Ein polnischer Rentner über die Marktwirtschaft im modernen Polen:
"Die Atmosphäre hier ist nicht viel schöner geworden. Unsere Politiker haben alles ans Ausland verkauft. Gemeinsam mit den fremden Konzernen machen sie uns betrunken."
Und Marta, eine junge Studentin, über Geld und Gerechtigkeit:
"Klar, die Gesellschaft ist immer mehr gespalten. Manche bekommen alles, was sie wollen, von ihren Eltern. Ich dagegen muss mir das Studium selbst finanzieren. Aber immerhin gibt mir das Land diese Möglichkeit - und so sieht eben das richtige Leben aus."
Zwischen Kirche und Konsum: Gesichter Europas heute über das neue Polen. Reporter ist Florian Kellermann, und am Mikrofon begrüßt Sie Barbara Schmidt-Mattern!
Seit einem knappen Jahr weht ein neuer Wind durch Warschaus Regierungsviertel. Mit dem dynamischen Regierungschef Donald Tusk hat ein Politiker die Führung übernommen, der sein Land aus der außenpolitischen Isolation befreit und in Polen den Glauben an Fortschritt und Aufstieg neu beflügelt hat. Vorbei die Rückwärtsgewandheit der Vorgänger-Regierung unter Jaroslaw Kaczynski. Der wollte nichts weniger als die nationalkonservative Wende und propagierte gemeinsam mit seinem Bruder, Präsident Lech Kaczynski, die Rückbesinnung auf die Nation, die Kirche und den Konservatismus.
Das neue Polen unter liberal-bürgerlicher Führung will hingegen nicht mehr konservieren, sondern konsumieren: Polen sucht den Anschluss an den Westen. Selbst ein führender Banker aus Warschau spricht von "Konsumwahn". Steigende Löhne und eine wachsende Lust am Besitz sind in vielen Teilen des Landes zu beobachten, vor allem in den Städten. Aber die Kehrseite dieser Entwicklung bleibt nicht verborgen.
Vor allem für Alte, Arme und Arbeitslose ist das soziale Klima rauer geworden - viele von ihnen sehnen sich nach der Ordnung und Sicherheit der Volksrepublik zurück. Unweit von Warschau lebt das Rentnerehepaar Brzezinski. Eigentlich geht es ihnen gut, sagen sie, aber eben nur eigentlich.
"Die Atmosphäre hier ist nicht viel schöner geworden. Unsere Politiker haben alles ans Ausland verkauft. Gemeinsam mit den fremden Konzernen machen sie uns betrunken."
Und Marta, eine junge Studentin, über Geld und Gerechtigkeit:
"Klar, die Gesellschaft ist immer mehr gespalten. Manche bekommen alles, was sie wollen, von ihren Eltern. Ich dagegen muss mir das Studium selbst finanzieren. Aber immerhin gibt mir das Land diese Möglichkeit - und so sieht eben das richtige Leben aus."
Zwischen Kirche und Konsum: Gesichter Europas heute über das neue Polen. Reporter ist Florian Kellermann, und am Mikrofon begrüßt Sie Barbara Schmidt-Mattern!
Seit einem knappen Jahr weht ein neuer Wind durch Warschaus Regierungsviertel. Mit dem dynamischen Regierungschef Donald Tusk hat ein Politiker die Führung übernommen, der sein Land aus der außenpolitischen Isolation befreit und in Polen den Glauben an Fortschritt und Aufstieg neu beflügelt hat. Vorbei die Rückwärtsgewandheit der Vorgänger-Regierung unter Jaroslaw Kaczynski. Der wollte nichts weniger als die nationalkonservative Wende und propagierte gemeinsam mit seinem Bruder, Präsident Lech Kaczynski, die Rückbesinnung auf die Nation, die Kirche und den Konservatismus.
Das neue Polen unter liberal-bürgerlicher Führung will hingegen nicht mehr konservieren, sondern konsumieren: Polen sucht den Anschluss an den Westen. Selbst ein führender Banker aus Warschau spricht von "Konsumwahn". Steigende Löhne und eine wachsende Lust am Besitz sind in vielen Teilen des Landes zu beobachten, vor allem in den Städten. Aber die Kehrseite dieser Entwicklung bleibt nicht verborgen.
Vor allem für Alte, Arme und Arbeitslose ist das soziale Klima rauer geworden - viele von ihnen sehnen sich nach der Ordnung und Sicherheit der Volksrepublik zurück. Unweit von Warschau lebt das Rentnerehepaar Brzezinski. Eigentlich geht es ihnen gut, sagen sie, aber eben nur eigentlich.
Ein Rentnerehepaar wünscht sich Enkel
Der kleine Terrier Maksia beißt immer wieder in den Plastikknochen und wedelt mit dem Schwanz. Aber Jerzy Brzezinski lässt sich nicht erweichen. Er ruft lieber die Katze zu sich, die seit 16 Jahren bei ihm und seiner Frau lebt. Jerzy nimmt sie auf den Arm: Sie sei schon alt, genauso wie er, sagt der 63-Jährige. Nur kurz zeigt sich unter seinem Schnauzbart ein kleines Lächeln: Er ist melancholisch in diesen Tagen.
"Wir hatten einen fürchterlichen Sturm. Meine Dahlien, die schon ein Meter achtzig bis zwei Meter groß waren, sind umgeknickt. Ich bin gleich in den Wald gelaufen und habe kleine Stöckchen geholt, um sie hochzubinden. Aber der Effekt ist im Eimer. Sie sehen jetzt aus wie angeschwollen."
Jerzy Brzezinski wird für seine schlechte Laune zurechtgewiesen. Seine Frau Danuta, die sieben Jahre jünger ist als er, will das Lamento über die Dahlien nicht mehr hören. Schließlich ist es ein schöner Herbsttag, und den beiden geht es gut: 30 Jahre haben sie an ihrem kleinen Häuschen gebaut, jetzt können sie es endlich genießen. Es liegt in einem Dorf bei Warschau - direkt am Waldrand.
Außerdem ist eine Nachbarin zu Besuch, und Danuta Brzezinska zeigt stolz ihr Fotoalbum. Sie war einmal polnische Meisterin im Vierkampf und nahm damals sogar an einem Wettbewerb in Moskau teil.
Der eigentliche Grund für Jerzys Melancholie sind aber gar nicht die Dahlien. Es ist das Alter, das er in letzter Zeit immer mehr spürt. Er hat einen Tinitus bekommen und seine Stimmbänder sind gereizt. Die Ärzte sagen, das liege an seiner falschen Artikulation. Er müsse seine Sprechweise ändern. Aber dafür sei es zu spät, meint Jerzy.
Außerdem hat Jerzy sich seinen Lebensabend ein bisschen anders vorgestellt. Bei einem Spaziergang durch den Garten zeigt er auf eine Reihe Silbertannen.
"Alle Bäume hier haben für unsere Familie eine historische Bedeutung. Diese beiden da vorne hat mein Schwiegervater gepflanzt, sie heißen Bartek und Malgorzata - wie unsere beiden Kinder. Die drei Silbertannen da hinten stammen von mir und meiner Mutter. Sie sollen einmal nach unseren drei Enkeln benannt werden. Na ja, ich hoffe eben, dass es mindestens drei werden."
Solche Sätze hört Danuta gar nicht gern. Ihr Mann setze die Kinder nur unter Druck, meint sie. Jerzy schüttelt den Kopf.
"Nein, nein. Die Kinder lachen doch nur darüber. Mein Sohn ist ja noch nicht einmal unter der Haube. 32 Jahre ist er schon alt, aber das ist ja jetzt in Mode: Single zu sein. Er ist außerdem fast zwei Meter groß: Wie soll ich ihn da unter Druck setzen?"
Jerzy zieht sich ins Haus zurück - und setzt sich ins Wohnzimmer vor den neuen, großen Fernseher mit Flach-Bildschirm. Seine Frührente und Danutas Teilzeitgehalt als Erzieherin sichern den beiden einen bescheidenen Wohlstand.
Trotzdem sind die beiden nicht so recht zufrieden mit dem Kurs, den Polen in den letzten Jahren eingeschlagen hat. Beim Kaffeetrinken erzählen sie, die rechtskonservative Regierung von Jaroslaw Kaczynski sei ihnen zu national und zu katholisch gewesen. Und am neuen Premier Donald Tusk gefällt ihnen nicht, dass er nichts für die Rentner und die Gesundheitsversorgung tue. Außerdem stammen beide Politiker aus der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc - die den Brzezinskis schon in den 80er Jahren suspekt war. Sie habe gern in der sozialistischen Volksrepublik Polen gelebt, sagt Danuta.
"Dieser Staat hat Warschau und das ganze Land wieder aufgebaut. Viele neue Siedlungen sind entstanden, auf die man heute spuckt, weil es Plattenbauten sind. Aber keiner denkt mehr daran, wie viele neue Wohnungen wir damals brauchten - und dass der Wiederaufbau sehr schnell gehen musste. Ich habe nicht das Gefühl, dass diese Jahre für Polen verloren sind. Für mich sind sie es jedenfalls nicht."
Aber natürlich sei sie froh, dass Polen heute ein demokratischer und unabhängiger Staat ist, fügt Danuta schnell hinzu.
Ihr Mann Jerzy hat noch einen ganz persönlichen Grund, warum er den Zusammenbruch des Sozialismus bedauert. Er war ein talentierter Chemiker. Sieben Patente für die Schutzlacke gehen auf ihn zurück. Aber in den 90er Jahren, als die Wirtschaft zusammenbrach, wurde er plötzlich nicht mehr gebraucht. Als ehemaliges Mitglied der sozialistischen Staatspartei wurde er als einer der ersten entlassen.
"Das war eine ganz absurde Zeit. Wer damals nicht 25 war und fünf Sprachen beherrschte, der hatte keine Chance auf eine neue Anstellung. Jetzt haben wir zu wenige Arbeitskräfte in Polen, weil die Hälfte von uns im Ruhestand ist."
Am späten Nachmittag kommt Sohn Bartek zu Besuch, der wie sein Vater Chemiker geworden ist. Er ist anderer Meinung als seine Mutter, Bartek spricht von seiner verlorenen Kindheit im grauen Kommunismus. Danuta kann das nicht hören, denn schließlich hatte er als erster in der Klasse einen Computer.
Aber gleich, wie sie die Vergangenheit bewerten, in einem sind sich alle Brzezinskis einig: Sie begrüßen es, dass Polen in der Europäischen Union ist. Bartek freut sich über die beruflichen Möglichkeiten, die er hat. Und Jerzy hofft, dass gerade die EU etwas von dem bewahrt, was er am sozialistischen Polen schätzte.
"Nur gemeinsam hat Europa die Chance, sich dem Wirtschaftsmodell der USA entgegen zu stellen. Denn dort zählen ja allein die Unternehmensgewinne. Ich war immer fasziniert vom System in den skandinavischen Staaten, das den Armen und Schwachen hilft und überhaupt den Menschen in den Vordergrund stellt. Ich hoffe sehr, dass es sich in der EU durchsetzt."
