Gerade haben die Inder die Pakistani im Kricket besiegt. Die Spieler tragen abgenutzte Soldatenmäntel oder unförmige Daunenjacken anstelle der Spielerdressen. Mit einem Holzprügel schleudern sie den Ball über den Morast. Die Männer spielen in der Nähe des altösterreichischen Dorfes Schönborn. Die Ortschaft liegt in der Ukraine. Das Spiel fand hinter Stacheldraht statt. Sie spielen es hier täglich, und das seit Monaten. Dabei hatten sie doch ein neues Leben im europäischen Paradies gesucht. Nun sitzen sie im Deportationscamp Pavshino.
Florian Klenk beginnt seinen Reportageband fünf Stunden östlich von Wien. Auf einer ehemaligen sowjetischen Raketenbasis warten Flüchtlinge auf ihre Zukunft. Doch die EU-Bürokratie ist völlig überfordert, die zu organisieren. Also sitzen sie fest. Und spielen Cricket. Der österreichische Journalist Klenk hat ihre Geschichte aufgeschrieben. Und 15 weitere. "Früher war hier das Ende der Welt", so lautet der Titel des Reportagebandes von Florian Klenk - stellvertretender Chefredakteur und Politikchef des Wiener Stadtmagazins Falter sowie Autor der ZEIT. Der Titel: das Zitat eines österreichischen Polizisten, der an der Grenze zu Tschechien patrouilliert. Eine Grenze - die jahrzehntelang tot war und mit Schengen die Menschen davor und dahinter vor völlig neue Herausforderungen stellt. Phänomene, auf deren Spuren sich Florian Klenk begibt:
"Frauenhandel, Schlepperei, Einbrüche, Wanderungsbewegungen, Polizisten, die heute völlig anders reagieren, als sie es vielleicht noch früher getan hätten, Politiker, die die Ängste der Bevölkerung befriedigen wollen. Und an diesen Grenzen bin ich entlang marschiert. Einerseits wirklich physisch. Und andererseits habe ich mir die Grenzen in der österreichischen Gesellschaft angeschaut. Die roten Linien, die immer wieder überschritten werden."
Die realen Grenzen des Staates oder eben jene roten Linien in der Gesellschaft: Das Leitmotiv der hier versammelten Reportagen ist die Grenze. Die zwischen Ländern, vor allem aber die von Wohlstand und Anstand. Ihnen spürt Klenk nach: in Deutschland, vor allem aber in Österreich. Die politischen Kulturen beider Länder - für Klenk könnten sie unterschiedlicher nicht sein - obwohl in beiden Länder die gleiche Sprache gesprochen wird. Bestes Beispiel: der Personenkult um den Rechtspopulisten Jörg Haider. Der war 2008 mit seinem Auto in einen Gartenzaun gerast und gestorben. Florian Klenk:
"Es wurde hier ein NS-Stollen hergerichtet als Haider-Museum, das Autowrack wurde hier mit Steuergeldern angekauft. Man hat ihm ein Denkmal gesetzt aus schwarzem Marmor und goldenen Händen, die sich halten. Für mich ein Sinnbild der österreichischen Korruption, aber es ist das Haider Denkmal. Es wäre in Deutschland undenkbar, dass ein NPD-Chef mit so viel Pomp und Trara an einem öffentlichen Ort bestattet wird. Es wär' auch undenkbar, dass man Flüchtlinge in Deutschland auf die Saualm schickt und ein Politiker dann sagt, man muss sie dann in einem Lager konzentrieren. Und zwar nicht nur die straffälligen Flüchtlinge, sondern auch die Kranken."
