Christoph Heinemann: Wenn er jemandes Meinung nicht teilte, soll Leo Baeck über diesen geurteilt haben, er trage schöne Hemden. Vielleicht sagt das mehr aus über den Rabbiner Leo Beck, den vielleicht bekanntesten Vertreter des deutschen liberalen Judentums als eine Aufzählung seiner Werke oder der Stationen seines Lebens. Breslau, Berlin, Oppeln, Düsseldorf und wieder Berlin. Dort unterrichtete er ab 1912 an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums bis in die Nazizeit, die er im Konzentrationslager Theresienstadt überlebte. Heute vor 50 Jahren ist Leo Baeck in London gestorben. Wir wollen über ihn mit dem Historiker Professor Michael Brenner von der Universität München sprechen, dem Vorsitzenden der wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft des Leo Baeck Instituts. Guten Morgen.
Michael Brenner: Guten Morgen Herr Heinemann.
Heinemann: Herr Brenner, der Weg von Breslau, nach Berlin bedeutete für Leo Baeck gleichzeitig eine Entwicklung vom Traditionellen zum liberalen Judentum, wie kam es zu dieser Entwicklung?
Brenner: Ja man muss vielleicht sagen, dass der Unterschied zwischen dem traditionellen und dem liberalen Judentum in dieser Zeit nicht allzu groß war, nicht so groß wie heute. Leo Baeck ist aufgewachsen in einer Welt des traditionelleren Judentums, vertraut mit all den Gegebenheiten des traditionellen Judentums und hat sich dann in eine Richtung bewegt, beeinflusst natürlich auch durch die universitäre Umgebung, durch die große Auseinandersetzung mit seiner christlichen Umwelt und hat dann eine Stelle als liberaler Rabbiner, vielleicht sogar als Oberhaupt des liberalen deutschen Judentums angetreten, aber die Fronten waren nicht so deutlich gesteckt, wie sie das viele Jahrzehnte später dann wurden.
Heinemann: Worin unterschieden sich denn damals Traditionelle und Liberale?
Brenner: Die Unterschiede bestanden zum Beispiel im Gottesdienst, also ein liberaler Gottesdienst hatte meistens eine Orgelbegleitung, ein orthodoxer Gottesdienst da war das undenkbar, dass es so etwas gebe, das heißt einmal im Ritual und auch in der Liturgie, im anderen natürlich auch ein wenig in der Theologie und hier muss man Leo Baeck schon zum liberalen Judentum hinzurechnen. Er hat sich sehr offen mit der jüdischen Vergangenheit, mit der jüdischen Theologie auseinander gesetzt. Er hat sich mit dem Christentum auseinandergesetzt und sein vielleicht wichtigstes Werk, "Das Wesen des Judentums" ist im gewissen Sinn auch eine Antwort auf den protestantischen Theologen Adolf von Harnack, "Das Wesen des Christentums".
Heinemann: Inwiefern sind die Unterschiede traditionell, liberal heute größer?
Brenner: Um ein Beispiel zu nennen, es ist natürlich heute so, dass vor allem die Rolle der Frau im Mittelpunkt steht, also in einer liberalen Synagoge haben Frauen die Möglichkeit Rabbiner zu werden oder Rabbinerin zu werden, an allen Funktionen des Gottesdienstes teilzunehmen. Das gab es damals in den 20er, 30er Jahren eigentlich noch nicht, auch wenn es die erste Rabbinerin Mitte der 30er Jahre geben sollte, aber das war eine wirkliche Ausnahmeerscheinung, die auch keine eigene Gemeinde betreute und man muss eben dazusagen, Leo Baeck war eben wie viele seiner liberalen Kollegen in einer traditionellen Welt groß geworden, das heißt, er war mit all dem vertraut und hielt sich auch an viele Dinge, wie etwa die Speisegesetzte.
Heinemann: Heißt liberal auch, Herr Professor Brenner, dass Juden eben auch Staatsbürger sind und sich einmischen sollen?
Brenner: Ja, wobei man sagen muss, dass hier eigentlich liberal wirklich im religiösen Sinn gebraucht wird und ich glaube, das ist manchmal verwirrend. Auch die orthodoxen Juden haben - in Deutschland zumindest - seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gesagt, wir sind auch deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens und auch wir dürfen uns und müssen uns einmischen und auch die orthodoxen Rabbiner in Deutschland haben normalerweise an deutschen Universitäten studiert und promoviert, waren, wie man das damals nannte, Doktor-Rabbiner.
Heinemann: Welche Bedeutung hatte die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums für die Juden?