Sylwia Chutnik, 1979 in Warschau geboren, studierte Kulturwissenschaften mit Schwerpunkt Gender Studies. Privat bezeichnet sich die noch nicht mal 30-Jährige als "radikale Hausfrau". In Chutniks 2008 veröffentlichtem Debütroman Taschenatlas für Frauen werden die Brüche in der polnischen Gesellschaft sichtbar, zwischen den Schichten und den Generationen. Die Handlung spielt im Warschauer Stadtteil Ochota, in dem vor allem Rentner und Angestellte wohnen. Auch die elfjährige Marysia Kosak lebt mit ihren Eltern und ihrer Großmutter in Ochota. Marysia ist eine Einzelgängerin. Von ihren Eltern fühlt sie sich unverstanden, mit ihrer Umwelt kann sie nichts anfangen, nur die Gruppe junger Punker im Viertel ist ihr sympathisch. Am Ende des Buches wird Marysia den Markt von Ochota in Brand setzen.
"Marysia sah eines dieser Punk-Mädchen oft an der Ecke Grojecka-Straße (Grujézka) und Straße der Schlacht von Warschau. Sie war vielleicht 20 Jahre alt und sah aus wie ein bunter Vogel. Sie hatte rote Dread-Locks und eine große Anzahl von Ringen im Gesicht. Die Kleidung bestand aus einer Kombination von Röcken, Blusen, Hosen und alten Turnschuhen. Alles so schlampig ausgesucht und so… Marysia musste sie immer anstarren, wenn sie an dem Mädchen vorbei ging. Auch die Leute guckten, wenn sie Zeit hatten. Aber normalerweise gingen sie schnell an ihr vorbei und drehten nur manchmal ungläubig den Kopf nach ihr um. Eben von solchen Gaffern erfuhr Marysia, dass das Mädchen ein Punk ist. Marysia fragte gleich ihre Mutter, was das ist. Mein Kind, mein Mädchen, du bist doch so hübsch, weißt du, was das für Leute sind? Heilige Mutter Gottes, das sind doch, ich weiß gar nicht, ob ich darüber reden soll, vielleicht hast du gehört, das sind so Leute, die schnüffeln Klebstoff und rauchen Gras. Solche Leute schlafen auf dem Bahnhof und sind vollgepinkelt. Drogenabhängige, was soll man da noch sagen, ja leider."
Mitte der achtziger Jahre gab es in Polen einen regelrechten Kinderboom. Ende 1981 war die Solidarnosc-Bewegung mit der Verhängung des Kriegsrechts zunächst mundtot gemacht worden. Politischer Widerstand schien zwecklos. Die Bevölkerung flüchtete ins Private, Kinder und Kirche rückten in den Mittelpunkt. Arbeiterführer Lech Walesa, Vater von acht Kindern, lobte seine Ehefrau Danuta, öffentlich als echte "polnische Mutter". Heute hat Polen neben Deutschland die niedrigste Geburtenrate in Europa. Konservative und kirchennahe Politiker schlagen deshalb sogar vor, kostenlos Potenzmittel zu verschreiben und die Ausgabe von Kondomen zu beschränken. So denkt in Polen aber nur eine Minderheit. Innerhalb einer Generation hat das Land einen rasanten Wandel durchgemacht.
Demokratie und Marktwirtschaft haben Polen den Anschluss an Europa gebracht. Das bedeutet mehr Freiheiten, aber auch mehr Eigenverantwortung. Viele, vor allem junge Leute sehen darin eine Chance. Bildung und Karriere haben für sie Priorität - und viele von ihnen suchen ihr Glück im Ausland. Gut eine Million meist hoch qualifizierte Polen haben ihr Land seit dem EU-Beitritt 2004 verlassen, Richtung Dublin oder London.
Das hinterlässt Lücken im polnischen Rentensystem und auf dem Arbeitsmarkt: In Polen fehlen immer mehr Fachkräfte. Schließlich fragen besorgte Soziologen, ob es verkraftbar ist, wenn ein Land seine talentiertesten jungen Leute so zahlreich ziehen lässt.
Einige kommen allerdings auch zurück: Polnische Arbeitgeber berichten, dass sie verstärkt Bewerbungen von zurückgekehrten Polen erhalten. Auch Marta hat sich entschieden, zurückzukommen, allerdings nicht des Geldes wegen.
"Wir hatten einen fürchterlichen Sturm. Meine Dahlien, die schon ein Meter achtzig bis zwei Meter groß waren, sind umgeknickt. Ich bin gleich in den Wald gelaufen und habe kleine Stöckchen geholt, um sie hochzubinden. Aber der Effekt ist im Eimer. Sie sehen jetzt aus wie angeschwollen."
Jerzy Brzezinski wird für seine schlechte Laune zurechtgewiesen. Seine Frau Danuta, die sieben Jahre jünger ist als er, will das Lamento über die Dahlien nicht mehr hören. Schließlich ist es ein schöner Herbsttag, und den beiden geht es gut: 30 Jahre haben sie an ihrem kleinen Häuschen gebaut, jetzt können sie es endlich genießen. Es liegt in einem Dorf bei Warschau - direkt am Waldrand.
Außerdem ist eine Nachbarin zu Besuch, und Danuta Brzezinska zeigt stolz ihr Fotoalbum. Sie war einmal polnische Meisterin im Vierkampf und nahm damals sogar an einem Wettbewerb in Moskau teil.
Der eigentliche Grund für Jerzys Melancholie sind aber gar nicht die Dahlien. Es ist das Alter, das er in letzter Zeit immer mehr spürt. Er hat einen Tinitus bekommen und seine Stimmbänder sind gereizt. Die Ärzte sagen, das liege an seiner falschen Artikulation. Er müsse seine Sprechweise ändern. Aber dafür sei es zu spät, meint Jerzy.
Außerdem hat Jerzy sich seinen Lebensabend ein bisschen anders vorgestellt. Bei einem Spaziergang durch den Garten zeigt er auf eine Reihe Silbertannen.
"Alle Bäume hier haben für unsere Familie eine historische Bedeutung. Diese beiden da vorne hat mein Schwiegervater gepflanzt, sie heißen Bartek und Malgorzata - wie unsere beiden Kinder. Die drei Silbertannen da hinten stammen von mir und meiner Mutter. Sie sollen einmal nach unseren drei Enkeln benannt werden. Na ja, ich hoffe eben, dass es mindestens drei werden."
Solche Sätze hört Danuta gar nicht gern. Ihr Mann setze die Kinder nur unter Druck, meint sie. Jerzy schüttelt den Kopf.
"Nein, nein. Die Kinder lachen doch nur darüber. Mein Sohn ist ja noch nicht einmal unter der Haube. 32 Jahre ist er schon alt, aber das ist ja jetzt in Mode: Single zu sein. Er ist außerdem fast zwei Meter groß: Wie soll ich ihn da unter Druck setzen?"
Jerzy zieht sich ins Haus zurück - und setzt sich ins Wohnzimmer vor den neuen, großen Fernseher mit Flach-Bildschirm. Seine Frührente und Danutas Teilzeitgehalt als Erzieherin sichern den beiden einen bescheidenen Wohlstand.
Trotzdem sind die beiden nicht so recht zufrieden mit dem Kurs, den Polen in den letzten Jahren eingeschlagen hat. Beim Kaffeetrinken erzählen sie, die rechtskonservative Regierung von Jaroslaw Kaczynski sei ihnen zu national und zu katholisch gewesen. Und am neuen Premier Donald Tusk gefällt ihnen nicht, dass er nichts für die Rentner und die Gesundheitsversorgung tue. Außerdem stammen beide Politiker aus der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc - die den Brzezinskis schon in den 80er Jahren suspekt war. Sie habe gern in der sozialistischen Volksrepublik Polen gelebt, sagt Danuta.
"Dieser Staat hat Warschau und das ganze Land wieder aufgebaut. Viele neue Siedlungen sind entstanden, auf die man heute spuckt, weil es Plattenbauten sind. Aber keiner denkt mehr daran, wie viele neue Wohnungen wir damals brauchten - und dass der Wiederaufbau sehr schnell gehen musste. Ich habe nicht das Gefühl, dass diese Jahre für Polen verloren sind. Für mich sind sie es jedenfalls nicht."
Aber natürlich sei sie froh, dass Polen heute ein demokratischer und unabhängiger Staat ist, fügt Danuta schnell hinzu.
Ihr Mann Jerzy hat noch einen ganz persönlichen Grund, warum er den Zusammenbruch des Sozialismus bedauert. Er war ein talentierter Chemiker. Sieben Patente für die Schutzlacke gehen auf ihn zurück. Aber in den 90er Jahren, als die Wirtschaft zusammenbrach, wurde er plötzlich nicht mehr gebraucht. Als ehemaliges Mitglied der sozialistischen Staatspartei wurde er als einer der ersten entlassen.
"Das war eine ganz absurde Zeit. Wer damals nicht 25 war und fünf Sprachen beherrschte, der hatte keine Chance auf eine neue Anstellung. Jetzt haben wir zu wenige Arbeitskräfte in Polen, weil die Hälfte von uns im Ruhestand ist."
Am späten Nachmittag kommt Sohn Bartek zu Besuch, der wie sein Vater Chemiker geworden ist. Er ist anderer Meinung als seine Mutter, Bartek spricht von seiner verlorenen Kindheit im grauen Kommunismus. Danuta kann das nicht hören, denn schließlich hatte er als erster in der Klasse einen Computer.
Aber gleich, wie sie die Vergangenheit bewerten, in einem sind sich alle Brzezinskis einig: Sie begrüßen es, dass Polen in der Europäischen Union ist. Bartek freut sich über die beruflichen Möglichkeiten, die er hat. Und Jerzy hofft, dass gerade die EU etwas von dem bewahrt, was er am sozialistischen Polen schätzte.
"Nur gemeinsam hat Europa die Chance, sich dem Wirtschaftsmodell der USA entgegen zu stellen. Denn dort zählen ja allein die Unternehmensgewinne. Ich war immer fasziniert vom System in den skandinavischen Staaten, das den Armen und Schwachen hilft und überhaupt den Menschen in den Vordergrund stellt. Ich hoffe sehr, dass es sich in der EU durchsetzt."
Sylwia Chutnik, 1979 in Warschau geboren, studierte Kulturwissenschaften mit Schwerpunkt Gender Studies. Privat bezeichnet sich die noch nicht mal 30-Jährige als "radikale Hausfrau". In Chutniks 2008 veröffentlichtem Debütroman Taschenatlas für Frauen werden die Brüche in der polnischen Gesellschaft sichtbar, zwischen den Schichten und den Generationen. Die Handlung spielt im Warschauer Stadtteil Ochota, in dem vor allem Rentner und Angestellte wohnen. Auch die elfjährige Marysia Kosak lebt mit ihren Eltern und ihrer Großmutter in Ochota. Marysia ist eine Einzelgängerin. Von ihren Eltern fühlt sie sich unverstanden, mit ihrer Umwelt kann sie nichts anfangen, nur die Gruppe junger Punker im Viertel ist ihr sympathisch. Am Ende des Buches wird Marysia den Markt von Ochota in Brand setzen.
