegen nicht gesträubt hat. Wenn Sie einfach mal diese Grundhaltung nehmen und versuchen, zwei, drei politische Forderungen, die heute etwas sagen, aus dieser Prägung abzuleiten, was folgt aus der katholischen Soziallehre, so wie Sie sie verstehen?
Geißler: Ich wehre mich etwas, katholische Soziallehre ist zu eng. Außerdem ist nicht mehr ganz klar, was man darunter verstehen muss, es soll auch keine weltanschauliche Orientierung, sondern ich würde eher sagen, die Politik braucht ein ethisches Fundament, das ist richtig, und sie braucht ein Menschenbild. Das ist ja das, was im ersten Grundsatzprogramm der CDU, der Kommission stand ich vor. Mit Richard von Weizsäcker, der die eigentliche Kommission geleitet hat, haben wir zusammen das Grundsatzprogramm formuliert. Da waren die bedeutenden Leute der CDU damals vertreten, und da steht etwas völlig Richtiges: Der Glaube gibt uns keine Anleitung für die praktische Politik, aber der Glaube gibt uns ein Bild vom Menschen!
Das ist das Entscheidende, und dieses Menschenbild ist die Grundlage der Politik und es unterscheidet sich eben von Menschenbildern, die die Kommunisten oder die Nazis hatten oder die Nationalisten oder die Fundamentalisten. Das ist der eigentliche Unterschied. Und wenn Sie jetzt fragen, was ist daraus abzuleiten, dann ist da natürlich sehr viel abzuleiten, denn dieses Menschenbild, der in seiner Würde unantastbare Mensch, unabhängig davon, ob er jung oder alt ist, Mann oder Frau, Deutscher oder Ausländer, dieses Menschenbild hat natürlich ganz klare, handfeste Konsequenzen, die allerdings nicht immer gezogen werden. Das ist der eine Gesichtspunkt.
Außerdem ist der Mensch ein Sozialwesen, er kann ohne andere Menschen nicht existieren. Und deswegen, zu den ethischen Grundsätzen gehören die Grundwerte, die sich aus der Menschenwürde ergeben, nämlich die Grundwerte der Freiheit, der Gleichheit und der Brüderlichkeit. Heute ist nicht mehr die Freiheit gefährdet, heute würde man nicht mehr formulieren "Freiheit statt Sozialismus", heute ist die Solidarität gefährdet, die Solidarität zwischen Reichen und Armen, zwischen Alten und Jungen, Jungen und Alten, zwischen Männern und Frauen, zwischen Wessis und Ossis, und das können Sie gerade fortsetzen.
Die Solidarität ist der Grundwert, der am meisten gefährdet ist, und er ist gefährdet durch den Kapitalismus, durch einen ungehemmten, brutalen, ausschließlich an den Kapitalinteressen orientierten Kapitalismus, eine Wirtschaftsordnung, ein Wirtschaftssystem, das über Leichen geht. Und das ist das eigentliche Problem. Deswegen müsste heute die CDU die Konsequenz daraus ziehen als Mutter der sozialen Marktwirtschaft, nicht den Markt abzuschaffen, aber wieder dafür zu sorgen, dass wir global einen geordneten Markt bekommen, denn der geordnete Wettbewerb ist das Kennzeichen der Erhardschen sozialen Marktwirtschaft.
Müchler: Wir leben in der Bundesrepublik bereits unter einem schrankenlosen Kapitalismus?
Geißler: Wir leben im Zeitalter der Globalisierung, die Globalisierung ist ja völlig in Ordnung. Aber die Globalisierung hat eben bewirkt, dass die Ökonomie sich internationalisiert. Sie ist global aufgestellt, aber die Politik ist nach wie vor national organisiert. Die Ordnung im Wettbewerb, die muss natürlich von der Politik garantiert werden. Der Jürgen Schrempp hat mal gemeint, es sei vorbei, die großen Konzerne würden die Weltpolitik bestimmen, wir wissen, dass er nicht nur mit dieser Idee gescheitert ist.
Die Politik hat nach wie vor die Gesamtverantwortung. Jetzt kann man nicht die Globalisierung abschaffen, das wäre ja Dummheit, sondern man muss umgekehrt die Politik internationalisieren. Die Politik muss wieder auf Augenhöhe kommen in der Ökonomie - das ist der entscheidende Vorgang. Das müssen zunächst einmal multilateral die G7-, die G8-Staaten machen, und darüber hinaus werden wir nicht umhin kommen, dass eines Tages eine Weltregierung begründet werden muss, wenn nicht das Ganze im Chaos untergehen soll.
Müchler: Spricht die Entwicklung dafür? Wir schaffen es ja noch nicht mal, eine europäische Regierung hinzukriegen.