Brenner: Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums war zusammen mit dem jüdisch-theologischen Seminar in Breslau und dem orthodoxen Hildesheimer Rabbinerseminar in Berlin eine der drei Rabbinerseminare in Deutschland. Es war eben die liberale Institution. Aber viele der dort amtierenden Professoren, wie auch Leo Baeck, kamen eben nicht unbedingt aus einem Hintergrund in dem sie mit der Orthodoxie im traditionellen Hintergrund nicht vertraut gewesen wären. Aber es war die wichtigste wissenschaftliche Einrichtung kann man doch sagen, in Berlin auf jeden Fall, nicht nur in der Rabbinerausbildung, sondern überhaupt in der Vermittlung jüdischer Lehren, übrigens hat auch Franz Kafka kurz vor seinem Tod dort Kurse besucht, sicher nicht um Rabbiner zu werden.
Heinemann: Wie hat denn die jüdische Orthodoxie auf Leo Baecks Liberalismus dort reagiert?
Brenner: Also er war ein Mann der Mitte und das hat sich dann 1933 gezeigt, als zum ersten Mal übrigens eine reichsweite Organisation der Juden in Deutschland gegründet wurde. Die "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland" und sie, als sie einen Präsidenten suchten, Leo Baeck auserkoren haben.
Heinemann: Kann man sagen, dass die Fundamente des jüdischen Liberalismus in Berlin liegen?
Brenner: Zu einem gewissen Teil ist das sicherlich richtig für das frühe 20. Jahrhundert. Die Fundamente, wenn man ganz am Anfang in den Generationen vor Baeck nachsieht, liegen sicher auch wo anders, sicher auch in Hamburg, wo der erste Tempel mit Orgel war, oder in einer kleinen Stadt wie Seesen wo hier wirklich die erste moderne Synagoge sozusagen eingeweiht war. Das liegt weit in der Zeit vor Leo Beck. In der Zeit Leo Becks war Berlin das Zentrum des deutschen Judentums und ganz bestimmt auch des liberalen deutschen Judentums, zudem sich die Mehrheit damals rechnete.
Heinemann: Sie haben das Buch "Das Wesen des Judentums" angesprochen. Was sollten Christen, Moslems und andere Nicht-Juden heute unbedingt über das Judentum wissen?
Brenner: Ja keine leichte Frage, das so schnell zu beantworten, aber ich würde sagen, dass das Judentum eine Religion ist und vielleicht ist das das Wichtige, die eine - wie die andere Religionen natürlich genauso- eine große Vielfalt kennzeichnet. Wir haben es gerade angedeutet von Liberalen bis Orthodoxen und wenn sie einen Juden nach der Bedeutung oder nach dem Wesen des Judentums fragen, dann ist das nicht unbedingt etwas womit ein zweiter Jude übereinstimmt, also ich denke dieses auf den Kern bringen, wie Leo Baeck das vielleicht noch um 1900 versuchte, lässt sich doch heute sehr schwer machen. Man kann es natürlich so beantworten, in dem man sagt, man soll dem anderen nicht das antun, was man sich selbst nicht zugefügt haben möchte, also das sind klassische Antworten, aber die bleiben natürlich auch im gewissen Sinn auf einer trivialen Ebene, wenn man es so kurz fassen muss.
Heinemann: Kann man sich heute auf Leo Baeck berufen, wenn man die Politik Israels etwa gegenüber den Palästinensern kritisiert?
Brenner: Nein ich glaube nicht, Leo Baeck hierzu, weder für die Kritik, noch für die Legitimation zu benutzen, da müsste man glaube ich wirklich die Geschichte sehr stark verbiegen. Leo Baeck war jemand, der gesehen hat, es gibt die Notwendigkeit eines jüdischen Staates für einen Teil des jüdischen Volkes. Nicht in seiner Meinung nach für die deutschen Juden oder für die Mehrheit der deutschen Juden, sondern für die damals, vor 1933 bedrohten osteuropäischen Juden. Er war auch jemand, der dann selber nach seiner Befreiung aus dem KZ Theresienstadt ja nicht nach Palästina oder später Israel ging, sondern nach England, also er war in dem Sinn kein aktiver Zionist, aber ich denke, er hätte wahrscheinlich, wenn man da etwas sagen kann, durchaus als Grundtendenz natürlich Verständnis dafür, dass auch die Juden einen eigenen Staat brauchen.
Heinemann: Herr Professor Brenner, bei Meinungsverschiedenheiten, ich habe es eben gesagt, würdigte Leo Baeck die schönen Hemden seines Kontrahenten. Wem würde Leo Baeck heute ein solches modisches Äußeres bescheinigen?