"Marysia sah eines dieser Punk-Mädchen oft an der Ecke Grojecka-Straße (Grujézka) und Straße der Schlacht von Warschau. Sie war vielleicht 20 Jahre alt und sah aus wie ein bunter Vogel. Sie hatte rote Dread-Locks und eine große Anzahl von Ringen im Gesicht. Die Kleidung bestand aus einer Kombination von Röcken, Blusen, Hosen und alten Turnschuhen. Alles so schlampig ausgesucht und so… Marysia musste sie immer anstarren, wenn sie an dem Mädchen vorbei ging. Auch die Leute guckten, wenn sie Zeit hatten. Aber normalerweise gingen sie schnell an ihr vorbei und drehten nur manchmal ungläubig den Kopf nach ihr um. Eben von solchen Gaffern erfuhr Marysia, dass das Mädchen ein Punk ist. Marysia fragte gleich ihre Mutter, was das ist. Mein Kind, mein Mädchen, du bist doch so hübsch, weißt du, was das für Leute sind? Heilige Mutter Gottes, das sind doch, ich weiß gar nicht, ob ich darüber reden soll, vielleicht hast du gehört, das sind so Leute, die schnüffeln Klebstoff und rauchen Gras. Solche Leute schlafen auf dem Bahnhof und sind vollgepinkelt. Drogenabhängige, was soll man da noch sagen, ja leider."
Mitte der achtziger Jahre gab es in Polen einen regelrechten Kinderboom. Ende 1981 war die Solidarnosc-Bewegung mit der Verhängung des Kriegsrechts zunächst mundtot gemacht worden. Politischer Widerstand schien zwecklos. Die Bevölkerung flüchtete ins Private, Kinder und Kirche rückten in den Mittelpunkt. Arbeiterführer Lech Walesa, Vater von acht Kindern, lobte seine Ehefrau Danuta, öffentlich als echte "polnische Mutter". Heute hat Polen neben Deutschland die niedrigste Geburtenrate in Europa. Konservative und kirchennahe Politiker schlagen deshalb sogar vor, kostenlos Potenzmittel zu verschreiben und die Ausgabe von Kondomen zu beschränken. So denkt in Polen aber nur eine Minderheit. Innerhalb einer Generation hat das Land einen rasanten Wandel durchgemacht.
Demokratie und Marktwirtschaft haben Polen den Anschluss an Europa gebracht. Das bedeutet mehr Freiheiten, aber auch mehr Eigenverantwortung. Viele, vor allem junge Leute sehen darin eine Chance. Bildung und Karriere haben für sie Priorität - und viele von ihnen suchen ihr Glück im Ausland. Gut eine Million meist hoch qualifizierte Polen haben ihr Land seit dem EU-Beitritt 2004 verlassen, Richtung Dublin oder London.
Das hinterlässt Lücken im polnischen Rentensystem und auf dem Arbeitsmarkt: In Polen fehlen immer mehr Fachkräfte. Schließlich fragen besorgte Soziologen, ob es verkraftbar ist, wenn ein Land seine talentiertesten jungen Leute so zahlreich ziehen lässt.
Einige kommen allerdings auch zurück: Polnische Arbeitgeber berichten, dass sie verstärkt Bewerbungen von zurückgekehrten Polen erhalten. Auch Marta hat sich entschieden, zurückzukommen, allerdings nicht des Geldes wegen.
Heimkehr aus Italien: Die Kellnerin Marta
Das "Tapa y Toro" ist ein edles spanisches Lokal in Warschau. Es liegt dort, wo die Gegensätze der Stadt am schärfsten aufeinander treffen: nur ein paar Schritte entfernt vom schmuddeligen Warschauer Bahnhof aus den 60er Jahren, aber schon im Eingangsbereich zu einem modernen Einkaufszentrum. "Goldene Terrassen" heißt dieser wellenförmig angelegte Glasbau.
Hier arbeitet Marta Gutkowska. Die Kellnerin gibt gerade einen besonderen Kundenwunsch an die Bar weiter: Bier mit einem kleinen Schuss Apfelsaft. Gekonnt balanciert sie die Getränke nach draußen in den lauen Herbstabend, wo die Tische des "Tapa y Toro" neben denen eines Italieners und eines Sushi-Restaurants stehen. Ringsherum führen Stufen wie bei einem Amphitheater hinauf zum Bahnhofsvorplatz.
Marta hat die Getränke serviert und lässt ihren Blick über die Tische schweifen. Sie weiß genau, wer schon lange hier sitzt und vielleicht noch etwas bestellen will.
"Ich habe ein fotografisches Gedächtnis und merke mir die Gesichter mit den Bestellungen. Nur, wenn sehr viel los ist, gelingt mir das manchmal nicht. Aber was ich an welchen Tisch bringen muss, das weiß ich immer. Nach so langer Zeit als Kellnerin!"
Marta Gutkowska sammelte ihre Erfahrung nicht in Warschau, sondern an der italienischen Adria-Küste. Fünf Jahre lang wohnte sie in Italien und arbeitete im Restaurant ihrer großen Schwester. Parallel dazu jobbte sie dort in der Verwaltung einer Reinigungsfirma.
Vor einem Jahr kehrte die 24-Jährige in ihr Heimatland Polen zurück - ein Schritt, den noch nicht viele Emigranten gemacht haben.
"Meine Mutter hat immer wieder auf mich eingeredet. Aber das war nicht der ausschlaggebende Grund. Ich wollte einfach einen Beruf lernen. Wahrscheinlich hätte ich in Italien bis an mein Lebensende in dieser Reinigungsfirma arbeiten können. Schließlich war ich dort ganz legal beschäftigt, mit allen Versicherungen und bezahltem Urlaub. Aber dann dachte ich mir: Das kann doch noch nicht alles gewesen sein."
Marta entschied sich für die Rückkehr in die Heimat. Sie schrieb sich an einer staatlichen Schule für Kosmetikerinnen ein - und gab Polen drei Monate Probezeit. Wenn sie es danach nicht mehr ausgehalten hätte, so ihr Vorsatz, wäre sie zurück an die Adria gezogen.
"Ich war aber angenehm überrascht. In meiner alten Heimat habe ich viel mehr wohlwollende Menschen gefunden als erwartet. Klar, die Gesellschaft ist immer mehr gespalten. Manche bekommen alles, was sie wollen, von ihren Eltern. Ich dagegen muss mir das Studium selbst finanzieren. Aber immerhin gibt mir das Land diese Möglichkeit - und so sieht eben das richtige Leben aus."
Im Sommer hat Marta zwei Monate am Stück gearbeitet, seit Beginn des Schuljahres jobbt sie jetzt nur noch am Wochenende. Wie viel sie verdient? Sie schiebt ihr mittellanges blondes Haar hinter das Ohr und verrät immerhin so viel: Das Trinkgeld falle bei ihr höher aus als das Gehalt.
Marta und ein Kellner unterhalten sich, während sie auf ein Zeichen von den Gästen warten. Sie erklärt ihrem jüngeren Kollegen den Geschmack von Austern, die heute auf der Tageskarte stehen - neben Serrano-Schinken - handgeschnitten, wie es heißt - für umgerechnet zehn Euro. Für Marta ist das viel Geld.
"An diesem Restaurant sehe ich, wie Polen sich verändert hat. Junge Leute kommen hierher, die schon zum Lunch umgerechnet 20 Euro oder mehr ausgeben. Das ist schon happig. Ich weiß nicht, wie solche Menschen ticken, ich kenne ihre Welt nicht. Wenn ich essen gehe, dann höchstens zum billigen Chinesen. Früher sind Polen überhaupt nur dann ins Restaurant gegangen, wenn sie etwas zu feiern hatten."
Marta und ihr Kollege wechseln das Thema. Der Star einer Fernsehserie hat sich an einen der Tische gesetzt - mit einer Frau, die wie ein Model aussieht. Auch die anderen Gäste zeigen sich modebewusst, manche junge Männer tragen sogar Anzug und Krawatte. Marta freut sich darüber.
"Die Frauen und auch die Männer bei uns achten inzwischen sehr auf ihr Äußeres. Deshalb will ich ja auch Kosmetikerin werden. Manchmal bin ich direkt schockiert, wie hübsch die jungen Mädchen heute aussehen. Alle sind dezent geschminkt, mit eleganten Frisuren und gepflegten Fingernägeln - wie Püppchen. Ich glaube, ich habe einen Beruf mit Zukunft gewählt."
Marta denkt in kleinen Abschnitten. Erstmal will sie in einem Jahr ihre Ausbildung abschließen. Danach möchte sie einfach "arbeiten und sich weiterentwickeln", erklärt sie, vielleicht auch irgendwann eine Familie gründen - aber das neue Polen ist für sie nicht nur eine Chance, es flößt ihr auch Angst ein.
"Es ist heute viel schwieriger, Kinder zu erziehen. Sie haben einfach viel weniger Achtung vor den Älteren. Wenn ich Geschichten aus meinem alten Lyzeum höre, dann bin ich entsetzt, wie sie sich die Schüler untereinander und gegenüber den Lehrern verhalten. Sie lachen den Lehrern direkt Gesicht und sagen: Du kannst mir doch eh nichts anhaben."
Nur eines lässt sich sagen über die Zukunft von Marta: Nach Italien wird sie wohl kaum mehr zurückkehren. Schließlich müsste sie dort noch einmal von vorne anfangen.
Regierungschef Donald Tusk will in Polen die Privatisierung von Staatsbetrieben vorantreiben, damit den öffentlichen Haushalt sanieren, und die sozialen Systeme modernisieren - was man durchaus als Euphemismus für den Abbau von Sozialleistungen verstehen kann. Die Körperschaftssteuer für Unternehmen soll hingegen gesenkt werden, und wenn es ganz gut läuft, will Polen 2011 den Euro einführen.
Aber bis dahin ist es noch ein langer Weg, und erst einmal stehen andere Projekte im Vordergrund, vor allem der Umbau des Gesundheits- und Rentensystems. Anfang des Jahres hat Polens Gesundheitsministerin die Privatisierung von Krankenhäusern vorgeschlagen. Außerdem will sie statt der bisherigen staatlichen Versorgung ein wettbewerbsorientiertes Gesundheitswesen aufbauen, mit selbständigen und privaten Krankenversicherungen.
Zweite Baustelle ist das Rentensystem, ein Viertel der Bevölkerung lebt im Ruhestand. Polnische Frauen gehen im Durchschnitt mit 55, Männer mit 60 Jahren in Rente - die meisten von ihnen erhalten dann pro Monat nicht mehr als drei bis 400 Euro vom Staat.
Von den satten fünf Prozent Wirtschaftswachstum profitieren vor allem die Unternehmen und Arbeitnehmer in Westpolen und in Warschau. Im ärmeren, landwirtschaftlich geprägten Osten des Landes ist vom Aufschwung indes nicht viel zu spüren.
"Polska B" wird dieser Landesteil abfällig bezeichnet, und vom Rest des Landes belächelt: Die Warschauer mokieren sich über die konservativen, tief katholischen "Wollmützen-Omas". In Ost-Polen hat Radio Maryja die höchsten Einschaltquoten. 61 Prozent der Hörer sind über 55 Jahre alt, die Hälfte wohnt auf dem Dorf. Radio Maryja ist wegen seiner nationalistischen, mitunter auch antisemitischen Beiträge umstritten. Jozef Kamola aus Lublin hört gerne Radio Maryia. Früher war alles besser, sagt er.
Hier arbeitet Marta Gutkowska. Die Kellnerin gibt gerade einen besonderen Kundenwunsch an die Bar weiter: Bier mit einem kleinen Schuss Apfelsaft. Gekonnt balanciert sie die Getränke nach draußen in den lauen Herbstabend, wo die Tische des "Tapa y Toro" neben denen eines Italieners und eines Sushi-Restaurants stehen. Ringsherum führen Stufen wie bei einem Amphitheater hinauf zum Bahnhofsvorplatz.