Geißler: Ja, aber da darf man die Hoffnung nicht aufgeben. Das kann man nicht von heute auf morgen schaffen, vor allem kann das eben auch nicht eine Partei alleine oder ein Land allein machen. Wenn wir das Gespräch geführt hätten 1988, und wir beide hätten gesagt, im Jahre 1998 sind Polen, Tschechien und Ungarn Mitglieder der NATO, hätte man uns beide wahrscheinlich ins nächste Irrenhaus gebracht. Wenn wir es in Cottbus gesagt hätten, wären wir in Bautzen gelandet, aber es ist innerhalb eines Jahrzehnts ja Realität geworden.
Die lernfähige Kanzlerin
Geißler: "Die Angela Merkel ist ein anderer Typ, sie ist eine Naturwissenschaftlerin."
Müchler: Kommen wir zurück zur CDU. Sie sind noch Mitglied?
Geißler: Die Frage kann ich überhaupt nicht verstehen. Warum soll ich nicht Mitglied der CDU sein? Mir fallen bei der CDU ein paar andere Leute ein, die eigentlich nicht in der Mitte zur CDU stehen. Was ich sage, ist hundertprozentig und vollinhaltlich kompatibel vereinbar mit dem Grundsatzprogramm der CDU, das ist für mich entscheidend. Nicht, was irgendein Bundesvorstand oder vielleicht auch ein Leipziger Parteitag mal beschließt, das kommt und geht und verschwindet wieder.
Müchler: Stichwort Grundsatzprogramm. Früher war es in der CDU fast üblich, kann man sagen, dass alle fünf Jahre über das sogenannte hohe C gestritten wurde. Die Zeit scheint vorbei zu sein. Hat das C als Abkürzung für christlich für die CDU nichts mehr zu bedeuten?
Geißler: Ich hoffe schon, nur müssen die richtigen Akzente gesetzt werden. Das C bedeutet das, was ich über das Menschenbild gesagt habe. Nur damit ist das C begründbar, mit diesem Menschenbild.
Die CDU muss, wenn sie überleben will als Volkspartei, dieses ethische Fundament beachten, und das bedeutet, dass sie ihre Politik - auch vom inhaltlichen her - anders ausrichten muss. Sie darf nicht in das Schlepptau des Neoliberalismus geraten, in das Schlepptau einer totalen Ökonomisierung unserer Gesellschaft, von der Flugsicherung angefangen bis zu den Krankenhäusern. Das ist das eigentliche Problem der heutigen Zeit, dass alles nur noch unter dem Gesichtspunkt gesehen wird, der Mensch als Kostenfaktor. Das ist genauso schlimm, wie wenn ich den Menschen nur beurteile nach seiner Hautfarbe oder seiner Nationalität oder seiner Konfession.
Müchler: Ist es Ökonomismus, ist es Pragmatismus? Auch heute werden ja Grundsatzprogramme geschrieben, nur es diskutiert keiner mehr darüber in den Parteien. Das war früher anders, die Sozialdemokraten haben ihren Orientierungsrahmen unter heftigem inneren Getöse erfunden, die CDU hat Grundsatzprogramme heiß diskutiert.
Heute ist das nicht mehr der Fall, heute sind aber auch ganz andere Typen an der Spitze der Parteien und der Regierungen, also, Angela Merkel in Berlin, Nicolas Sarkozy in Paris, demnächst Gordon Brown in London - ausgesprochene Pragmatiker vom Typus her.
Geißler: Das weiß ich nicht, ob der Sarkozy nur Pragmatiker ist, er ist eher in den letzten Monaten als Ideologe aufgetreten. Wer Angela Merkel ist, das wissen wir. Die Angela Merkel ist ein anderer Typ, sie ist eine Naturwissenschaftlerin, und deswegen hat sie auch richtig reagiert. Sie geht mit den Realitäten um, und die letzte Realität, die sie dazu gebracht hat, ihre Politik zu ändern, war die letzte Bundestagswahl.
Dieser marktradikale Kurs, der eingeschlagen worden ist, auch unter ihrer Führung, ist aufgelaufen. Die CDU hat die schlimmste Wahlniederlage seit 1949 erlebt, und das ist das Ergebnis eben einer Politik, die glaubt, man könne durch den Abbau von Arbeitnehmerrechten Arbeitsplätze schaffen. Das ist ein kindischer Irrtum.
Müchler: Herr Geißler, Sie haben in den 90er Jahren nach Ihrer Auseinandersetzung mit Helmut Kohl und nachdem Sie CDU-Führungsämter nicht mehr innehatten, bereits gegen den Neoliberalismus, den Thatcherismus vom Leder gezogen. Auf der anderen Seite sind sich die meisten Zeithistoriker heute einig, dass in den 90er Jahren viele Reformen nicht angegriffen worden sind, Stichwort Reformstau. Wäre es nicht besser, zeitgerechter gewesen, damals über den Reformstau zu klagen?