Kärnter Realpolitik nennt das Florian Klenk. Wie schafft es eine Partei, die Grenze des Anstands zu überschreiten? Um die Antwort zu finden, reist der Journalist für seine Reportage über Haiders Erben ins hinterste Mölltal, an den Fuß des Großglockners. Dort im Touristenparadies ist Haiders ehemaliger Bergkamerad Peter Suntinger Bürgermeister von Großkirchheim. Das Dorf ist die Hochburg der Rechtsnationalisten Österreichs. Suntinger hat keine Scheu, dem Reporter in einer kleinen Spritztour seine "Bodenpolitik" ganz offen zu erklären, in der Türken keine Wohnungen bekommen und muslimische Kinder nicht zur Schule gehen sollen:
"Er zeigt Kläranlagen, Sportplätze, Sozialwohnungen und Schulgebäude, die unter seiner Ägide "für uns Kärtner" erbaut wurden. Er ist stolz. Und stolz blickt er wie von einem Hochstand herunter. "Sie sind kommunistischer Jude, oder?", fragt Suntinger, als hätte er den Gast nun im Visier. "Schreiben Sie ja nicht, dass wir ein Nazidorf sind." Nein, es sind keine Neonazis, die hier regieren. Es ist ein rabiater Bauernsozialismus mit nationalem Antlitz, der den Rechtsstaat verlacht - zum Schaden jener, die nicht mitlachen können."
Im tiefsten Kärnten kann ein Politiker mit seinem nationalen Bauernsozialismus genau diese rote Linie überschreiten und wird dafür auch noch mit Stimmen belohnt. Und zur gleichen Zeit kann ein Mann mitten in der "Idylle des Roten Wiens" auf Ausländerkinder schießen- und erntet dafür bei seinen Nachbarn Anerkennung. Warum das alles in Österreich möglich ist? Für den mehrfach als investigativen Journalisten ausgezeichneten Österreicher gibt es dafür mehrere Gründe: Neben der mangelnden Aufarbeitung der NS-Geschichte und - bis auf Wien - fehlender urbaner Zentren sieht er den Grund vor allem in der österreichischen Medienlandschaft:
"Es fehlen uns die großen Qualitätsmedien, die großen, breiten Debatten. Es gibt keine großen Leitfiguren, die das Wort erheben, die diesen roten Linien Grenzen setzen und einem Diskurs. Herbert Riehl-Heyse hat das so schön formuliert: dass nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur die Journalisten ermordet wurden, die Reporter ermordet wurden, sondern auch deren Leser. Und das diese Kultur des Reportierens, des Debattierens, des Feuilletons nicht mehr wirklich wiederbelebt wird."
Florian Klenk möchte das ändern - und dafür die Sozialreportage wieder beleben. Nicht die Sorte von Betroffenheit triefend und zynisch. Sondern die respektvolle, mit den feinen Zwischentönen. Denn der Österreicher sieht sich in der Tradition der Wiener Aufdeckungsjournalisten Egon Erwin Kisch, Emil Kläger oder Max Winter. Denn deren Grundverständnis von Journalismus war, den Alltag einer Gesellschaft zu enthüllen:
"Ich glaube, dass es die Aufgabe von uns Journalisten ist, jetzt hundert Jahre später, an diese Traditionen anzuknüpfen und wirklich wieder Journalismus zu machen, der nicht in Content-Management-System besteht und nicht nur im Mikrofonständerjournalismus und Stenografenjournalismus, sondern dass wir wieder beginnen, politische Themen von unten aufzuschreiben, um den Leuten wieder wirkliche Geschichten zu erzählen. Geschichten über ihre Welt, ihren Mikrokosmos. Wir haben in Österreich unglaublich viele Reportagen über die Tierwelt in Afrika, wir wissen alles über den Leoparden und den Löwen, aber wir wissen relativ wenig über die Supermarktkassiererin nebenan oder den erschossenen Jugendlichen und die Mutter und wie die österreichische Gesellschaft sie behandelt."
Dinge infrage zu stellen, selbst anzuschauen, alles für möglich zu halten - aber Fakten und Meinung nicht zu vermischen, und die eigene Einschätzung nicht zu verbergen: Florian Klenk zeigt in seinen Reportagen immer aufs Neue, wie dünn die Kruste von Rechtstaatlichkeit und Zivilisation ist. Mit sensibilisiertem Blick, gelassen - ohne Schmalz, schaut er dahin, wo andere lieber wegschauen. Deshalb ist Klenks Buch nicht nur ein Buch über Österreich, sondern auch ein Buch über europäische Werte. Für Liebhaber großer Reportagen ein Muss.