Marta hat die Getränke serviert und lässt ihren Blick über die Tische schweifen. Sie weiß genau, wer schon lange hier sitzt und vielleicht noch etwas bestellen will.
"Ich habe ein fotografisches Gedächtnis und merke mir die Gesichter mit den Bestellungen. Nur, wenn sehr viel los ist, gelingt mir das manchmal nicht. Aber was ich an welchen Tisch bringen muss, das weiß ich immer. Nach so langer Zeit als Kellnerin!"
Marta Gutkowska sammelte ihre Erfahrung nicht in Warschau, sondern an der italienischen Adria-Küste. Fünf Jahre lang wohnte sie in Italien und arbeitete im Restaurant ihrer großen Schwester. Parallel dazu jobbte sie dort in der Verwaltung einer Reinigungsfirma.
Vor einem Jahr kehrte die 24-Jährige in ihr Heimatland Polen zurück - ein Schritt, den noch nicht viele Emigranten gemacht haben.
"Meine Mutter hat immer wieder auf mich eingeredet. Aber das war nicht der ausschlaggebende Grund. Ich wollte einfach einen Beruf lernen. Wahrscheinlich hätte ich in Italien bis an mein Lebensende in dieser Reinigungsfirma arbeiten können. Schließlich war ich dort ganz legal beschäftigt, mit allen Versicherungen und bezahltem Urlaub. Aber dann dachte ich mir: Das kann doch noch nicht alles gewesen sein."
Marta entschied sich für die Rückkehr in die Heimat. Sie schrieb sich an einer staatlichen Schule für Kosmetikerinnen ein - und gab Polen drei Monate Probezeit. Wenn sie es danach nicht mehr ausgehalten hätte, so ihr Vorsatz, wäre sie zurück an die Adria gezogen.
"Ich war aber angenehm überrascht. In meiner alten Heimat habe ich viel mehr wohlwollende Menschen gefunden als erwartet. Klar, die Gesellschaft ist immer mehr gespalten. Manche bekommen alles, was sie wollen, von ihren Eltern. Ich dagegen muss mir das Studium selbst finanzieren. Aber immerhin gibt mir das Land diese Möglichkeit - und so sieht eben das richtige Leben aus."
Im Sommer hat Marta zwei Monate am Stück gearbeitet, seit Beginn des Schuljahres jobbt sie jetzt nur noch am Wochenende. Wie viel sie verdient? Sie schiebt ihr mittellanges blondes Haar hinter das Ohr und verrät immerhin so viel: Das Trinkgeld falle bei ihr höher aus als das Gehalt.
Marta und ein Kellner unterhalten sich, während sie auf ein Zeichen von den Gästen warten. Sie erklärt ihrem jüngeren Kollegen den Geschmack von Austern, die heute auf der Tageskarte stehen - neben Serrano-Schinken - handgeschnitten, wie es heißt - für umgerechnet zehn Euro. Für Marta ist das viel Geld.
"An diesem Restaurant sehe ich, wie Polen sich verändert hat. Junge Leute kommen hierher, die schon zum Lunch umgerechnet 20 Euro oder mehr ausgeben. Das ist schon happig. Ich weiß nicht, wie solche Menschen ticken, ich kenne ihre Welt nicht. Wenn ich essen gehe, dann höchstens zum billigen Chinesen. Früher sind Polen überhaupt nur dann ins Restaurant gegangen, wenn sie etwas zu feiern hatten."
Marta und ihr Kollege wechseln das Thema. Der Star einer Fernsehserie hat sich an einen der Tische gesetzt - mit einer Frau, die wie ein Model aussieht. Auch die anderen Gäste zeigen sich modebewusst, manche junge Männer tragen sogar Anzug und Krawatte. Marta freut sich darüber.
"Die Frauen und auch die Männer bei uns achten inzwischen sehr auf ihr Äußeres. Deshalb will ich ja auch Kosmetikerin werden. Manchmal bin ich direkt schockiert, wie hübsch die jungen Mädchen heute aussehen. Alle sind dezent geschminkt, mit eleganten Frisuren und gepflegten Fingernägeln - wie Püppchen. Ich glaube, ich habe einen Beruf mit Zukunft gewählt."
Marta denkt in kleinen Abschnitten. Erstmal will sie in einem Jahr ihre Ausbildung abschließen. Danach möchte sie einfach "arbeiten und sich weiterentwickeln", erklärt sie, vielleicht auch irgendwann eine Familie gründen - aber das neue Polen ist für sie nicht nur eine Chance, es flößt ihr auch Angst ein.
"Es ist heute viel schwieriger, Kinder zu erziehen. Sie haben einfach viel weniger Achtung vor den Älteren. Wenn ich Geschichten aus meinem alten Lyzeum höre, dann bin ich entsetzt, wie sie sich die Schüler untereinander und gegenüber den Lehrern verhalten. Sie lachen den Lehrern direkt Gesicht und sagen: Du kannst mir doch eh nichts anhaben."
Nur eines lässt sich sagen über die Zukunft von Marta: Nach Italien wird sie wohl kaum mehr zurückkehren. Schließlich müsste sie dort noch einmal von vorne anfangen.
Regierungschef Donald Tusk will in Polen die Privatisierung von Staatsbetrieben vorantreiben, damit den öffentlichen Haushalt sanieren, und die sozialen Systeme modernisieren - was man durchaus als Euphemismus für den Abbau von Sozialleistungen verstehen kann. Die Körperschaftssteuer für Unternehmen soll hingegen gesenkt werden, und wenn es ganz gut läuft, will Polen 2011 den Euro einführen.
Aber bis dahin ist es noch ein langer Weg, und erst einmal stehen andere Projekte im Vordergrund, vor allem der Umbau des Gesundheits- und Rentensystems. Anfang des Jahres hat Polens Gesundheitsministerin die Privatisierung von Krankenhäusern vorgeschlagen. Außerdem will sie statt der bisherigen staatlichen Versorgung ein wettbewerbsorientiertes Gesundheitswesen aufbauen, mit selbständigen und privaten Krankenversicherungen.
Zweite Baustelle ist das Rentensystem, ein Viertel der Bevölkerung lebt im Ruhestand. Polnische Frauen gehen im Durchschnitt mit 55, Männer mit 60 Jahren in Rente - die meisten von ihnen erhalten dann pro Monat nicht mehr als drei bis 400 Euro vom Staat.
Von den satten fünf Prozent Wirtschaftswachstum profitieren vor allem die Unternehmen und Arbeitnehmer in Westpolen und in Warschau. Im ärmeren, landwirtschaftlich geprägten Osten des Landes ist vom Aufschwung indes nicht viel zu spüren.
"Polska B" wird dieser Landesteil abfällig bezeichnet, und vom Rest des Landes belächelt: Die Warschauer mokieren sich über die konservativen, tief katholischen "Wollmützen-Omas". In Ost-Polen hat Radio Maryja die höchsten Einschaltquoten. 61 Prozent der Hörer sind über 55 Jahre alt, die Hälfte wohnt auf dem Dorf. Radio Maryja ist wegen seiner nationalistischen, mitunter auch antisemitischen Beiträge umstritten. Jozef Kamola aus Lublin hört gerne Radio Maryia. Früher war alles besser, sagt er.
Früher war alles besser: Jozef Kamola, der Frühpensionär
Es gießt wie aus Kübeln, aber Jozef Kamola lässt sich nicht beirren. Der 66-Jährige stapft unverdrossen durch die engen Straßen der Altstadt von Lublin, er ist auf dem Weg zum Arzt. Nach links und rechts grüßt er Bekannte, meist ältere Menschen, und ruft ihnen "Gott segne dich" zu. Einer Frau, die an einer Straßenecke kauert, kauft er ein Stück selbst gemachten Käse ab.
Jozef Kamola ist schon lange hier zu Hause, in Lublin, der östlichsten Großstadt in Polen. Hier war er bei der Staatsbank beschäftigt, zog drei Kinder groß - und demonstrierte in den 80er Jahren gegen das kommunistische Regime. Jozef Kamola gehörte der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc an - und hätte deshalb fast seinen Arbeitsplatz verloren. Viele Orte erinnern in an diese Zeit.
"Diese Straße hier heißt "Krakauer Vorstadt", aber nach der Verhängung des Kriegsrechts 1981 haben wir sie "Zomo-Straße" genannt. Denn immer, wenn wir dort vorne aus der Kirche kamen, haben uns Polizisten der Bürgermiliz "Zomo" begleitet. Sie hatten Schlagstöcke und Tränengas dabei. So haben sie verhindert, dass wir am Verfassungs-Denkmal Kerzen anzünden. Denn damit wollten wir ja für Bürgerrechte demonstrieren."
Heute kann in der Straße jeder tun und lassen, was er will. Eine Dame lädt mit einem Megafon zu einem Casting-Termin ein, Moderatoren für einen Musik-Sender im Fernsehen werden gesucht. Jozef Kamola versteht gar nicht, was die Frau will, und deutet Richtung Marktplatz.
"Die Atmosphäre hier ist nicht viel schöner geworden. Jetzt steht eine Bank neben der anderen und dazu noch eine ganze Reihe von Kneipen. Dabei sind weder die Banken noch die Brauereien in polnischem Besitz. Unsere Politiker haben alles ans Ausland verkauft. Gemeinsam mit den fremden Konzernen machen sie uns betrunken. Dabei wird ein Mann, der nur ein Bier am Tag trinkt, schon abhängig - und letztlich zum Alkoholiker."
Jozef Kamola hält mit seinen radikalen Ansichten nicht hinterm Berg. Über dem Jacket trägt er heute einen übergestülpten Kartoffelsack am Oberkörper, vorne mit einem aufgenähten Marienbild. Hinten steht in großen Lettern "Für die Klugheit und die moralische Erneuerung der Nation". Das Kleidungsstück ist schon über 20 Jahre alt - es stammt aus Solidarnosc-Zeiten. Aber während der Appell damals gegen das kommunistische Regime gerichtet war, will Kamola heute Kapitalismuskritik üben.
Nation und Glaube gilt es zu schützen - daraus speist sich sein Weltbild. Nicht umsonst prangt auch das Logo des umstrittenen Senders "Radio Maryja" am Kartoffelsack, den Kamola übergestülpt hat. Der Rentner ist im frisch renovierten Flur der Poliklinik angekommen. Beim Warten erklärt er, was ihn stört am heutigen Polen.
"Ich komme schon über 40 Jahre in diese Poliklinik. Die Angestellten sind sympathisch, gewissenhaft und fleißig. Aber ich fürchte, dass das nicht so bleibt. Die Regierung will ja jetzt die ganze medizinische Versorgung privatisieren. Und wer weiß, was wird, wenn hier einmal eine Firma das Sagen hat und ihren Profit machen möchte."
Einst kämpfte Jozef Kamola gegen den Kommunismus - heute macht ihm die Marktwirtschaft Angst. Kein Wunder: Ein Sohn von ihm ist arbeitslos und die beiden anderen Kinder jobben trotz Hochschulabschluss im Ausland, weil sie in Polen nicht unterkommen. Die Rente reicht dem 66-Jährigen kaum zum Leben - um Strom zu sparen, geht er abends früher ins Bett.