Geißler: Na, wissen Sie, diese Zeithistoriker, die Sie etwas pauschal hier benennen, die haben auch vor zwei Jahren vom Reformstau geredet, und dass Deutschland in den Abgrund geht. Diese Leute schweigen heute. Wir haben plötzlich einen wirtschaftlichen Aufschwung. Und jetzt müssen wir mal die Frage beantworten: Warum gibt es eigentlich einen wirtschaftlichen Aufschwung, und wieso hat man Deutschland in den vergangenen Jahren - auch ökonomisch - praktisch an die Wand geredet?
Das ist die Folge einer falschen Ideologie. Die Wirtschaftswissenschaften haben eine falsche Wirtschaftspolitik propagiert, eine rein angebotsorientierte Wirtschaftspolitik. 75 Prozent der Konjunktur ist Binnennachfrage. Die Deutschen haben laut statistischem Bundesamt seit 1991 keine reale Lohnerhöhung mehr gehabt, das einzige Land der großen Industriestaaten. Alle anderen, einschließlich England, USA, da gab es immer reale Lohnerhöhungen, bei uns null Komma null.
Wie da die Binnenkonjunktur in Gang gesetzt werden könnte, ist vielleicht dem Professor Sinn vom IFU-Institut klar, aber es ist ein Riesenirrtum. Das sind halt die Leute, die auch behauptet haben, wenn man Lohndumping betreibt, je niedriger die Löhne, desto mehr Arbeitsplätze gibt es, und die haben das propagiert und die Politik hat sich davon abhängig gemacht. Das war ein schwerer Fehler!
Außerdem ist es ja gar nicht wahr. Auch in den 80er Jahren und in den 90er Jahren sind sogenannte Reformen durchgeführt worden. Wir haben allein in den 90er Jahren die Bahnreform, die Postreform, die Steuerreform, die beschlossen worden ist, die Rentenreform. Der Norbert Blüm, der wird jetzt an den Pranger gestellt, aber es gab eine beschlossene, rechtsgültige Rentenreform mit dem Demografiefaktor, mit der Zustimmung der SPD-Fraktion.
Kaum war Rot-Grün an der Regierung, zwei Monate später haben die diese Rentenreform beseitigt, ohne Alternative. Wissen Sie, diese Reformdiskussion, wo man nur "Reform!" gerufen hat, ohne nach dem Inhalt zu fragen, hat ja nur ein Ziel gehabt, nämlich den Sozialstaat weiter an die Wand zu drücken. Das ist der Sinn dieser ganzen Reformdiskussion gewesen.
Müchler: Auf der Schröderschen Agenda?
Geißler: Ja, die Agenda 2010 ist ein Flop! Außerdem, schon der Begriff ist ja völlig verkehrt, Agenda, das muss man den Leuten erst mal erklären, was das heißt, und dann 2010, warum eigentlich erst im Jahre 2010? Also, wenn man handeln muss, dann muss man gleich handeln! Natürlich war es ein Flop. Die SPD muss jetzt mutig an dieser Agenda festhalten, weil sie natürlich weiß, dass Schröder mit dieser Agenda die Seele der Partei verraten hat, und das hat die SPD bis heute inhaltlich noch nicht aufgearbeitet. Natürlich sind wir für Reformen, ich habe selber Reformen durchgeführt.
Müchler: Darauf würde ich jetzt gerne zu sprechen kommen.
Geißler: In der Familienpolitik, aber inhaltlich richtige.
Müchler: In der Familienpolitik als Bundesminister für Familie und, ich glaube, für Familie und Gesundheit, hieß das Ministerium damals.
Geißler: Familie, Jugend und Gesundheit.
Müchler: Sie haben das Erziehungsgeld eingeführt, Erziehungsurlaub, ich glaube, die Anerkennung von Erziehungsjahren in der Rente. Das war damals etwas Neues, das war vielleicht sogar revolutionär. Trotzdem, schon damals hat man Ihnen vorgehalten und auch heute könnte man so argumentieren, diese Reformschritte waren orientiert an einem Frauenbild, das ganz wesentlich auf die Frau als Hausfrau hingezielt war.
Geißler: Das ist nicht richtig, eher das Gegenteil sogar. Der Erziehungsurlaub als der Kündigungsschutz für berufstätige Frauen, die ein Kind erwarten oder ein Kind bekommen, ist eine ganz wichtige Maßnahme gewesen für die berufstätigen Frauen. Die haben drei Jahre ihren Job behalten. Auch was das Erziehungsgeld anbelangt, es ist ja genau das, was jetzt im Zusammenhang mit den Kinderkrippenplätzen diskutiert wird, dass die Frauen sich entscheiden dafür, dass sie das Kind selber erziehen - in den vier Stunden oder fünf Stunden, um mehr handelt es sich ja nicht -, eine Art Betreuungsgeld bekommen sollen.
Das ist ein Ausgleich für das, was wir investieren in die Kinderkrippen, was ja völlig richtig ist, weil die ökonomische Situation sich verändert hat. Aber ich kann ja nicht die eine Frau gegen die andere ausspielen, das ist doch absoluter Unsinn, sondern die Frauen müssen sich eben frei entscheiden können, vor allem in einer Zeit, wo die Familie darauf angewiesen ist, dass beide arbeiten. Das gilt auch für die Männer.
