Ob es tatsächlich so etwas wie Schicksal gibt? Dass man im Moment seiner Geburt bereits Karten zugeteilt bekommt? Oder existiert einfach nur eine Menge von Möglichkeiten? Bryan Washington, Afroamerikaner aus Houston, Texas, Kolumnist des Magazins „The New Yorker“ und der Tageszeitung „The New York Times“, gibt seinem Debütband mit 13 Erzählungen einen mehrdeutigen Titel, der auch für die deutsche Übersetzung übernommen wurde: „Lot“ – das kann entweder „viel“ oder „Schicksal“ heißen oder eine Gruppe meinen.
Washingtons Protagonisten haben alle nicht das große Los gezogen, aber sie versuchen damit klarzukommen. Unsentimental und ohne psychologische Erklärungen. Ihre Geschichten werden von einem Ich-Erzähler berichtet, einem jungen Mann, Sohn einer Afroamerikanerin und eines Latinos, den niemand beim Namen nennt, was man als Ausweis einer unklaren Identität lesen könnte. Der junge Mann liebt Jungs, auf über zweihundert Seiten immer wieder, quasi im Vorbeigehen, aber ein echtes Coming Out fällt ihm schwer. Als er sich seinem älteren Bruder Javi öffnet, verprügelt der ihn.
„Javi sagte, das Einzige, was schlimmer wäre als ein Junkie-Vater, sei ein schwuler Sohn. Das war kurz vor dem Anfang vom Ende, nach einem der Sauf-Marathons meines Bruders. Ein oder zwei Wochen, bevor er zur Grundausbildung nach Georgia fuhr.“
Allein und entschlossen
Der junge Mann ist allein. Javi, den Bruder, hat die Mutter rausgeschmissen, er kommt beim Militär bald durch einen Unfall ums Leben. Die ältere Schwester ist aus dem billigen Restaurant und vor der kaputten Ehe der Eltern geflohen. Und der Vater schließlich – macht sich auch aus dem Staub wegen einer anderen, der er seinen Sohn irgendwann als „mein Neffe“ vorstellt. Der junge Mann nimmt sein Los an. Er arbeitet in der Küche des Restaurants, das längst verkauft sein sollte, doch für seine Mutter der letzte Halt ist.
„Das Viertel zu verlassen hieße, den Laden zu verlassen. Es hieße, Ma zu verlassen. Allein und bankrott. Es brauchte nicht lange, bis ich kapierte, dass da einmal die Welt ist, in der du lebst, und dann gibt es Konstellationen um sie herum, und du wirst nie verstehen, dass du sie nicht siehst, wenn du nicht mal weißt, dass du den Blick heben könntest. Mas Tochter hatte sie verlassen. Ihr Sohn hatte sie verlassen. Ihr Mann hatte sie verlassen. Also konnte ich sie nicht auch noch verlassen.“
Die Nachbarschaft ist eigentliches Zentrum
Früher hätte man gesagt, Schauplatz der Handlung seien die Einwandererviertel Houstons. Heute, wo mehr als die Hälfte der Bewohner der Stadt Hispanics oder Afroamerikaner sind, dazu noch ein beträchtlicher Prozentsatz Asiaten, muss man sagen, das diese Wohngebiete das eigentliche Zentrum sind. Auch wenn es auf einem Stadtplan woanders lokalisiert würde, bei Bryan Washington macht die Nachbarschaft, in der zu laute Partys gefeiert, zu viele Drogen konsumiert werden, der Strom ausfällt und lässig von „verfickten Augen“, „Crack-Nutten Schulen“, „scheiß Witzen“ und „verblödeten Schwuchteln“ gesprochen wird, eindeutig den Mittelpunkt der Stadt, des Lebens, der Geschichten aus. Weiße, Blancos, Whiteboys verirren sich dorthin nur, wenn sie nicht flüssig sind. Wenn so einer dann ein Verhältnis mit einer verheirateten Jamaikanerin anfängt, weiß das die ganze Nachbarschaft.
„Auf diese Weise war Ajas Affäre mit dem Whiteboy absolut nicht geheim. Und nicht mal besonders skandalös. In den Jahren, die wir hier wohnen, haben wir Kokain-Kriege miterlebt, diverse Neuanordnungen der Territorien, und die gewohnten Revierkämpfe zwischen den Schulen, Schießereien – Mr. Po könnte dir von den Cops erzählen, die vor den Toren herumgekurvt sind. Esmeralda Riviera hat Fotos von Ratten, so fett wie Bäume. Aber das Viertel hat sich verändert.“
Trotzdem nimmt die Geschichte zwischen Aja und James, dem Whiteboy, kein gutes Ende. Doch als niemand zu seiner Beerdigung kommt, sammeln die Bewohner für ein großes Fest.
„Wir hängten Luftschlangen an die Geländer. Grillten Chicken Wings, stöpselten Lautsprecher ein, stellten Torpfosten auf, tranken Schnaps, rissen die Arme hoch. Und ob Vieja oder Junior, Filipino oder Schwarzer, wir tanzten, tanzten, tanzten zur Melodie dieser Geschichte, ihrer Geschichte, unserer Geschichte.“
Emotionale Ambivalenzen dicht erzählt
Das ist die Stärke des Erzählers Bryan Washington: er stilisiert die Tristesse nicht, aber er zeigt mit beiläufiger Selbstverständlichkeit Ambivalenzen und die emotionalen Untergründe seiner Figuren. Der Übersetzer Werner Löcher-Lawrence übernimmt immer wieder auch spanische Wörter und Phrasen, das unterstreicht die dichte Atmosphäre der Erzählungen und die Lebendigkeit der Dialoge. Und keine Sorge, der Inhalt erschließt sich auch für die, die kein Spanisch können.
Bryan Washington: „LOT. Geschichten einer Nachbarschaft“
Aus dem Amerikanischen von Werner Löcher-Lawrence
Kein & Aber Verlag, Zürich / Berlin
234 Seiten. 23.- Euro
Aus dem Amerikanischen von Werner Löcher-Lawrence
Kein & Aber Verlag, Zürich / Berlin
234 Seiten. 23.- Euro