Jozef Kamola wirbt auch im Krankenhausflur für seine Weltanschauung. Er versucht, andere Wartende von Radio Maryja zu überzeugen. Der Sender gefällt ihm nicht nur, weil er die Globalisierung anprangert. Jozef Kamola unterstützt auch dessen Appelle für eine neue Moral. Dahinter steckt Enttäuschung: Die postkommunistische Gesellschaft, sagt er, drifte immer mehr auseinander. Einen der Gründe dafür sieht Kamola - genauso wie die Redaktion von Radio Maryja - im polnischen EU-Beitritt.
"Unsere Bauern haben einmal 16 Milliarden Liter Milch im Jahr produziert. Die EU erlaubt ihnen nur noch die Hälfte. Aber noch viel schlimmer als die wirtschaftlichen sind die moralischen Folgen. Das Böse dringt zu uns vor, und es kommt von Westen. Die Grenzen sind ja jetzt alle offen. Der Mammon wird so zum neuen Götzen. Super- und Hypermärkte öffnen auch am Sonntag, die braven Katholiken stolpern aus der Messe direkt in den Konsum."
Jozef Kamola unterstützt die EU-kritischen Politiker seines Landes - vor allem den ehemaligen Premier Jaroslaw Kaczynski. Schließlich hatte der auch eine "moralische Revolution" versprochen und die Privatisierung von Staatsbetrieben gestoppt. Außerdem wollte Kaczynski denjenigen die Rente kürzen, die im Kommunismus treu für den Geheimdienst gearbeitet hatten.
"Es tut mir im Herzen weh, dass er abtreten musste. Er wollte mit den Schuldigen aus sozialistischer Zeit abrechnen, aber sie haben sich als zu stark erwiesen."
Bevor er zurück in seine Plattenbau-Siedlung fährt, will er im Lubliner Dom in den Gottesdienst gehen. Vor dem Portal trifft er einen alten Bekannten - einen Stadtstreicher, der von seiner Mundharmonika lebt. Jozef Kamola hat den Stadtstreicher im Verdacht, dass er ihm vor kurzen vor der Kirche den Fahrradsattel gestohlen hat. Sein Bekannter, der sich als Andrzej vorstellt, will davon nichts wissen. Er sei ehrlich, beteuert er, und sammele mit seiner Mundharmonika für seine krebskranke Tante.
"Marysia ging in Richtung Westbahnhof. Da kampierten Leute, die auf den Morgenbus nach Russland warteten. Ihre gestreiften Taschen waren voll mit Ware, die sie früher mit Gewinn im alten Stadion verkauft hatten. Aber jetzt, angesichts des Niedergangs der Flohmärkte, hätten sie in kleinere Städte fahren sollen. Zum Beispiel gleich in Przemysl (Pschä-mschl) Halt machen, ein paar Sachen auf dem Flohmarkt dort verhökern und sich für das verdiente Geld etwas zu essen kaufen. Und wieder heim, über die Grenze der großen Union.
Marysia suchte unter den Wartenden Familien mit Kindern. Normalerweise gab es davon nicht viele, denn das Leben der Händler war anstrengend und gefährlich. Aber manchmal konnte man zwischen den Kleidern den Kopf eines Kindes entdecken. Es schlief, langweilte sich oder war vor Erschöpfung wie betäubt. Unsere Rebellin steckte ihm eine Praline oder einen Schokoriegel mit Nüssen in die Hand. Sie sollen sie haben. Was können sie für die Klassengesellschaft. Dafür, dass sie arm sind und dreckig, dass sie ihre Spielsachen nicht dabei haben. Sie sollen essen. Marysia - die Robine Hood."
2010 wählt Polen einen neuen Präsidenten. Gerüchte machen in Warschau die Runde, dass Premierminister Donald Tusk mit einer Kandidatur liebäugelt - und deswegen sogenannte wichtige Reformprojekte liegen lässt, denn Reformen bedeuten vor allem Abbau und Einsparungen - Begriffe, die bei vielen Wählern nicht gut ankommen.
Aber wirtschaftsliberale Politiker halten an ihren Forderungen fest - etwa das teure und weit verbreitete System der Frühpensionierungen zu verändern. Sie schlagen vor, endlich eine Einheitssteuer von 15 Prozent einzuführen, und sie wollen den Energiesektor privatisieren, der bislang zu 60 Prozent in Staatsbesitz ist. All diese Reformen würden vor allem Geringverdiener und Alte treffen, genau jene Wählerschicht, die sich mit der neuen Zeitrechnung im Kapitalismus schwer tut. Andere sind dagegen begeistert von dem Weg, den ihr Land eingeschlagen hat. Vor allem das junge, gut ausgebildete Hauptstadtpublikum mit seinen hoch bezahlten Jobs fordert mehr Reformen und weniger Sozialstaat.
Nirgendwo ist Polens neuer Reichtum so gut zu besichtigen wie in Warschau. Früher war der stalinistische Kulturpalast mitten im Zentrum das einzige Hochhaus weit und breit, heute wird er umzingelt von mehreren gesichtslosen Wolkenkratzern. Steigen die Löhne weiter so wie bisher, wird die Region rund um Warschau ab dem Jahr 2015 keine Regionalförderung mehr von der EU bekommen. Für Miroslaw Pawelko wäre das eine gute Nachricht. Das heutige Polen findet Pawelko "zu sozial":
Jozef Kamola ist schon lange hier zu Hause, in Lublin, der östlichsten Großstadt in Polen. Hier war er bei der Staatsbank beschäftigt, zog drei Kinder groß - und demonstrierte in den 80er Jahren gegen das kommunistische Regime. Jozef Kamola gehörte der unabhängigen Gewerkschaft Solidarnosc an - und hätte deshalb fast seinen Arbeitsplatz verloren. Viele Orte erinnern in an diese Zeit.
"Diese Straße hier heißt "Krakauer Vorstadt", aber nach der Verhängung des Kriegsrechts 1981 haben wir sie "Zomo-Straße" genannt. Denn immer, wenn wir dort vorne aus der Kirche kamen, haben uns Polizisten der Bürgermiliz "Zomo" begleitet. Sie hatten Schlagstöcke und Tränengas dabei. So haben sie verhindert, dass wir am Verfassungs-Denkmal Kerzen anzünden. Denn damit wollten wir ja für Bürgerrechte demonstrieren."
Heute kann in der Straße jeder tun und lassen, was er will. Eine Dame lädt mit einem Megafon zu einem Casting-Termin ein, Moderatoren für einen Musik-Sender im Fernsehen werden gesucht. Jozef Kamola versteht gar nicht, was die Frau will, und deutet Richtung Marktplatz.
"Die Atmosphäre hier ist nicht viel schöner geworden. Jetzt steht eine Bank neben der anderen und dazu noch eine ganze Reihe von Kneipen. Dabei sind weder die Banken noch die Brauereien in polnischem Besitz. Unsere Politiker haben alles ans Ausland verkauft. Gemeinsam mit den fremden Konzernen machen sie uns betrunken. Dabei wird ein Mann, der nur ein Bier am Tag trinkt, schon abhängig - und letztlich zum Alkoholiker."
Jozef Kamola hält mit seinen radikalen Ansichten nicht hinterm Berg. Über dem Jacket trägt er heute einen übergestülpten Kartoffelsack am Oberkörper, vorne mit einem aufgenähten Marienbild. Hinten steht in großen Lettern "Für die Klugheit und die moralische Erneuerung der Nation". Das Kleidungsstück ist schon über 20 Jahre alt - es stammt aus Solidarnosc-Zeiten. Aber während der Appell damals gegen das kommunistische Regime gerichtet war, will Kamola heute Kapitalismuskritik üben.
Nation und Glaube gilt es zu schützen - daraus speist sich sein Weltbild. Nicht umsonst prangt auch das Logo des umstrittenen Senders "Radio Maryja" am Kartoffelsack, den Kamola übergestülpt hat. Der Rentner ist im frisch renovierten Flur der Poliklinik angekommen. Beim Warten erklärt er, was ihn stört am heutigen Polen.
"Ich komme schon über 40 Jahre in diese Poliklinik. Die Angestellten sind sympathisch, gewissenhaft und fleißig. Aber ich fürchte, dass das nicht so bleibt. Die Regierung will ja jetzt die ganze medizinische Versorgung privatisieren. Und wer weiß, was wird, wenn hier einmal eine Firma das Sagen hat und ihren Profit machen möchte."
Einst kämpfte Jozef Kamola gegen den Kommunismus - heute macht ihm die Marktwirtschaft Angst. Kein Wunder: Ein Sohn von ihm ist arbeitslos und die beiden anderen Kinder jobben trotz Hochschulabschluss im Ausland, weil sie in Polen nicht unterkommen. Die Rente reicht dem 66-Jährigen kaum zum Leben - um Strom zu sparen, geht er abends früher ins Bett.
Jozef Kamola wirbt auch im Krankenhausflur für seine Weltanschauung. Er versucht, andere Wartende von Radio Maryja zu überzeugen. Der Sender gefällt ihm nicht nur, weil er die Globalisierung anprangert. Jozef Kamola unterstützt auch dessen Appelle für eine neue Moral. Dahinter steckt Enttäuschung: Die postkommunistische Gesellschaft, sagt er, drifte immer mehr auseinander. Einen der Gründe dafür sieht Kamola - genauso wie die Redaktion von Radio Maryja - im polnischen EU-Beitritt.
"Unsere Bauern haben einmal 16 Milliarden Liter Milch im Jahr produziert. Die EU erlaubt ihnen nur noch die Hälfte. Aber noch viel schlimmer als die wirtschaftlichen sind die moralischen Folgen. Das Böse dringt zu uns vor, und es kommt von Westen. Die Grenzen sind ja jetzt alle offen. Der Mammon wird so zum neuen Götzen. Super- und Hypermärkte öffnen auch am Sonntag, die braven Katholiken stolpern aus der Messe direkt in den Konsum."
Jozef Kamola unterstützt die EU-kritischen Politiker seines Landes - vor allem den ehemaligen Premier Jaroslaw Kaczynski. Schließlich hatte der auch eine "moralische Revolution" versprochen und die Privatisierung von Staatsbetrieben gestoppt. Außerdem wollte Kaczynski denjenigen die Rente kürzen, die im Kommunismus treu für den Geheimdienst gearbeitet hatten.
"Es tut mir im Herzen weh, dass er abtreten musste. Er wollte mit den Schuldigen aus sozialistischer Zeit abrechnen, aber sie haben sich als zu stark erwiesen."
Bevor er zurück in seine Plattenbau-Siedlung fährt, will er im Lubliner Dom in den Gottesdienst gehen. Vor dem Portal trifft er einen alten Bekannten - einen Stadtstreicher, der von seiner Mundharmonika lebt. Jozef Kamola hat den Stadtstreicher im Verdacht, dass er ihm vor kurzen vor der Kirche den Fahrradsattel gestohlen hat. Sein Bekannter, der sich als Andrzej vorstellt, will davon nichts wissen. Er sei ehrlich, beteuert er, und sammele mit seiner Mundharmonika für seine krebskranke Tante.
"Marysia ging in Richtung Westbahnhof. Da kampierten Leute, die auf den Morgenbus nach Russland warteten. Ihre gestreiften Taschen waren voll mit Ware, die sie früher mit Gewinn im alten Stadion verkauft hatten. Aber jetzt, angesichts des Niedergangs der Flohmärkte, hätten sie in kleinere Städte fahren sollen. Zum Beispiel gleich in Przemysl (Pschä-mschl) Halt machen, ein paar Sachen auf dem Flohmarkt dort verhökern und sich für das verdiente Geld etwas zu essen kaufen. Und wieder heim, über die Grenze der großen Union.