Das hat sich eben verändert. Die meisten Familien können von einem Einkommen nicht mehr leben. Das Problem war damals, 1985, als wir diese Gesetze gemacht haben, in dieser Dringlichkeit noch nicht gegeben, da war die Ökonomie eine andere. Und jetzt reagiert die CDU völlig richtig auf die veränderten ökonomischen Verhältnisse.
Müchler: Aber Frau von der Leyen hat ihren Durchbruch in der Krippenpolitik sich hart erkämpfen müssen, auch gegen Widerstände in der CDU, auch gegen Widerstände zum Beispiel aus dem deutschen Episkopat.
Geißler: Ja, aber der Mixa ist weitgehend alleingeblieben. Dieser Alternativ-Radikalismus, den habe ich eigentlich eher immer früher bei den frühen Grünen kennengelernt. Aber, ich meine, der Bischof Mixa hat den einen Fehler gemacht, dass er von der Frau als Gebärmaschine geredet hat. Vom Grundanliegen lag er ja nun gar nicht so falsch, sondern er hat eben gesagt, ich kann vielen Frauen oder Vätern sagen im Sinne der alten Sozialpädiatrie: Es ist wichtig, dass das Kleinkind eben auch eine Bezugsperson hat und die beste Bezugsperson ist der Vater oder die Mutter oder beide zusammen. Beide zusammen geht halt nicht so.
Und die Eltern, die sich diesen Grundsatz zu eigen machen, die sollten nicht benachteiligt werden gegenüber den anderen. So ist eigentlich die Diskussionslage, und wenn er das so gesagt hätte, dann hätte ihm ja jedermann zugestimmt. Das Gegeneinander-Ausspielen ist schon immer ein schwerer Fehler gewesen, und die Konservativen, die sollten mal, sagen wir mal, mehr denken, bevor sie reden, bestimmte Konservative.
Das Ende einer Männerfreundschaft
Geißler: "Ich wollte in meinem Leben nie den Helmut Kohl als Parteivorsitzender stürzen, der ist ja Bundeskanzler. Das wäre mir nie in den Sinn gekommen."
Müchler: Wir kommen zum Kapitel Helmut Kohl. Sie waren Minister unter dem rheinland-pfälzischen Regierungschef Helmut Kohl, Bundesminister unter dem Bundeskanzler Helmut Kohl, Sie waren Generalsekretär unter dem Parteivorsitzenden Helmut Kohl.
Kohl-Geißler, die Unzertrennlichen, das galt ja eine ganze Weile, bis Sie dann, ich glaube, es war am 7. November 1988, von Helmut Kohl einen Brief bekamen, dem Parteivorsitzenden Helmut Kohl, in dem er Ihnen mitteilte, dass er nicht gedenke, Sie dem nächsten Parteitag wieder als Generalsekretär vorzuschlagen. Zerrüttung des Vertrauensverhältnisses - so was hat normalerweise mehrere Ursachen, unterschiedliche Ursachen. Was war die Hauptursache?
Geißler: Der Brief war ein bisschen anders, aber in der Tendenz sicher so, da gab es eine ganze Reihe von Ursachen. Die Hauptursache lag darin, dass wir ein unterschiedliches Verständnis hatten von der Rolle des Generalsekretärs. Der Generalsekretär ist verantwortlich für die CDU, auch für die Programmatik der CDU, vor allem in einer Zeit, in der der Parteivorsitzende ein Regierungsamt hat, also Bundeskanzler ist.
Er ist ja nicht mehr Vorsitzender der Partei allein, sondern Vorsitzender einer Koalition. Und wenn es der Generalsekretär richtig macht nach dem Statut der CDU, da steht es nämlich alles drin, dann muss er dafür sorgen, dass die Programmatik der CDU nicht auf das Niveau einer Koalitionsvereinbarung absinkt. Das war der eigentliche Konfliktpunkt, deswegen gab es immer wieder Auseinandersetzungen mit den Liberalen, aber vor allem mit der CSU, über den Einsatz von Menschenrechten, Nelson Mandela, in Chile Pinochet. Und ich habe eben hier die Position der CDU vertreten und nicht die Position der CSU oder die Position der FDP.
Das ging sehr lange Jahre gut. Und da war das auch ein Erfolgsmodell. Sie können sich ja noch daran erinnern, damals haben wir um 50 Prozent gekämpft. Wenn wir in den Umfrageergebnissen im Bundesvorstand mal unter 52 Prozent lagen, dann war schon das Drama da.
Müchler: Es ist lange her.