Brenner: Ich denke, er würde vielleicht jene ins Auge fassen, die heute sehr selbstgerecht über andere urteilen und dabei manchmal ihre eigene Vergangenheit oder ihre eigene Rolle in der Vergangenheit so leicht vergessen.
Michael Brenner: Guten Morgen Herr Heinemann.
Heinemann: Herr Brenner, der Weg von Breslau, nach Berlin bedeutete für Leo Baeck gleichzeitig eine Entwicklung vom Traditionellen zum liberalen Judentum, wie kam es zu dieser Entwicklung?
Brenner: Ja man muss vielleicht sagen, dass der Unterschied zwischen dem traditionellen und dem liberalen Judentum in dieser Zeit nicht allzu groß war, nicht so groß wie heute. Leo Baeck ist aufgewachsen in einer Welt des traditionelleren Judentums, vertraut mit all den Gegebenheiten des traditionellen Judentums und hat sich dann in eine Richtung bewegt, beeinflusst natürlich auch durch die universitäre Umgebung, durch die große Auseinandersetzung mit seiner christlichen Umwelt und hat dann eine Stelle als liberaler Rabbiner, vielleicht sogar als Oberhaupt des liberalen deutschen Judentums angetreten, aber die Fronten waren nicht so deutlich gesteckt, wie sie das viele Jahrzehnte später dann wurden.
Heinemann: Worin unterschieden sich denn damals Traditionelle und Liberale?
Brenner: Die Unterschiede bestanden zum Beispiel im Gottesdienst, also ein liberaler Gottesdienst hatte meistens eine Orgelbegleitung, ein orthodoxer Gottesdienst da war das undenkbar, dass es so etwas gebe, das heißt einmal im Ritual und auch in der Liturgie, im anderen natürlich auch ein wenig in der Theologie und hier muss man Leo Baeck schon zum liberalen Judentum hinzurechnen. Er hat sich sehr offen mit der jüdischen Vergangenheit, mit der jüdischen Theologie auseinander gesetzt. Er hat sich mit dem Christentum auseinandergesetzt und sein vielleicht wichtigstes Werk, "Das Wesen des Judentums" ist im gewissen Sinn auch eine Antwort auf den protestantischen Theologen Adolf von Harnack, "Das Wesen des Christentums".
Heinemann: Inwiefern sind die Unterschiede traditionell, liberal heute größer?
Brenner: Um ein Beispiel zu nennen, es ist natürlich heute so, dass vor allem die Rolle der Frau im Mittelpunkt steht, also in einer liberalen Synagoge haben Frauen die Möglichkeit Rabbiner zu werden oder Rabbinerin zu werden, an allen Funktionen des Gottesdienstes teilzunehmen. Das gab es damals in den 20er, 30er Jahren eigentlich noch nicht, auch wenn es die erste Rabbinerin Mitte der 30er Jahre geben sollte, aber das war eine wirkliche Ausnahmeerscheinung, die auch keine eigene Gemeinde betreute und man muss eben dazusagen, Leo Baeck war eben wie viele seiner liberalen Kollegen in einer traditionellen Welt groß geworden, das heißt, er war mit all dem vertraut und hielt sich auch an viele Dinge, wie etwa die Speisegesetzte.
Heinemann: Heißt liberal auch, Herr Professor Brenner, dass Juden eben auch Staatsbürger sind und sich einmischen sollen?
Brenner: Ja, wobei man sagen muss, dass hier eigentlich liberal wirklich im religiösen Sinn gebraucht wird und ich glaube, das ist manchmal verwirrend. Auch die orthodoxen Juden haben - in Deutschland zumindest - seit dem Ende des 19. Jahrhunderts gesagt, wir sind auch deutsche Staatsbürger jüdischen Glaubens und auch wir dürfen uns und müssen uns einmischen und auch die orthodoxen Rabbiner in Deutschland haben normalerweise an deutschen Universitäten studiert und promoviert, waren, wie man das damals nannte, Doktor-Rabbiner.
Heinemann: Welche Bedeutung hatte die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums für die Juden?