Marysia suchte unter den Wartenden Familien mit Kindern. Normalerweise gab es davon nicht viele, denn das Leben der Händler war anstrengend und gefährlich. Aber manchmal konnte man zwischen den Kleidern den Kopf eines Kindes entdecken. Es schlief, langweilte sich oder war vor Erschöpfung wie betäubt. Unsere Rebellin steckte ihm eine Praline oder einen Schokoriegel mit Nüssen in die Hand. Sie sollen sie haben. Was können sie für die Klassengesellschaft. Dafür, dass sie arm sind und dreckig, dass sie ihre Spielsachen nicht dabei haben. Sie sollen essen. Marysia - die Robine Hood."
2010 wählt Polen einen neuen Präsidenten. Gerüchte machen in Warschau die Runde, dass Premierminister Donald Tusk mit einer Kandidatur liebäugelt - und deswegen sogenannte wichtige Reformprojekte liegen lässt, denn Reformen bedeuten vor allem Abbau und Einsparungen - Begriffe, die bei vielen Wählern nicht gut ankommen.
Aber wirtschaftsliberale Politiker halten an ihren Forderungen fest - etwa das teure und weit verbreitete System der Frühpensionierungen zu verändern. Sie schlagen vor, endlich eine Einheitssteuer von 15 Prozent einzuführen, und sie wollen den Energiesektor privatisieren, der bislang zu 60 Prozent in Staatsbesitz ist. All diese Reformen würden vor allem Geringverdiener und Alte treffen, genau jene Wählerschicht, die sich mit der neuen Zeitrechnung im Kapitalismus schwer tut. Andere sind dagegen begeistert von dem Weg, den ihr Land eingeschlagen hat. Vor allem das junge, gut ausgebildete Hauptstadtpublikum mit seinen hoch bezahlten Jobs fordert mehr Reformen und weniger Sozialstaat.
Nirgendwo ist Polens neuer Reichtum so gut zu besichtigen wie in Warschau. Früher war der stalinistische Kulturpalast mitten im Zentrum das einzige Hochhaus weit und breit, heute wird er umzingelt von mehreren gesichtslosen Wolkenkratzern. Steigen die Löhne weiter so wie bisher, wird die Region rund um Warschau ab dem Jahr 2015 keine Regionalförderung mehr von der EU bekommen. Für Miroslaw Pawelko wäre das eine gute Nachricht. Das heutige Polen findet Pawelko "zu sozial":
Polen ist zu sozial: Der junge Unternehmensberater
Der Aufzug gleitet fast geräuschlos in den fünften Stock eines futuristischen Glasbaus in der Warschauer Innenstadt. Es ist das sogenannte Metropolitan-Gebäude, projektiert von Norman Foster - dem Architekten der Glaskuppel auf dem Reichstag in Berlin. Auch bei dem Gebäude in Warschau dominieren runde Formen, innen wie außen. Ein langer Gang führt zum Büro von Miroslaw Pawelko, 28 Jahre alt, der hier in leitender Position bei einer Unternehmensberatung arbeitet.
Der Umzug seiner Firma hierher war für ihn eines der markanten Ereignisse 2004, im Jahr des polnischen EU-Beitritts.
"Die Architektur ist auf Weltniveau, und außerdem ist unser Büro jetzt mitten in der Stadt gelegen. Es ist schon angenehmer, morgens hier anzukommen, als in der alten Adresse am Stadtrand, wo wir vorher waren. Der einzige Nachteil ist, dass man kein Fenster aufmachen kann. Die Klimaanlage läuft ständig und produziert zu trockene Luft."
Zum Gespräch bittet Miroslaw Pawelko vom Büro in den schallgedämpften Konferenzraum - die Unterhaltungen seiner Team-Mitglieder seien nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Beim Gang an den Büros vorbei blickt man durch gläserne Wände und Fenster weit über die Dächer der Altstadt bis hin zur Weichsel.
Miroslaw Pawelko lehnt sich in seinem Stuhl zurück und lockert die Krawatte. Seine Arbeit gefalle ihm, sagt der Jungmanager. Sie führe ihn mit interessanten Menschen zusammen und gebe ihm die Möglichkeit, sich zu entwickeln. Darüber hinaus tue er etwas Gutes für sein Land
"Natürlich beeinflussen wir die Gesellschaft nur auf einer Mikro-Ebene. Aber immerhin: Wir helfen, dass Firmen effektiver und erfolgreicher arbeiten. Ich bin überzeugt, dass davon die Mitarbeiter lernen. Auch für ihr privates Engagement in der Wohnungs-Genossenschaft oder ihrem Bürgerverein. Und sie werden höhere Anforderungen an den Staat stellen. So wirkt unsere Arbeit doch nachhaltiger als man zunächst denkt."
Und was ist mit der Angst der Angestellten, wenn die Unternehmensberater kommen? Die sei häufig unbegründet, findet Pawelko. Schließlich gehe es um strategische Beratung, nicht nur Stellenabbau.
Für den Jungmanager ist es wichtig, die gesellschaftliche Bedeutung seiner Arbeit hervorzuheben. Schließlich engagiert er sich seit seiner Jugend für eine liberale Partei - die "Freiheitsunion". Vor wenigen Jahren kandidierte er auf ihrer Liste sogar für das Europa-Parlament, allerdings erfolglos.
Die Brücke von der Unternehmensberatung zur Politik schlägt Miroslaw Pawelko mit selbstbewusster Leichtigkeit. Denn auch in der Staatskunst gehe es um ein effektives Management. Und um die Senkung von Kosten.
"Polen ist in einem Stadium, wo es Wohlstand aufbaut. Da können wir es uns nicht leisten, zu viel für soziale Belange auszugeben. Wir brauchen Geld für Bildung und Infrastruktur. Für meine Begriffe ist Polen im Moment zu sozial. Wir geben zu viel Geld für Renten und Transferleistungen aus. Deshalb gibt es ja jetzt diese große Diskussion um die Frührenten."
Dass es nach dem Abbau von Sozialleistungen vielen schlechter geht, ist für Miroslaw Pawelko kein Argument. Eine neoliberale Wirtschaftspolitik, so sein Credo, führe früher oder später zum größten Wohlstand für alle.
Er selbst hat von diesem Kuchen schon heute ein ordentliches Stück abbekommen. Pawelko, der aus Gleiwitz stammt, hat sich im Warschauer Prestige-Viertel Mokotow eine Wohnung gekauft. Im Sommer machte er eine Rundreise durch Kalifornien. Auch sein Kollege, mit dem er mittags zum Business-Lunch geht, hat bei Schweinslendchen mit Wildreis etwas zu erzählen.
Er liebt den Aktiv-Urlaub und hat deshalb ein Trainingslager für modernen Tanz in der polnischen Provinz besucht. Jetzt weiß er, wie man sich elegant zu Hip-Hop-Musik bewegt.
Trotzdem geben sich die beiden gemütlich. Ihr gemeinsames Mittagessen gönnen sie sich regelmäßig, sagt Pawelko.
"Wir haben Kollegen, die belegte Brote mitbringen und am Computer essen. Sie glauben, sie müssten von früh bis spät ununterbrochen arbeiten, um ihr Bestes zu geben. Das Ergebnis ist aber, dass sie ausgelaugt wirken und nicht effektiv arbeiten. Wenn wir mit solchen Kollegen in einem Team sind, dann kommt es zu Konflikten - besonders, wenn es sich um Vorgesetzte handelt."
Auch sein Leben möchte der Unternehmensberater mit Bedacht angehen. Seine Eltern liegen ihm zwar in den Ohren, er solle endlich eine Familie gründen, aber das allein mache seine Generation nicht mehr glücklich, sagt er.
"Wir wollen ein reicheres Land werden - und das kostet große Anstrengung. Natürlich haben wir da nicht mehr so viel Zeit für Freunde und Nachbarn. Aber das ist nichts Schlechtes, das ist Ausdruck unserer Ambitionen. Wir wollen es zu etwas bringen. Das heißt ja nicht, dass wir gar keine Freunde mehr haben. Man muss die freie Zeit nur richtig verwalten und auch an Freundschaften arbeiten."
"Marysia nahm diesmal keine Kaubonbons mit. Sie verschüttete das Öl, das sie auf dem Dachboden gefunden hatte und zündete es an. Das wird ein Feuer geben. Bestimmt kommt gleich das Fernsehen, und dann gibt es eine Live-Übertragung vom brennenden Flohmarkt. Hier soll keiner mehr herumschleichen, keiner mehr kaufen, keiner mehr um irgendeinen Stofffetzen feilschen.
Schnell, zünden wir es an. Noch eine Bude, noch so ein ärmlicher Verkaufsstand. Das steht ja eh alles ganz wackelig da, in die Erde hinein gebohrt, ganz ehrlich. Schlechte Fußwege, löchrige Dächer. Wer braucht das noch. Brennen soll es, und die Leute sollen sich wundern, wer das Feuer gelegt hat und wozu.
Genau deshalb, damit sie wenigstens kurz inne halten, nachdenken, überlegen. Völlig grundlos, aus Trotz gegenüber dem ganzen Stadtviertel und den Angestellten. Den Schlüsseldienst-Männern.
Die Stadt in der Stadt soll brennen, das Labyrinth aus den schiefen Ständen dieser Schlitzaugen, Russen und Polen. Dieser Omas, die hier täglich herkommen, wer weiß wozu, die herumgraben, sich umziehen und für zwei Zloty Glück suchen.
Ich hab genug davon. Soll der ganze Markt abbrennen, vielleicht machen sie einen Park daraus oder stellen ein großes Denkmal für die Werbung auf. Alles für fünf Zloty. Ich gehe nach Hause. Sie kommen nicht drauf, dass ich das war - und selbst wenn, dann sage ich, es war ein Versehen."
Der Statistik nach gelten weit über 90 Prozent der Polen als Katholiken, weil sie getauft sind. Die Kirchen sind immer noch gut gefüllt, und in den Städten gibt es meist mehrere Messen täglich. Trotzdem nimmt die Frömmigkeit im Lande merklich ab; die Religion ist wie in so vielen westlichen Gesellschaften auf dem Rückzug. Daran ist der Klerus selbst nicht unschuldig: Liberale und erzkonservative Kreise liefern sich innerhalb der polnischen Kirche Flügelkämpfe - in Danzig darf sogar ein Pfarrer, der offener Antisemit ist, weiter predigen.
Mit dem Tod von Papst Johannes Paul II. haben Kirche und Gesellschaft in Polen ihre wichtigste Integrationsfigur verloren. Die Priesterseminare kämpfen mit Nachwuchsmangel. Auch der Beitritt zur Europäischen Union 2004 hat zum Wandel beigetragen: Mit wachsender Neugier entdecken die Polen jetzt andere Gesellschaftsentwürfe: Die vielen polnischen Auswanderer treffen im Ausland auf eine Umwelt, in der die Kirche eine untergeordnete Rolle spielt, oder aber der Welt mehr zugewandt und liberaler ist. Während der national-konservativen Regierung unter Jaroslaw Kaczynski wurde der Stimmungswandel zwar noch abgefedert, aber mit dem Regierungswechsel im letzten Jahr hat sich das Klima rapide geändert: Dem konservativen Klerus weht der Wind kalt ins Gesicht. Bei Themen wie Abtreibung oder Partnerschaft verfolgen junge Polen eigene Vorstellungen. Immer selten gehen sie in die Messe, und die Zahl der Menschen, die gleich ganz aus der Kirche austreten, wächst.