Geißler: 1983 hatten wir 48,8 Prozent. Es war das beste Wahlergebnis nach 1957, und 1987 nur durch die Dummheit von Franz-Josef Strauß, der einen Binnenwahlkampf angefangen hatte wegen der Entspannungspolitik, haben wir aber auch noch 45 Prozent bekommen. Das war ein Erfolgsmodell, ist gar keine Frage, eine vernünftige Arbeitsteilung.
Helmut Kohl kam unter Druck, weil die Politik, die ich vertreten habe, es war die genuine CDU-Politik, wegen der übrigens viele der heute in Verantwortung stehenden auch Ministerpräsidenten in die CDU eingetreten sind, können Sie alle fragen, das ist die Zeit gewesen, wo die CDU einen unglaublichen Zulauf hatte, mit weit über 760.000 Mitgliedern.
Diese Arbeitsteilung, diese Zusammenarbeit ist von außen zerstört worden, durch massiven Druck, auch der Zeitungen zum Beispiel, der "FAZ", aber auch der CSU, die ständig den Kohl genervt hat mit der Frage, wer bestimmt eigentlich die Politik bei dir? Und außerdem hat sich dann im Laufe der Jahre, 1988 und 1989, eben doch herausgestellt: Das war keine sehr erfolgreiche Regierungspolitik mehr, wenn das so weitergeht, dann verliert die CDU Kopf und Kragen. Darüber waren sich alle einig, auch die meinungsforschenden Institute, dass ohne eine Änderung, welcher Art auch immer, die CDU die Bundestagswahl verlieren würde. Da waren sich alle einig.
Ich bin damals, da kann man sagen, der etwas naiven oder blauäugigen Vorstellung gewesen oder Auffassung gewesen, das habe ich mir immer gesagt, eines Tages wird auch das Präsidium gefragt werden, auch ich persönlich werde gefragt werden: Sehenden Auges habt ihr zugeguckt, wie das schief läuft, und was habt ihr eigentlich dagegen getan? Ihr habt einfach da rumgesessen und habt geguckt und zugeschaut, wie der Parteivorsitzende und Bundeskanzler den Laden gegen die Wand fährt.
Ich habe dann mit fast allen Mitgliedern des Präsidiums geredet, die haben mir alle Recht gegeben. Aber mit keinem Wort ist darüber geredet worden, eine personelle Änderung vorzunehmen, sondern es sollte mal eine Diskussion in Gang kommen über notwendige Maßnahmen, welche auch immer! Änderung der Inhalte, vielleicht auch mehr Teamarbeit und nicht mehr Konzentrierung auf eine Person, und das ist natürlich auch, die Gespräche, die ich da geführt habe, die sind von Einzelnen, auch dem Helmut Kohl gesagt worden, es gab auch andere, es gab richtige Intrigen, und dadurch ist er unsicher geworden. Ich bin auch davon überzeugt, dass er Angst hatte, unbegründete Angst, dass er glaubte, ich wollte Parteivorsitzender werden.
Ich wollte in meinem Leben nie den Helmut Kohl als Parteivorsitzenden stürzen, der ist ja Bundeskanzler. Das wäre mir nie in den Sinn gekommen. Das hat er aber geglaubt, er hat irgendwie Angst bekommen, und es ist geschürt worden, zum größten Teil auch von der CSU. Und deswegen ist es im Laufe der Zeit inhaltlich auch auseinandergegangen, denn er war in seiner Machtfrage... Das ist für ihn der entscheidende Punkt, die Macht, er wollte Bundeskanzler bleiben, und da war er natürlich viel abhängiger von der CSU und der FDP als von der eigenen Partei, die er da immer etwas vernachlässigt hat. Infolgedessen hat er da eben letztendlich nachgegeben.
Ein Putschversuch
Geißler: "Wenn der Lothar Späth angetreten wäre, dann wäre er Parteivorsitzender geworden."
Müchler: Spielen Sie das nicht rückschauend etwas herunter? Damals, ich spreche jetzt vom August 1989, Vorbereitung des Bremer Parteitages.
Geißler: Das war aber der Endpunkt.
Müchler: Das war der Endpunkt, aber da gab es in der Öffentlichkeit eigentlich den durchgängigen Eindruck, hier wird die Machtfrage gestellt von Präsidiumsmitgliedern, und der Generalsekretär, der absehen kann, dass er in Bremen nicht wieder von Kohl zum Generalsekretär vorgeschlagen wird, spielt da eine wichtige Rolle. Die Galionsfiguren - jedenfalls in der öffentlichen Vorstellung damals - Lothar Späth als eine Art Reservekanzler und Rita Süßmuth, die Sie bedrängt haben sollen, sich um den Parteivorsitz zu bewerben in Bremen.
Geißler: Na, das ist ja aber alles sollen, sollen, sollen, nicht wahr, das hat mit der Realität nichts zu tun.
Müchler: Das war nicht so?