Brenner: Die Hochschule für die Wissenschaft des Judentums war zusammen mit dem jüdisch-theologischen Seminar in Breslau und dem orthodoxen Hildesheimer Rabbinerseminar in Berlin eine der drei Rabbinerseminare in Deutschland. Es war eben die liberale Institution. Aber viele der dort amtierenden Professoren, wie auch Leo Baeck, kamen eben nicht unbedingt aus einem Hintergrund in dem sie mit der Orthodoxie im traditionellen Hintergrund nicht vertraut gewesen wären. Aber es war die wichtigste wissenschaftliche Einrichtung kann man doch sagen, in Berlin auf jeden Fall, nicht nur in der Rabbinerausbildung, sondern überhaupt in der Vermittlung jüdischer Lehren, übrigens hat auch Franz Kafka kurz vor seinem Tod dort Kurse besucht, sicher nicht um Rabbiner zu werden.
Heinemann: Wie hat denn die jüdische Orthodoxie auf Leo Baecks Liberalismus dort reagiert?
Brenner: Also er war ein Mann der Mitte und das hat sich dann 1933 gezeigt, als zum ersten Mal übrigens eine reichsweite Organisation der Juden in Deutschland gegründet wurde. Die "Reichsvereinigung der Juden in Deutschland" und sie, als sie einen Präsidenten suchten, Leo Baeck auserkoren haben.
Heinemann: Kann man sagen, dass die Fundamente des jüdischen Liberalismus in Berlin liegen?
Brenner: Zu einem gewissen Teil ist das sicherlich richtig für das frühe 20. Jahrhundert. Die Fundamente, wenn man ganz am Anfang in den Generationen vor Baeck nachsieht, liegen sicher auch wo anders, sicher auch in Hamburg, wo der erste Tempel mit Orgel war, oder in einer kleinen Stadt wie Seesen wo hier wirklich die erste moderne Synagoge sozusagen eingeweiht war. Das liegt weit in der Zeit vor Leo Beck. In der Zeit Leo Becks war Berlin das Zentrum des deutschen Judentums und ganz bestimmt auch des liberalen deutschen Judentums, zudem sich die Mehrheit damals rechnete.
Heinemann: Sie haben das Buch "Das Wesen des Judentums" angesprochen. Was sollten Christen, Moslems und andere Nicht-Juden heute unbedingt über das Judentum wissen?
Brenner: Ja keine leichte Frage, das so schnell zu beantworten, aber ich würde sagen, dass das Judentum eine Religion ist und vielleicht ist das das Wichtige, die eine - wie die andere Religionen natürlich genauso- eine große Vielfalt kennzeichnet. Wir haben es gerade angedeutet von Liberalen bis Orthodoxen und wenn sie einen Juden nach der Bedeutung oder nach dem Wesen des Judentums fragen, dann ist das nicht unbedingt etwas womit ein zweiter Jude übereinstimmt, also ich denke dieses auf den Kern bringen, wie Leo Baeck das vielleicht noch um 1900 versuchte, lässt sich doch heute sehr schwer machen. Man kann es natürlich so beantworten, in dem man sagt, man soll dem anderen nicht das antun, was man sich selbst nicht zugefügt haben möchte, also das sind klassische Antworten, aber die bleiben natürlich auch im gewissen Sinn auf einer trivialen Ebene, wenn man es so kurz fassen muss.
Heinemann: Kann man sich heute auf Leo Baeck berufen, wenn man die Politik Israels etwa gegenüber den Palästinensern kritisiert?
Brenner: Nein ich glaube nicht, Leo Baeck hierzu, weder für die Kritik, noch für die Legitimation zu benutzen, da müsste man glaube ich wirklich die Geschichte sehr stark verbiegen. Leo Baeck war jemand, der gesehen hat, es gibt die Notwendigkeit eines jüdischen Staates für einen Teil des jüdischen Volkes. Nicht in seiner Meinung nach für die deutschen Juden oder für die Mehrheit der deutschen Juden, sondern für die damals, vor 1933 bedrohten osteuropäischen Juden. Er war auch jemand, der dann selber nach seiner Befreiung aus dem KZ Theresienstadt ja nicht nach Palästina oder später Israel ging, sondern nach England, also er war in dem Sinn kein aktiver Zionist, aber ich denke, er hätte wahrscheinlich, wenn man da etwas sagen kann, durchaus als Grundtendenz natürlich Verständnis dafür, dass auch die Juden einen eigenen Staat brauchen.
Heinemann: Herr Professor Brenner, bei Meinungsverschiedenheiten, ich habe es eben gesagt, würdigte Leo Baeck die schönen Hemden seines Kontrahenten. Wem würde Leo Baeck heute ein solches modisches Äußeres bescheinigen?
Brenner: Ich denke, er würde vielleicht jene ins Auge fassen, die heute sehr selbstgerecht über andere urteilen und dabei manchmal ihre eigene Vergangenheit oder ihre eigene Rolle in der Vergangenheit so leicht vergessen.