Den größten Zulauf erfahren noch jene Priester, die nahe an den Menschen dran sind, und sich sozial engagieren - zum Beispiel Pater Boguslaw Paleczny:
Der Umzug seiner Firma hierher war für ihn eines der markanten Ereignisse 2004, im Jahr des polnischen EU-Beitritts.
"Die Architektur ist auf Weltniveau, und außerdem ist unser Büro jetzt mitten in der Stadt gelegen. Es ist schon angenehmer, morgens hier anzukommen, als in der alten Adresse am Stadtrand, wo wir vorher waren. Der einzige Nachteil ist, dass man kein Fenster aufmachen kann. Die Klimaanlage läuft ständig und produziert zu trockene Luft."
Zum Gespräch bittet Miroslaw Pawelko vom Büro in den schallgedämpften Konferenzraum - die Unterhaltungen seiner Team-Mitglieder seien nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Beim Gang an den Büros vorbei blickt man durch gläserne Wände und Fenster weit über die Dächer der Altstadt bis hin zur Weichsel.
Miroslaw Pawelko lehnt sich in seinem Stuhl zurück und lockert die Krawatte. Seine Arbeit gefalle ihm, sagt der Jungmanager. Sie führe ihn mit interessanten Menschen zusammen und gebe ihm die Möglichkeit, sich zu entwickeln. Darüber hinaus tue er etwas Gutes für sein Land
"Natürlich beeinflussen wir die Gesellschaft nur auf einer Mikro-Ebene. Aber immerhin: Wir helfen, dass Firmen effektiver und erfolgreicher arbeiten. Ich bin überzeugt, dass davon die Mitarbeiter lernen. Auch für ihr privates Engagement in der Wohnungs-Genossenschaft oder ihrem Bürgerverein. Und sie werden höhere Anforderungen an den Staat stellen. So wirkt unsere Arbeit doch nachhaltiger als man zunächst denkt."
Und was ist mit der Angst der Angestellten, wenn die Unternehmensberater kommen? Die sei häufig unbegründet, findet Pawelko. Schließlich gehe es um strategische Beratung, nicht nur Stellenabbau.
Für den Jungmanager ist es wichtig, die gesellschaftliche Bedeutung seiner Arbeit hervorzuheben. Schließlich engagiert er sich seit seiner Jugend für eine liberale Partei - die "Freiheitsunion". Vor wenigen Jahren kandidierte er auf ihrer Liste sogar für das Europa-Parlament, allerdings erfolglos.
Die Brücke von der Unternehmensberatung zur Politik schlägt Miroslaw Pawelko mit selbstbewusster Leichtigkeit. Denn auch in der Staatskunst gehe es um ein effektives Management. Und um die Senkung von Kosten.
"Polen ist in einem Stadium, wo es Wohlstand aufbaut. Da können wir es uns nicht leisten, zu viel für soziale Belange auszugeben. Wir brauchen Geld für Bildung und Infrastruktur. Für meine Begriffe ist Polen im Moment zu sozial. Wir geben zu viel Geld für Renten und Transferleistungen aus. Deshalb gibt es ja jetzt diese große Diskussion um die Frührenten."
Dass es nach dem Abbau von Sozialleistungen vielen schlechter geht, ist für Miroslaw Pawelko kein Argument. Eine neoliberale Wirtschaftspolitik, so sein Credo, führe früher oder später zum größten Wohlstand für alle.
Er selbst hat von diesem Kuchen schon heute ein ordentliches Stück abbekommen. Pawelko, der aus Gleiwitz stammt, hat sich im Warschauer Prestige-Viertel Mokotow eine Wohnung gekauft. Im Sommer machte er eine Rundreise durch Kalifornien. Auch sein Kollege, mit dem er mittags zum Business-Lunch geht, hat bei Schweinslendchen mit Wildreis etwas zu erzählen.
Er liebt den Aktiv-Urlaub und hat deshalb ein Trainingslager für modernen Tanz in der polnischen Provinz besucht. Jetzt weiß er, wie man sich elegant zu Hip-Hop-Musik bewegt.
Trotzdem geben sich die beiden gemütlich. Ihr gemeinsames Mittagessen gönnen sie sich regelmäßig, sagt Pawelko.
"Wir haben Kollegen, die belegte Brote mitbringen und am Computer essen. Sie glauben, sie müssten von früh bis spät ununterbrochen arbeiten, um ihr Bestes zu geben. Das Ergebnis ist aber, dass sie ausgelaugt wirken und nicht effektiv arbeiten. Wenn wir mit solchen Kollegen in einem Team sind, dann kommt es zu Konflikten - besonders, wenn es sich um Vorgesetzte handelt."
Auch sein Leben möchte der Unternehmensberater mit Bedacht angehen. Seine Eltern liegen ihm zwar in den Ohren, er solle endlich eine Familie gründen, aber das allein mache seine Generation nicht mehr glücklich, sagt er.
"Wir wollen ein reicheres Land werden - und das kostet große Anstrengung. Natürlich haben wir da nicht mehr so viel Zeit für Freunde und Nachbarn. Aber das ist nichts Schlechtes, das ist Ausdruck unserer Ambitionen. Wir wollen es zu etwas bringen. Das heißt ja nicht, dass wir gar keine Freunde mehr haben. Man muss die freie Zeit nur richtig verwalten und auch an Freundschaften arbeiten."
"Marysia nahm diesmal keine Kaubonbons mit. Sie verschüttete das Öl, das sie auf dem Dachboden gefunden hatte und zündete es an. Das wird ein Feuer geben. Bestimmt kommt gleich das Fernsehen, und dann gibt es eine Live-Übertragung vom brennenden Flohmarkt. Hier soll keiner mehr herumschleichen, keiner mehr kaufen, keiner mehr um irgendeinen Stofffetzen feilschen.
Schnell, zünden wir es an. Noch eine Bude, noch so ein ärmlicher Verkaufsstand. Das steht ja eh alles ganz wackelig da, in die Erde hinein gebohrt, ganz ehrlich. Schlechte Fußwege, löchrige Dächer. Wer braucht das noch. Brennen soll es, und die Leute sollen sich wundern, wer das Feuer gelegt hat und wozu.
Genau deshalb, damit sie wenigstens kurz inne halten, nachdenken, überlegen. Völlig grundlos, aus Trotz gegenüber dem ganzen Stadtviertel und den Angestellten. Den Schlüsseldienst-Männern.
Die Stadt in der Stadt soll brennen, das Labyrinth aus den schiefen Ständen dieser Schlitzaugen, Russen und Polen. Dieser Omas, die hier täglich herkommen, wer weiß wozu, die herumgraben, sich umziehen und für zwei Zloty Glück suchen.
Ich hab genug davon. Soll der ganze Markt abbrennen, vielleicht machen sie einen Park daraus oder stellen ein großes Denkmal für die Werbung auf. Alles für fünf Zloty. Ich gehe nach Hause. Sie kommen nicht drauf, dass ich das war - und selbst wenn, dann sage ich, es war ein Versehen."
Der Statistik nach gelten weit über 90 Prozent der Polen als Katholiken, weil sie getauft sind. Die Kirchen sind immer noch gut gefüllt, und in den Städten gibt es meist mehrere Messen täglich. Trotzdem nimmt die Frömmigkeit im Lande merklich ab; die Religion ist wie in so vielen westlichen Gesellschaften auf dem Rückzug. Daran ist der Klerus selbst nicht unschuldig: Liberale und erzkonservative Kreise liefern sich innerhalb der polnischen Kirche Flügelkämpfe - in Danzig darf sogar ein Pfarrer, der offener Antisemit ist, weiter predigen.
Mit dem Tod von Papst Johannes Paul II. haben Kirche und Gesellschaft in Polen ihre wichtigste Integrationsfigur verloren. Die Priesterseminare kämpfen mit Nachwuchsmangel. Auch der Beitritt zur Europäischen Union 2004 hat zum Wandel beigetragen: Mit wachsender Neugier entdecken die Polen jetzt andere Gesellschaftsentwürfe: Die vielen polnischen Auswanderer treffen im Ausland auf eine Umwelt, in der die Kirche eine untergeordnete Rolle spielt, oder aber der Welt mehr zugewandt und liberaler ist. Während der national-konservativen Regierung unter Jaroslaw Kaczynski wurde der Stimmungswandel zwar noch abgefedert, aber mit dem Regierungswechsel im letzten Jahr hat sich das Klima rapide geändert: Dem konservativen Klerus weht der Wind kalt ins Gesicht. Bei Themen wie Abtreibung oder Partnerschaft verfolgen junge Polen eigene Vorstellungen. Immer selten gehen sie in die Messe, und die Zahl der Menschen, die gleich ganz aus der Kirche austreten, wächst.
Den größten Zulauf erfahren noch jene Priester, die nahe an den Menschen dran sind, und sich sozial engagieren - zum Beispiel Pater Boguslaw Paleczny:
Mit Gottes Hilfe: Ein Pater hilft Obdachlosen
Ein ungewöhnlicher Platz für einen Mönch: Pater Boguslaw Paleczny steht hoch oben auf einem halbfertigen Schiffsrumpf und inspiziert die Arbeiten. 19 Meter lang wird das Segelschiff, das hier unter einer überdimensionalen Bau-Plane entsteht und auch für die hohe See tauglich sein soll.
Zwei Männer hieven Metallstücke von unten auf das künftige Deck. Einer von ihnen ist ein pensionierter Ingenieur aus Warschau - der andere ein Obdachloser aus dem Heim nebenan. Die Idee stammt von Pater Boguslaw Paleczny: In ein paar Jahren sollen die Heimbewohner mit diesem Schiff auf Reise gehen.
"Das Projekt beflügelt schon jetzt die Fantasie der Obdachlosen. Die meisten von ihnen glauben ja, dass ihre Probleme unüberwindbar sind. Und nun sehen sie, dass etwas scheinbar Unmögliches entsteht - und zwar für sie allein."
Pater Boguslaw kennt die Obdachlosen alle sehr gut, er hilft ihnen seit 17 Jahren. Auf die Idee kam er im zweiten Jahr seines Priesterseminars. Täglich fuhr er mit der S-Bahn zum Unterricht und musste sehen, wie Obdachlose auf den Bahnhöfen in Mülleimern wühlten.
Am Anfang hatte er nur einer Feldküche, die ihm zwei Generäle geschenkt hatten. Mit ihr fuhr jeden Tag Essen zum Warschauer Hauptbahnhof.
Später richtete Boguslaw Paleczny am Bahnhof die Bar Marta ein - einen Kiosk, der seitdem Bedürftige mit warmen Mahlzeiten versorgt. Und schließlich eröffnete er erwähntes Wohnheim für 80 Personen, für das er das Verwaltungsgebäude einer alten Fabrik kaufte.
Im Aufenthaltsraum sieht man, warum die Obdachlosen Boguslaw Paleczny verehren. Ein neuer, großer Fernseher steht hier.