Geißler: Das war mit Sicherheit nicht so. Außerdem war das auch gar nicht klar. Der Helmut Kohl wollte ganz sicher nicht mehr, dass ich weiter Generalsekretär bin, das ist wahr, aber die Partei wollte das, dass ich Generalsekretär bleibe. Und es gab eine DPA-Umfrage, wo alle Landesverbände mit, ich glaube, einer Ausnahme, alle erklärt haben, der soll Generalsekretär bleiben, auch die Mitglieder, auch führende Mitglieder haben das ja hinterher auch gesagt.
Insofern war das, was, also, da ist ja immer von Putsch geredet worden, wenn einer einen Putsch begangen hat, dann war das der Helmut Kohl, weil er diese Generalsekretärsfrage gegen den Willen der Partei lösen wollte. Das ist aber auch nicht das Entscheidende.
Müchler: Aber er hat das ja auf dem Parteitag durchgekriegt.
Geißler: Das ist ganz klar. Er hat das auf dem Parteitag durchgesetzt. Warum? Es ist nämlich etwas passiert. Es war Mitte August, als er mir das dann gesagt hat, wo er auch sagte, ich weiß genau, das ist ein Risiko, das kann auch für mich schief ausgehen. Ich habe gesagt, es gibt eigentlich keinen Grund, es sei denn, man macht eine Richtungsentscheidung draus. Aber die Tatsache, dass er mich nicht mehr vorschlagen wollte, hat in der Partei Widerstand ausgelöst.
Erst ab diesem Zeitpunkt ist die Diskussion in Gang gekommen bei einer ganzen Reihe von Präsidiumsmitgliedern, ob nun die Partei eigentlich völlig ausgeliefert ist einer Soloentscheidung des Parteivorsitzenden, oder ob man da nicht doch eine Änderung herbeiführen müsste. Erst seit Mitte August ist der Gedanke aus dem Präsidium heraus - gar nicht von mir - entwickelt worden, eine Alternative für den Parteivorsitz zu entwickeln.
Müchler: Wie standen Sie dazu?
Geißler: Ich hielt das dann für richtig, das war auch meine Meinung, und es hatte sich auch Lothar Späth für den Parteivorsitz bereiterklärt. Und er hatte als Generalsekretärin die Frau Thoben, die Christa Thoben hatte sich ebenfalls bereiterklärt, und etwas ist auch klar, wenn der Lothar Späth angetreten wäre - weil Sie gerade gesagt haben, er hat es durchgesetzt -, aber wenn der Lothar Späth angetreten wäre, dann wäre er Parteivorsitzender geworden.
Müchler: Kann man das so sagen?
Geißler: Das kann man sagen.
Müchler: Lothar Späth ist regelrecht abgestraft worden auf dem Parteitag. Er hat ein miserables Stimmenergebnis bekommen.
Geißler: Ist doch klar warum. Ist doch klar warum, nicht wahr, er hat ja nachher nicht kandidiert. Er hat also die Stimmen nicht bekommen von denjenigen, die ihn gerne gehabt hätten, wenn ein Führungswechsel stattgefunden hätte, und er hat aber auch die Stimmen nicht bekommen, die für Helmut Kohl waren, die hat er erst recht nicht bekommen. Da können Sie ja nur ein miserables Wahlergebnis haben, das ist der ganze Grund gewesen.
Und der Lothar Späth hat eben 14 Tage vorher einen Rückzieher gemacht. Das ist seine Entscheidung gewesen, und das ist der ganze Grund, warum Helmut Kohl Parteivorsitzender geblieben ist. Natürlich, das muss man auch sagen, hat der Lothar Späth erhebliche Gegner gehabt. Es wollten nicht alle, auch im Parteipräsidium, im Bundesvorstand, Helmut Kohl ersetzen durch Lothar Späth, das ist auch wahr. Und er hatte ja auch Gegner im eigenen Landesverband, die das auch nicht akzeptiert haben. Und insofern ist er in Schwierigkeiten gekommen mit dieser Kandidatur.
Aber ich weiß genau, dass in den allermeisten Landesverbänden und auch den Landesverbänden, bei denen man es nicht vermuten würde, ganz klar gesagt wurde, wir brauchen, nicht im Kanzleramt, aber wir brauchen einen Wechsel im Parteivorsitz. Das kann so nicht weitergehen.
Müchler: Wäre das eine nicht die Folge des anderen gewesen?
Geißler: Das ist nicht unbedingt die Konsequenz, überhaupt nicht. Es muss ja nicht sein. Warum eigentlich?
Müchler: Theoretisch nicht, aber Sie haben ja eben völlig zu Recht darauf hingewiesen, das war keine Erfolgsphase für die Regierung Kohl, eine Landtagswahl nach der anderen war nicht gut ausgegangen, und wenn er dann im Streit den Parteivorsitz hätte abgeben müssen, hätte das nicht automatisch auch das Ende des Koalitionskanzlers Kohl sein müssen?
