Masorti ist Hebräisch und heißt "Tradition". Es ist die in Deutschland gebräuchliche Bezeichnung für die konservative Strömung im Judentum, die als "conservative Judaism" vor allem in den USA stark vertreten ist. Masorti nimmt eine Position der Mitte ein, zwischen Orthodoxie und Reformbewegung, erklärt die Berliner Rabbinerin Gesa Ederberg:
"Offen im 21. Jahrhundert stehend, offener Kontakt zur nichtjüdischen Umgebung und gleichzeitig die Halacha, der jüdischen Tradition sehr eng verbunden. Also es wird Kaschruth gehalten, kosher gegessen, Shabbat wird streng gehalten, der Gottesdienst ist sehr traditionell gehalten eigentlich, mit dem 'kleinen' Unterschied, dass Frauen gleichberechtigt sind."
Gesa Ederberg wurde in Israel zur Masorti-Rabbinerin ordiniert. Sie leitet seit vielen Jahren eine kleine Gemeinde in der Berliner Oranienburger Straße. Es wird großen Wert auf die Halacha gelegt. Verbindlichkeit ist ein wichtiges Kriterium. Zugleich aber auch die Aufgeschlossenheit gegenüber gesellschaftlichen Veränderungen.
"Wir verstehen Tradition so, dass sie sich immer über die Jahrhunderte hinweg angepasst und weiterentwickelt hat und diese Entwicklung immer noch weitergeht", sagt Ederberg. "Also wir treten mit heutigen Fragen an die alten Texte heran und finden dann Antworten, die beiden gerecht werden: den heutigen Umständen und dem, was die jüdische Tradition an Werten und auch an Praxis vertritt."
Im deutlichen Unterschied zur Orthodoxie ist Masorti egalitär und bietet damit Frauen die Möglichkeit, ein geistliches Amt zu übernehmen. Diese Chance nutzte auch Nitzan Stein-Kokin, die jetzt als erste Absolventin des Potsdamer Zacharias Frankel Colleges zur Rabbinerin ordiniert wurde. Die Frauenordination war für sie ein wesentliches Motiv, sich für diese Richtung im Judentum zu entscheiden:
"Eine Sache, die mir schon immer wichtig war, war die Gleichstellung der Frau. Weil es mir einfach wichtig ist, dass meine Kinder sehen, dass Frauen auch am Ritus, im öffentlichen Gemeindeleben sich beteiligen können."
Neue Wege der Rabbinatsausbildung
Nitzan Stein-Kokin ist nun die erste in Deutschland ausgebildete konservative Rabbinerin seit der Shoah. Rabbinerseminare etablieren sich wieder in Deutschland: etwa das orthodoxe Hildesheimer Rabbinerseminar in Berlin oder das liberale Abraham Geiger Kolleg in Potsdam. Das ebenfalls an der Universität Potsdam angesiedelte Frankel College bildet seit 2013 die dritte Säule der Rabbinatsausbildung. Es ist ein europaweit einzigartiges Projekt. Auf eine anspruchsvolle Ausbildung wird großen Wert gelegt. Die Absolventen sollen Aushängeschilder sein, wünscht sich die Koordinatorin des Frankel Colleges Sandra Anusiewicz-Baer:
"Das Ausbildungsprogramm ist hier sehr ambitioniert. Wir verlangen von den Kandidaten schon ziemlich viel, bevor sie überhaupt kommen. Ich glaube, der Beruf des Rabbiners ist wirklich ein sehr, sehr herausfordernder Beruf, fordernder Beruf, weil man auf so vielen verschiedenen Ebenen tätig ist."
Zacharias Frankel, der Namensgeber des heutigen Kollegs, gründete 1854 das Jüdisch-Theologische Seminar in Breslau. Er gilt als Vordenker des Mittelweges zwischen Orthodoxie und Reformbewegung, auch wenn dieser Mittelweg damals noch nicht Masorti hieß.
"Ich würde sagen, dass es tatsächlich ein ergänzendes Element ist, um eben auch die Vielfalt abzubilden, die wir mittlerweile wieder haben bzw. die wir auch weiter vorantreiben möchten", sagt Anusiewicz-Baer. "Und es scheint mir immer erstaunlich, dass gerade konservative oder Masorti-Rabbinerinnen oder Rabbiner gar nicht so stark vertreten sind in Deutschland, weil ich denke, dass sie eigentlich ganz gut das Lebensgefühl widerspiegeln, das die meisten Gemeindemitglieder haben. Dementsprechend denke ich, dass wir als Ausbildungsstätte da eine wichtige Funktion haben und auch eine Lücke schließen."
Alltag und Halacha versöhnen
Noch gibt es, anders als etwa in Frankreich, nur wenige konservativ orientierte Gemeinden in Deutschland. Doch gerade für die überwiegend von Zuwanderern aus der ehemaligen Sowjetunion geprägten Gemeinden sei diese Ausrichtung attraktiv, findet Anusiewicz-Baer. Denn viele dieser Gemeinden seien zwar nominell orthodox, ihre Mitglieder würden jedoch nicht unbedingt orthodox leben. Gleichzeitig stünden viele russischsprachige Juden dem Reformjudentum eher skeptisch gegenüber.
"Da sehe ich den Bedarf für Masorti, der eben diesen ganz starken, den strikten halachischen Weg verbindet mit dem heutigen Leben und versucht eine Antwort zu finden auf die Probleme und Herausforderungen die sich heute stellen und versucht diese mit den Vorgaben der Halacha zu verbinden."
Es geht dabei um ganz praktische Fragen des religiösen Alltagslebens: Wie komme ich am Shabbat in die Synagoge, wenn diese am anderen Ende der Stadt liegt? Wie kann ich eine Beerdigung innerhalb von 24 Stunden organisieren? Muss ich als Frau im Gottesdienst getrennt von den Männern sitzen? Kann ich Rabbiner oder Rabbinerin werden, wenn ich homosexuell lebe? Fragen, die offen diskutiert und dann im Halacha-Komitee des Rabbinerdachverbandes von Masorti verbindlich entschieden werden.
Gesa Ederbergs Gemeinde war lange die einzige in Berlin, in der Frauen vorbeten konnten. "Masorti" bedeutet für die Rabbinerin auch eine Verbindung von Tradition und Moderne:
"Ich glaube, gerade diese Mittelposition ist etwas, was uns heute was unglaublich Wichtiges ist: Wie kann ich meine Religion leben als eine Religion, die meinen Alltag gestaltet? Ohne dass ich dabei politisch fundamentalistisch werde. Ohne dass ich dabei homophob bin. Wie kann ich es so machen, dass ich gleichzeitig selber sehr religiös bin und offen für den interreligiösen Dialog? Es geht eben nicht drum, ich assimiliere mich in die Mehrheitsgesellschaft hinein, so dass ich ganz unsichtbar werde. Sondern ich bleibe sichtbar, ich fordere meine Rechte ein, ich suche den Platz, wo ich meine Religion leben kann."