"Das ist ein Bildschirm mit HD-Technologie, "high definition", was so viel bedeutet wie "höhere Auflösung". Wenn man alte Filme anschaut, fällt das nicht auf. Aber bei neuen Tiersendungen wird einem schwindelig, so genau sieht man alles. Wir haben auch ein paar hundert Filme auf DVD. Wenn unsere Herren hier fernsehen, dann denkt man oft, der dritte Weltkrieg sei ausgebrochen, dann bebt das ganze Haus."
In einer Ecke stehen außerdem mehrere Computer mit Internetanschluss. Den ganzen Tag über können die Bewohner an der Bar kostenlos Tee und Kaffee bestellen. Alkohol ist dagegen tabu - im ganzen Haus. Wer mit mehr als 0,2 Promille im Blut erwischt wird, muss seine Sachen packen. Herausreden gilt nicht: Pater Paleczny hat längst einen Alkomat angeschafft.
Als Herz seiner Einrichtung bezeichnet der Geistliche das Büro, wo er zwei Mitarbeiterinnen beschäftigt. Ihre wichtigste Aufgabe ist es, den Obdachlosen bei Bürokratie und anderem Papierkram zu helfen. Sie sorgen dafür, dass die Heimbewohner beim Arbeitsamt gemeldet werden und damit wieder krankenversichert sind. Außerdem fordern sie die Rente ein, die Alten und Berufsunfähigen zusteht.
Ihre Erfahrung zeigt aber leider, dass der polnische Staat - trotz Wirtschaftsaufschwung - alles andere als sozial ist. Malgorzata Zygnerska, eine der beiden Angestellten:
"Berufsunfähige bekommen umgerechnet 115 Euro im Monat. Absurd ist, dass ihnen dieser kleine Betrag noch gepfändet werden kann. Zum Beispiel, wenn sie Unterhalt zahlen müssen. Bei einem Insassen von uns zieht der Gerichtsvollzieher einfach 50 Prozent ab. Wie soll so ein Mensch alleine wieder auf die Füße kommen? Das ist überhaupt nicht möglich."
Die andere Aufgabe von Malgorzata Zygnerska ist es, den Menschen zuzuhören. So erfährt sie zum Beispiel, wer noch an seiner Familie hängt. Diesen Menschen bietet sie dann an Weihnachten an, eine Postkarte zu schreiben oder sogar anzurufen. Das ist für manche der erste Schritt zurück in die Gesellschaft da draußen, rund 40 haben ihn in den letzten zwei Jahren geschafft - bei einem Heim mit nur 80 Bewohnern eine stolze Zahl.
Erstaunlich an diesem Erfolg: Den Großteil seiner Mittel bringt Boguslaw Paleczny alleine auf - durch Kirchenspenden und durch den Verkauf von CDs. Der 49-Jährige spielt mit professionellen Musikern, viele der Texte stammen aus seiner Feder. So viel Selbstständigkeit macht ihn auch innerhalb der Kirche suspekt. Denn da gibt es die Caritas, die sich institutionell um Arme kümmert, und die Konkurrenz nicht gerne hat.
In der Warschauer Diözese habe er sogar einen persönlichen Feind, so Paleczny.
"Er hat den Pfarrern verboten, bei Messen für mich zu sammeln. Jetzt stellen wir uns vor die Kirchen. Ja, manchen Geistlichen würde ich wirklich gern die Sutane vom Leib reißen und in den Hintern stopfen."
Größere Gefahr droht dem Obdachlosenheim aber ausgerechnet durch den steigenden Wohlstand in Warschau. Eine Immobilienfirma kaufte große Teil der Fabrik, um hier exklusive Lofts einzurichten. So ein Heim kann sie da natürlich nicht brauchen und will Pater Boguslaw hinausekeln.
"Unsere Kanalisation war verstopft. Und für die Reinigung verlangt der Wasserversorger jetzt vier Mal so viel Geld wie üblich. Natürlich steckt dahinter die Immobilienfirma. Sie übt Druck auf den Wasserversorger aus, schließlich wird sie mit ihren Lofts einmal ein ganz großer Kunde. Diese Firma ist es vermutlich auch, die uns nachts um zehn die Polizei vorbeischickt, die hier angeblich etwas überprüfen muss. Aber um diese Zeit lasse ich niemanden mehr herein."
Trotz aller Widerstände: Boguslaw Paleczny will noch mehr für die Obdachlosen tun. Neben dem Heim entsteht gerade ein Krankenhaus für sie. Und wer partout nicht gesund werden will, der soll ja in Zukunft durch die Aussicht auf eine Hochsee-Kreuzfahrt genesen.
Zwischen Kirche und Konsum: Das waren Gesichter Europas über das neue Polen. Autor unserer Reportagen war Florian Kellermann. Die Literatur wurde gelesen von Claudia Mischke. Die Musik hat Babette Michel ausgewählt. Die Redaktion hatte Thilo Kößler. Dank geht an die Kolleginnen für Ton und Technik. Am Mikrofon verabschiedet sich Barbara Schmidt-Mattern.
Zwei Männer hieven Metallstücke von unten auf das künftige Deck. Einer von ihnen ist ein pensionierter Ingenieur aus Warschau - der andere ein Obdachloser aus dem Heim nebenan. Die Idee stammt von Pater Boguslaw Paleczny: In ein paar Jahren sollen die Heimbewohner mit diesem Schiff auf Reise gehen.
"Das Projekt beflügelt schon jetzt die Fantasie der Obdachlosen. Die meisten von ihnen glauben ja, dass ihre Probleme unüberwindbar sind. Und nun sehen sie, dass etwas scheinbar Unmögliches entsteht - und zwar für sie allein."
Pater Boguslaw kennt die Obdachlosen alle sehr gut, er hilft ihnen seit 17 Jahren. Auf die Idee kam er im zweiten Jahr seines Priesterseminars. Täglich fuhr er mit der S-Bahn zum Unterricht und musste sehen, wie Obdachlose auf den Bahnhöfen in Mülleimern wühlten.
Am Anfang hatte er nur einer Feldküche, die ihm zwei Generäle geschenkt hatten. Mit ihr fuhr jeden Tag Essen zum Warschauer Hauptbahnhof.
Später richtete Boguslaw Paleczny am Bahnhof die Bar Marta ein - einen Kiosk, der seitdem Bedürftige mit warmen Mahlzeiten versorgt. Und schließlich eröffnete er erwähntes Wohnheim für 80 Personen, für das er das Verwaltungsgebäude einer alten Fabrik kaufte.
Im Aufenthaltsraum sieht man, warum die Obdachlosen Boguslaw Paleczny verehren. Ein neuer, großer Fernseher steht hier.
"Das ist ein Bildschirm mit HD-Technologie, "high definition", was so viel bedeutet wie "höhere Auflösung". Wenn man alte Filme anschaut, fällt das nicht auf. Aber bei neuen Tiersendungen wird einem schwindelig, so genau sieht man alles. Wir haben auch ein paar hundert Filme auf DVD. Wenn unsere Herren hier fernsehen, dann denkt man oft, der dritte Weltkrieg sei ausgebrochen, dann bebt das ganze Haus."
In einer Ecke stehen außerdem mehrere Computer mit Internetanschluss. Den ganzen Tag über können die Bewohner an der Bar kostenlos Tee und Kaffee bestellen. Alkohol ist dagegen tabu - im ganzen Haus. Wer mit mehr als 0,2 Promille im Blut erwischt wird, muss seine Sachen packen. Herausreden gilt nicht: Pater Paleczny hat längst einen Alkomat angeschafft.
Als Herz seiner Einrichtung bezeichnet der Geistliche das Büro, wo er zwei Mitarbeiterinnen beschäftigt. Ihre wichtigste Aufgabe ist es, den Obdachlosen bei Bürokratie und anderem Papierkram zu helfen. Sie sorgen dafür, dass die Heimbewohner beim Arbeitsamt gemeldet werden und damit wieder krankenversichert sind. Außerdem fordern sie die Rente ein, die Alten und Berufsunfähigen zusteht.
Ihre Erfahrung zeigt aber leider, dass der polnische Staat - trotz Wirtschaftsaufschwung - alles andere als sozial ist. Malgorzata Zygnerska, eine der beiden Angestellten:
"Berufsunfähige bekommen umgerechnet 115 Euro im Monat. Absurd ist, dass ihnen dieser kleine Betrag noch gepfändet werden kann. Zum Beispiel, wenn sie Unterhalt zahlen müssen. Bei einem Insassen von uns zieht der Gerichtsvollzieher einfach 50 Prozent ab. Wie soll so ein Mensch alleine wieder auf die Füße kommen? Das ist überhaupt nicht möglich."
Die andere Aufgabe von Malgorzata Zygnerska ist es, den Menschen zuzuhören. So erfährt sie zum Beispiel, wer noch an seiner Familie hängt. Diesen Menschen bietet sie dann an Weihnachten an, eine Postkarte zu schreiben oder sogar anzurufen. Das ist für manche der erste Schritt zurück in die Gesellschaft da draußen, rund 40 haben ihn in den letzten zwei Jahren geschafft - bei einem Heim mit nur 80 Bewohnern eine stolze Zahl.
Erstaunlich an diesem Erfolg: Den Großteil seiner Mittel bringt Boguslaw Paleczny alleine auf - durch Kirchenspenden und durch den Verkauf von CDs. Der 49-Jährige spielt mit professionellen Musikern, viele der Texte stammen aus seiner Feder. So viel Selbstständigkeit macht ihn auch innerhalb der Kirche suspekt. Denn da gibt es die Caritas, die sich institutionell um Arme kümmert, und die Konkurrenz nicht gerne hat.
In der Warschauer Diözese habe er sogar einen persönlichen Feind, so Paleczny.
"Er hat den Pfarrern verboten, bei Messen für mich zu sammeln. Jetzt stellen wir uns vor die Kirchen. Ja, manchen Geistlichen würde ich wirklich gern die Sutane vom Leib reißen und in den Hintern stopfen."
Größere Gefahr droht dem Obdachlosenheim aber ausgerechnet durch den steigenden Wohlstand in Warschau. Eine Immobilienfirma kaufte große Teil der Fabrik, um hier exklusive Lofts einzurichten. So ein Heim kann sie da natürlich nicht brauchen und will Pater Boguslaw hinausekeln.
"Unsere Kanalisation war verstopft. Und für die Reinigung verlangt der Wasserversorger jetzt vier Mal so viel Geld wie üblich. Natürlich steckt dahinter die Immobilienfirma. Sie übt Druck auf den Wasserversorger aus, schließlich wird sie mit ihren Lofts einmal ein ganz großer Kunde. Diese Firma ist es vermutlich auch, die uns nachts um zehn die Polizei vorbeischickt, die hier angeblich etwas überprüfen muss. Aber um diese Zeit lasse ich niemanden mehr herein."
Trotz aller Widerstände: Boguslaw Paleczny will noch mehr für die Obdachlosen tun. Neben dem Heim entsteht gerade ein Krankenhaus für sie. Und wer partout nicht gesund werden will, der soll ja in Zukunft durch die Aussicht auf eine Hochsee-Kreuzfahrt genesen.
Zwischen Kirche und Konsum: Das waren Gesichter Europas über das neue Polen. Autor unserer Reportagen war Florian Kellermann. Die Literatur wurde gelesen von Claudia Mischke. Die Musik hat Babette Michel ausgewählt. Die Redaktion hatte Thilo Kößler. Dank geht an die Kolleginnen für Ton und Technik. Am Mikrofon verabschiedet sich Barbara Schmidt-Mattern.