Florian Klenk:Früher war hier das Ende der Welt. Reportagen.Zsolnay, 176 Seiten, 17,90 Euro
ISBN: 978-3-552-05528-5
Florian Klenk beginnt seinen Reportageband fünf Stunden östlich von Wien. Auf einer ehemaligen sowjetischen Raketenbasis warten Flüchtlinge auf ihre Zukunft. Doch die EU-Bürokratie ist völlig überfordert, die zu organisieren. Also sitzen sie fest. Und spielen Cricket. Der österreichische Journalist Klenk hat ihre Geschichte aufgeschrieben. Und 15 weitere. "Früher war hier das Ende der Welt", so lautet der Titel des Reportagebandes von Florian Klenk - stellvertretender Chefredakteur und Politikchef des Wiener Stadtmagazins Falter sowie Autor der ZEIT. Der Titel: das Zitat eines österreichischen Polizisten, der an der Grenze zu Tschechien patrouilliert. Eine Grenze - die jahrzehntelang tot war und mit Schengen die Menschen davor und dahinter vor völlig neue Herausforderungen stellt. Phänomene, auf deren Spuren sich Florian Klenk begibt:
"Frauenhandel, Schlepperei, Einbrüche, Wanderungsbewegungen, Polizisten, die heute völlig anders reagieren, als sie es vielleicht noch früher getan hätten, Politiker, die die Ängste der Bevölkerung befriedigen wollen. Und an diesen Grenzen bin ich entlang marschiert. Einerseits wirklich physisch. Und andererseits habe ich mir die Grenzen in der österreichischen Gesellschaft angeschaut. Die roten Linien, die immer wieder überschritten werden."
Die realen Grenzen des Staates oder eben jene roten Linien in der Gesellschaft: Das Leitmotiv der hier versammelten Reportagen ist die Grenze. Die zwischen Ländern, vor allem aber die von Wohlstand und Anstand. Ihnen spürt Klenk nach: in Deutschland, vor allem aber in Österreich. Die politischen Kulturen beider Länder - für Klenk könnten sie unterschiedlicher nicht sein - obwohl in beiden Länder die gleiche Sprache gesprochen wird. Bestes Beispiel: der Personenkult um den Rechtspopulisten Jörg Haider. Der war 2008 mit seinem Auto in einen Gartenzaun gerast und gestorben. Florian Klenk:
"Es wurde hier ein NS-Stollen hergerichtet als Haider-Museum, das Autowrack wurde hier mit Steuergeldern angekauft. Man hat ihm ein Denkmal gesetzt aus schwarzem Marmor und goldenen Händen, die sich halten. Für mich ein Sinnbild der österreichischen Korruption, aber es ist das Haider Denkmal. Es wäre in Deutschland undenkbar, dass ein NPD-Chef mit so viel Pomp und Trara an einem öffentlichen Ort bestattet wird. Es wär' auch undenkbar, dass man Flüchtlinge in Deutschland auf die Saualm schickt und ein Politiker dann sagt, man muss sie dann in einem Lager konzentrieren. Und zwar nicht nur die straffälligen Flüchtlinge, sondern auch die Kranken."
Kärnter Realpolitik nennt das Florian Klenk. Wie schafft es eine Partei, die Grenze des Anstands zu überschreiten? Um die Antwort zu finden, reist der Journalist für seine Reportage über Haiders Erben ins hinterste Mölltal, an den Fuß des Großglockners. Dort im Touristenparadies ist Haiders ehemaliger Bergkamerad Peter Suntinger Bürgermeister von Großkirchheim. Das Dorf ist die Hochburg der Rechtsnationalisten Österreichs. Suntinger hat keine Scheu, dem Reporter in einer kleinen Spritztour seine "Bodenpolitik" ganz offen zu erklären, in der Türken keine Wohnungen bekommen und muslimische Kinder nicht zur Schule gehen sollen:
"Er zeigt Kläranlagen, Sportplätze, Sozialwohnungen und Schulgebäude, die unter seiner Ägide "für uns Kärtner" erbaut wurden. Er ist stolz. Und stolz blickt er wie von einem Hochstand herunter. "Sie sind kommunistischer Jude, oder?", fragt Suntinger, als hätte er den Gast nun im Visier. "Schreiben Sie ja nicht, dass wir ein Nazidorf sind." Nein, es sind keine Neonazis, die hier regieren. Es ist ein rabiater Bauernsozialismus mit nationalem Antlitz, der den Rechtsstaat verlacht - zum Schaden jener, die nicht mitlachen können."