Geißler: Ja, möglicherweise wäre das die Konsequenz gewesen, nur, jetzt will ich mal etwas ganz Einfaches sagen: Putsch und solche Begriffe, das sind ja Begriffe aus dem Vormärz, aber es sind keine Begriffe für die Demokratie. Der Parteivorsitz stand zur Wahl, und in einer funktionierenden Demokratie kann für jedes Amt jeder kandidieren. Das kann ich unmöglich als Putsch bezeichnen, also, wenn der Lothar Späth kandidiert hätte, dann wäre das die Ausübung eines demokratischen Rechtes gewesen, genauso wie der Lafontaine damals bei einem der letzten Parteitage gegen Scharping kandidiert hat und auch gewonnen hat.
Das bringt immer Verwerfungen mit sich, aber gehört nun einmal zur innerparteilichen Demokratie. Also Putsch, das ist eben die Mentalität, die halt aus diesen ganzen langen Amtsjahren entsprungen ist, aber eine Mentalität, die eben letztendlich dann dazu geführt hat, nachdem ich nicht mehr Generalsekretär war - das sage ich jetzt nicht wegen mir -, dass sich die Partei schon verändert hat. Einer der Kohlbiografen hat ja das Kapitel überschrieben mit der Überschrift "Jetzt ist er die Partei".
Das ist aber im Statut der Partei so nicht vorgesehen, diese Identifikation einer großen politischen Partei mit einer Person, aber das hat sich eben dann in den 90er Jahren verfestigt. Die CDU ist gefangen geworden in einem geistigen Sultanat, und eine parteiinterne Diskussion über wichtige Fragen hat nicht mehr stattgefunden. Ich nenne ein Beispiel, die Ausländerpolitik. Kohl wollte auf einem Parteitag sogar beschließen lassen, Deutschland ist kein Einwanderungsland. Da hätte er auch beschließen lassen können, zwei mal zwei ist fünf.
Dadurch sind notwendige Diskussionen - also, wenn man von Reformstau redet, nicht wahr, dann muss man so ein Kapitel nennen - in der Tat unterblieben, nämlich die Integrationspolitik gegenüber unseren Mitbewohnern, der Mitbevölkerung, die halt eine andere Herkunft hatte. Das ist ein Punkt, den man sehen muss. Und zweitens, das ist auch völlig klar, Helmut Kohl und die CDU - in dem Fall muss man beide nennen - sind gerettet worden durch die Ostberliner, durch die Leipziger, durch die deutsche Einheit, die ja von diesen Menschen herbeigeführt worden ist, und nicht von der deutschen Politik, also, das kann ich nun wirklich sagen.
Müchler: Also, nicht der Kanzler der Einheit, Helmut Kohl. Ist das eine Anmaßung?
Geißler: Wenn man von der deutschen Einheit redet und der Ursache der deutschen Einheit, dann muss man die Menschen nennen, die zu Hunderttausenden auf die Straße gegangen sind, und da muss man allenfalls Gorbatschow nennen, wie Lothar Gall das mal von Bismarck gesagt hat, ein Genie der wertenden Wirklichkeit. Es war Gorbatschow, der auch letztendlich den NATO-Beitritt mit dem alten Bush ausgehandelt hat.
Der Helmut Kohl, der hat ein bleibendes Verdienst in seinem Einsatz für Europa. Das ist ein großer Erfolg gewesen, dass er diese Stagnation zwischen Helmut Schmidt und Giscard d'Estaing aufgelöst hat durch sein sehr gutes Verhältnis mit Mitterrand, und er hat in der Tat die europäische Entwicklung entscheidend vorangetrieben. Das ist ein historisches Verdienst von Helmut Kohl, aber nicht die deutsche Einheit.
Müchler: Kommen wir noch mal zurück auf diese wirklich außerordentliche Situation im Sommer 1989. Es wäre die Bundesregierung gewissermaßen geköpft worden zu einem Zeitpunkt, wo Europa in die entscheidende Phase der Aufhebung des Jaltasystems eingetreten war.
Geißler: Ja, jetzt reden Sie aber wie die türkischen Sultane. Wieso geköpft? Nehmen wir mal an, es wäre so geworden.
Müchler: Aber es hätte keine handlungsfähige Regierung gegeben.
Geißler: Wieso denn? Es hätte einen neuen Bundeskanzler gegeben oder der alte Bundeskanzler wäre Bundeskanzler geblieben. Sie können ja nach der deutschen Verfassung den Bundeskanzler nicht stürzen, es sei denn durch ein konstruktives Misstrauensvotum. Warum hätte die CDU das machen sollen? Verstehen Sie? Das sind alles so imaginäre Vorstellungen, die Sie ja nur wiedergeben - muss ja nicht Ihre Überzeugung sein -, wie halt eine Demokratie nicht funktioniert. Insofern wäre das, was Sie da nun negativ geschildert haben, das hätte ja gar nicht eintreten müssen.
