Zwischen Mythos und Kommerz

Englands Fußball hat sich von seinen Wurzeln entfernt. Längst ist er kein schichtenspezifischer Sport mehr. Nur noch acht Prozent der Fans in den Stadien sind Industriearbeiter. Mehrere Vereine sind in der Hand branchenfremder Investoren.

Von Norbert Weber | 09.06.2006
    Sie singen, sie stimmen sich ein auf die Fußball-Weltmeisterschaft. Und die Erwartungen der englischen Fans in den Pubs zwischen Newcastle und Southampton sind groß:

    "Wenn wir Fans wie ein Mann hinter unserer Mannschaft stehen, können wir es dieses Mal schaffen. Ich wäre sehr enttäuscht, wenn wir nicht mindestens ins Halbfinale kämen, denn wir haben die beste Mannschaft seit 20, 30 Jahren, vielleicht sogar seit 1966, als wir Weltmeister wurden."

    Unvergessen und heute immer noch heiß diskutiert, die Szene damals in der 101. Spielminute im WM-Finale zwischen England und Deutschland im Londoner Wembley-Stadion. Tor oder kein Tor? Der Schweizer Schiedsrichter Gottfried Dienst erkannte zunächst auf kein Tor. Erst nachdem er seinen russischen Linienrichter-Kollegen Bachamov befragte, revidierte er seine Meinung.

    Das WM-Finale 1966 zwischen England und Deutschland war der Beginn eines Mythos. Ob bei der WM 1970 in Mexiko, beim Europameisterschafts-Viertelfinale 1972 im Wembley-Stadion, dem ersten Sieg einer deutschen Mannschaft auf der britischen Insel, 1990 bei der WM in Italien oder 1996 im Halbfinale der EM in England - Aufeinandertreffen zwischen englischen und deutschen Mannschaften waren meist mehr als nur ein ganz gewöhnliches Fußball-Spiel. Franz Beckenbauer hat das britischen Journalisten einmal in seinem bayerischen Englisch so erklärt:

    "It’s a classic. We call it a Klassiker. It’s a classic."

    England, einer der Favoriten des diesjährigen Turniers, könnte bereits im Achtelfinale auf Gastgeber Deutschland treffen. Für den Kapitän der englischen Mannschaft, David Beckham, wäre das das Spiel schlechthin:

    "Ganz bestimmt. Das sind die Spiele, von denen man schon als Kind träumt. Das sind die wirklich großen Matches. Es gibt nichts Größeres, als gegen die Deutschen zu spielen."

    Doch so vielversprechend auch die sportlichen Aussichten der englischen Mannschaft bei dieser Weltmeisterschaft sein mögen - im Mutterland des Fußball brodelt es. Englands Fußball, zum Milliardengeschäft mutiert, steht am Scheideweg: astronomische Spielergehälter, rasant gestiegene Eintrittspreise, Fans, die sich nicht mehr identifizieren können, stetig rückläufige Zuschauerzahlen. Die Fans reagieren verärgert und sind ihrer Rolle als Konsumenten überdrüssig:

    "Das Geld spielt seit einigen Jahren eine immer größere Rolle und hat unseren Fußball kaputt gemacht. Wir einfachen Arbeiter mit kleinem Geldbeutel können es uns einfach nicht mehr leisten. ins Stadion zu gehen. Das ist wirklich ein großes Problem. Bei Chelsea kostet zum Beispiel die billigste Eintrittskarte 90 Euro. Und wenn Du dann auch noch Deine Kinder mit nehmen willst, ein paar Bier trinkst und ein paar Burger isst – das kann man sich einfach nicht mehr leisten."

    Englands Fußball hat sich von seinen Wurzeln entfernt. Längst ist er kein schichtenspezifischer Sport mehr. Nur noch acht Prozent der Fans in den Stadien sind Industriearbeiter. Die größte Klientel sind Besserverdienende, die, wie beim Nobelklub Chelsea, mit Anzug und Krawatte zum Spiel kommen. Für einen West-Ham-United-Fan aus dem Londoner Arbeiterviertel East End ein Unding.

    "Das ist doch das Ende des Fußballs für die Arbeiterklasse. Aber Chelsea Fans sind sowieso Idioten, wenn sie so viel bezahlen. Das sind keine echten Fans. Die kommen und gehen. Ein echter Fan hält zu seinem Klub bis zum bitteren Ende, selbst wenn der eine Niederlage nach der anderen einfährt. Unsere Tickets sind auch nicht gerade billig. Das ist eine Menge Geld für einen einfachen Arbeiter. Aber zu bestimmten Spielen werden wir immer gehen, und wenn es uns den letzten Penny kostet. Denn ohne West Ham können wir nicht leben."

    Immer mehr namhafte Fußballvereine der englischen Premier League wurden in den vergangenen Jahren zum Spielball branchenfremder Investoren. So übernahm der russische Oligarch Roman Abramowitsch für rund 210 Millionen Euro den Londoner Traditionsklub Chelsea. Der amerikanische Milliardär Malcolm Glazer kaufte sich für 1,2 Milliarden Euro bei Manchester United ein. Um den Kaufpreis zu stemmen, nahm der US-Tycoon Kredite auf und machte so den einst reichsten Fußballklub der Welt mit einem Schlag zu einem der höchst verschuldeten. Doch Geld scheint bei Manchester United und dem FC Chelsea keine Rolle zu spielen. Spielergehälter von 200.000 Euro pro Woche für die Stars auf dem grünen Rasen sind zur Normalität geworden. John Cross, Fußballreporter der englischen Zeitung "Mirror", warnt vor einer gefährlichen Entwicklung:

    "Chelsea hat das ganze aus dem Gleichgewicht gebracht. Der Fußball ist außer Kontrolle geraten. Es werden Ablösesummen von 30, 40 Millionen Euro gezahlt, nur damit der Spieler nicht zum Ligakonkurrenten wechselt. Diese Transfers sind einfach völlig aufgeblasen. Es geht immer nur darum, ob Chelsea Interesse hat. Wenn ja, dann läuft alles aus dem Ruder. Das ist die Schuld von Herrn Abramowitsch."

    Durch das Ausbleiben der Fans ist es auch auf den Tribünen merklich ruhiger geworden. Doch wer soll den Lärm machen, wenn die Basis verdrängt wird? Der in London lebende Sportjournalist und Fachbuchautor Raphael Honigstein warnt vor einer ausufernden Kommerzialisierung des englischen Fußballs. Er beobachtet aber auch, wie Fans sich gruppieren und sich zusammenschließen, um wieder Anteile ihrer Vereine zurückzukaufen und um auf diese Art und Weise über den Markt wieder Macht und Mitbestimmung zurückzubekommen:

    "Diese Entwicklung könnte es auch in anderen Ländern geben, dass die Fans erkennen, wenn die Gesetze des Marktes wirklich herrschen und Fußball ein Geschäft geworden ist, hilft es nicht mehr mit den alten Gesetzen von früher Einfluss nehmen zu wollen, sondern, man muss sich auch den neuen Gegebenheiten anpassen und sich selber daran praktisch beteiligen."