Im tiefsten Kärnten kann ein Politiker mit seinem nationalen Bauernsozialismus genau diese rote Linie überschreiten und wird dafür auch noch mit Stimmen belohnt. Und zur gleichen Zeit kann ein Mann mitten in der "Idylle des Roten Wiens" auf Ausländerkinder schießen- und erntet dafür bei seinen Nachbarn Anerkennung. Warum das alles in Österreich möglich ist? Für den mehrfach als investigativen Journalisten ausgezeichneten Österreicher gibt es dafür mehrere Gründe: Neben der mangelnden Aufarbeitung der NS-Geschichte und - bis auf Wien - fehlender urbaner Zentren sieht er den Grund vor allem in der österreichischen Medienlandschaft:
"Es fehlen uns die großen Qualitätsmedien, die großen, breiten Debatten. Es gibt keine großen Leitfiguren, die das Wort erheben, die diesen roten Linien Grenzen setzen und einem Diskurs. Herbert Riehl-Heyse hat das so schön formuliert: dass nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur die Journalisten ermordet wurden, die Reporter ermordet wurden, sondern auch deren Leser. Und das diese Kultur des Reportierens, des Debattierens, des Feuilletons nicht mehr wirklich wiederbelebt wird."
Florian Klenk möchte das ändern - und dafür die Sozialreportage wieder beleben. Nicht die Sorte von Betroffenheit triefend und zynisch. Sondern die respektvolle, mit den feinen Zwischentönen. Denn der Österreicher sieht sich in der Tradition der Wiener Aufdeckungsjournalisten Egon Erwin Kisch, Emil Kläger oder Max Winter. Denn deren Grundverständnis von Journalismus war, den Alltag einer Gesellschaft zu enthüllen:
"Ich glaube, dass es die Aufgabe von uns Journalisten ist, jetzt hundert Jahre später, an diese Traditionen anzuknüpfen und wirklich wieder Journalismus zu machen, der nicht in Content-Management-System besteht und nicht nur im Mikrofonständerjournalismus und Stenografenjournalismus, sondern dass wir wieder beginnen, politische Themen von unten aufzuschreiben, um den Leuten wieder wirkliche Geschichten zu erzählen. Geschichten über ihre Welt, ihren Mikrokosmos. Wir haben in Österreich unglaublich viele Reportagen über die Tierwelt in Afrika, wir wissen alles über den Leoparden und den Löwen, aber wir wissen relativ wenig über die Supermarktkassiererin nebenan oder den erschossenen Jugendlichen und die Mutter und wie die österreichische Gesellschaft sie behandelt."
Dinge infrage zu stellen, selbst anzuschauen, alles für möglich zu halten - aber Fakten und Meinung nicht zu vermischen, und die eigene Einschätzung nicht zu verbergen: Florian Klenk zeigt in seinen Reportagen immer aufs Neue, wie dünn die Kruste von Rechtstaatlichkeit und Zivilisation ist. Mit sensibilisiertem Blick, gelassen - ohne Schmalz, schaut er dahin, wo andere lieber wegschauen. Deshalb ist Klenks Buch nicht nur ein Buch über Österreich, sondern auch ein Buch über europäische Werte. Für Liebhaber großer Reportagen ein Muss.
Florian Klenk:Früher war hier das Ende der Welt. Reportagen.Zsolnay, 176 Seiten, 17,90 Euro
ISBN: 978-3-552-05528-5