Ich sage noch einmal: Der Helmut Kohl hätte ja Bundeskanzler bleiben können, warum denn nicht? Vielleicht wäre die CDU mit einem anderen Kandidaten 1990 angetreten, aber angesichts der Entwicklung in Ostdeutschland und überhaupt im Verhältnis immer zu den ehemaligen Ostblockstaaten hätte das die CDU höchstwahrscheinlich nicht getan, wäre wahrscheinlich auch dumm gewesen.
Müchler: Herr Geißler, lassen wir zum Schluss noch auf ein ganz anderes Kapitel Ihres Lebens kommen, Ihres Lebens als Politiker, aber auch des Publizisten Heiner Geißler. Verteidigung der Menschenrechte - das ist so etwas wie ein roter Faden, der sich durch Ihre Biografie zieht. 2002 haben Sie ein großes Buch über Intoleranz geschrieben. Toleranz versus Fundamentalismus - ist das aus Ihrer Sicht die Schlüsselfrage unseres Jahrhunderts?
Geißler: Ganz sicher eine der Schlüsselfragen. Eine zentrale Schlüsselfrage ist natürlich die Ökologie, aber hat etwas mit dem Fundamentalismus deswegen zu tun, weil die Fundamentalisten, um die es heute geht, diese Frage einfach beiseiteschieben, denn Terroristen, Osama bin Laden und seine Al-Kaida-Leute, interessiert die Ökologie überhaupt nicht. Aber leider haben wir eben auch Marktfundamentalisten, die eben diese Frage auch beiseiteschieben, und beide Arten des Fundamentalismus sind intolerant.
Der Fundamentalist behauptet ja, dass er die Wahrheit gepachtet hat. Das ist noch nicht so schlimm, da macht er sich höchstens lächerlich, wenn er das sagt. Aber wenn er Macht hat und er benutzt diese Macht, um anderen seine Auffassung mit Gewalt beizubringen, sie ihm aufzuzwingen, dann entsteht der Ayatollah, der christliche Ayatollah, der politische Ayatollah oder eben auch der islamische Ayatollah. Und wir haben leider Gottes eben auch den ökonomischen Fundamentalismus der absoluten Vorherrschaft des Kapitals. Ich bin Mitglied geworden bei Attac, um das gewaltfreie Demonstrationsrecht, für das Attac eintritt, gerade in der jetzigen Situation zu unterstützen.
Müchler: Aber das tun auch andere, auch andere treten für das ein.
Geißler: Das ist ganz richtig, aber Attac ist ein Netzwerk, das richtige Ziele gleichzeitig vertritt, nicht die Abschaffung der Globalisierung, sondern die humane Gestaltung des Globalisierungsprozesses. Das Kapital beherrscht die Menschen, und die Menschen haben den Kapitalinteressen zu dienen. Das ist der eigentlich gefährliche Fundamentalismus, aus dem heraus der andere Fundamentalismus natürlich gespeist wird, von Bangladesch bis nach Algerien. Wenn 90 Prozent der jungen Leute arbeitslos sind, null Chance haben auf eine berufliche Zukunft, werden sie leichtes Opfer des islamischen Fundamentalismus, als Folge eines Versagens der westlichen Demokratien in der Ökonomie.
Müchler: Wo die Grenze zwischen Toleranz und Fundamentalismus verläuft, kann man sich ungefähr vorstellen. Wo verläuft die Grenze zwischen Toleranz und Relativismus, zwischen Toleranz und "Anything goes"?
Geißler: Es gibt keine Toleranz gegenüber denjenigen, die die Freiheit beseitigen wollen, keine Freiheit für die Feinde der Freiheit!
Müchler: Ist zum Beispiel das Kopftuch hier ein richtiges Symbol?
Geißler: Es kommt darauf an, wie es benutzt wird. Wenn es benutzt wird als von den Männern den Frauen aufgezwungen, als Symbol der Zweitklassigkeit der Frau, dann ist es ein Politikum, das im Widerspruch steht zu unserer Verfassung. Wenn es Ausdruck ist eines religiösen Bekenntnisses, geht es den Staat nichts an. Leider ist es so, dass das Kopftuch den Frauen aufgezwungen wird in der überwiegenden Mehrheit, von der Familie, von der Sippe, und natürlich auch von den Mullahs. Und insofern ist es richtig, wenn man hier sagt, das hat im öffentlichen Leben nichts verloren. Nur darum geht es ja.
Es kann ja heute in Deutschland jeder rumlaufen, wie er mag, nur im öffentlichen Dienst eben nicht. Die Religionsfreiheit ist auch ein Grundrecht, steht aber nicht über der Verfassung, sondern hat die anderen Grundrechte zu respektieren, also zum Beispiel die Meinungsfreiheit, die Pressefreiheit.
Müchler: Was möchten Sie, das mal über Sie in den Geschichtsbüchern geschrieben wird?
Geißler: Da habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Ich glaube, dass ich von mir aus sagen kann, dass ich versucht habe, manchmal nicht ohne Erfolg, die Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern.
Müchler: Vielen Dank für das Gespräch!