Leopold Kazimirowitsch empfängt die Gäste im Matrosenhemd. Im Mundwinkel eine Papyrossi, die legendäre Sowjetzigarette mit flachem Pappfilter, die auch beim Reden gut im Mundwinkel sitzt. Früher war Leopold Kazimirowitsch Chef des sowjetischen Offizierskasinos in Eberswalde bei Berlin, in der DDR. Heute sei er ein "Clown", meint der breitschultrige Mann mit dem grauen Bürstenschnitt. Er führt Gäste ins Restaurant "Kommunalka" in Kischinau, der Hauptstadt der Republik Moldau:
"Unser Restaurant wurde so eingerichtet wie eine "Kommunalka". Eine russische Gemeinschaftswohnung, die sich sieben Familien geteilt haben. Jede bewohnte ein Zimmer. Küche und Klo wurden gemeinsam benutzt, jeder hatte natürlich eine eigene Klobrille. Wir haben alles sauberer und schöner nachgebaut, als es in der früheren Sowjetunion war."
Leninbüsten, Leninbände, große Matroschkas, bunte Holzlöffel, reihenweise alte Kinderbücher und ein funktionstüchtiges Grammophon sollen sowjetische Familiengemütlichkeit simulieren.
"In dieser Zeit löste man viele Familienprobleme mit Geschenken: mit Büchern, mit moldawischem Wein und russischem Konfekt."
Moldawien gehörte als zweitkleinstes Mitglied zur Familie der sozialistischen Sowjetrepubliken. Das kleine Land, nur halb so groß wie Bayern und mit keinen vier Millionen Einwohnern, galt als Garten und Weinberg der Sowjetunion. Bis August 1991, da erklärte sich die Republik Moldau für unabhängig und führte lateinische Schrift und eine eigene Fahne ein. Kyrillisch und Hammer wie Sichel hatten ausgedient. Während Deutschland, als erstes Land der Europäischen Union, eine Botschaft in der jungen Republik Moldau eröffnete, rächte sich Moskau an der abtrünnigen Sowjetrepublik bitter. Die Preise für russisches Öl und Gas schossen in die Höhe, moldawischer Wein wurde boykottiert und damit die Wirtschaft ruiniert.
Der einstige Garten der Sowjetunion verwilderte
Hinzu kam, dass die mehrheitlich Russisch sprechenden Bewohner am linken Ufer des Dnjestr in der untergehenden Sowjetunion bleiben wollten. Nach blutigen Kämpfen und mit russischer Hilfe erklärte sich die Provinz vor gut 20 Jahren zur Pridnestrowischen Moldauischen Republik, besser bekannt vielleicht unter dem Namen: Transnistrien. Ein schmaler Landstreifen an der Grenze zur Ukraine, mit gerade mal einer halben Million Bewohnern: Ukrainer, Moldauer, Rumänen und Russen, die sich noch heute vor allem als Sowjetbürger fühlen, wie Andrej Smolensky.
Auf der Autofahrt nach Tiralspol, gut eine Autostunde von Kischinau entfernt, besingt Andrej Smolensky seine Hauptstadt, die es offiziell gar nicht gibt. Am quirligen Andrej kommt kaum ein deutschsprachiger Fremder, von denen es ohnehin sehr wenige in Transnistrien gibt, vorbei:
"Ich bin der Direktor meiner eigenen Firma, die sich mit Tourismus beschäftigt und ich versuche den Leuten das schöne Gesicht meiner Heimat zu zeigen."
Dafür zieht Andrej alle Register. Er singt nicht nur, sondern spielt wahlweise Gitarre oder Knopfakkordeon, vorzugsweise russische Weisen. Andrej Smolensky sieht sich als Botschafter seines nicht anerkannten Landes:
"Natürlich gibt es viele Stereotypen und Klischees in Europa über Transnistrien. Und das ist genau meine Aufgabe diese Klischees und oft die Angst, nach Transnistrien zu kommen, den Europäern und auch anderen Menschen auf der ganzen Welt, diese Angst zu nehmen."
Rund 1.500 Mann bewachen den eingefrorenen Transnistrien-Konflikt
An der Grenze werden Ausländer akribisch kontrolliert, von jungen gut aussehenden Frauen und Männern in Uniformen des transnistrischen Geheimdienstes, der sich, wie der einst berüchtigte sowjetische Geheimdienst, KGB nennt. Kurz hinter der Grenze, vor der Brücke über den Dnjestr, wieder Uniformträger, diesmal russische Soldaten. Ein Posten der russischen Friedenstruppen, die sich seit gut zwei Jahrzehnten hier eingegraben haben. Rund 1500 Mann sollen insgesamt im Land stationiert sein. Sie bewachen den eingefrorenen Transnistrienkonflikt.
"Ohne Russland, selbstständig, kann Transnistrien nicht leben, nicht überleben, das ist nicht möglich."
Moskau zahlt einen Großteil des transnistrischen Staatshaushaltes, einen Teil der Renten sowie Sozialleistungen und liefert Öl wie Gas fast zum Nulltarif, obwohl der Ministaat mit umgerechnet knapp einer Milliarde Euro in russischer Schuld steht. Doch eine diplomatische Anerkennung oder gar eine Aufnahme in die Russische Föderation hat der Kreml Transnistrien bisher verweigert. Die Außenministerin des Phantomstaates, Nina Schtanski, versteht das Zögern Moskaus kaum, vor allem nachdem die Krim vor Kurzem wieder russisch geworden ist:
"Das verstehen auch viele Bürger von Transnistrien nicht, sie haben Moskau gebeten endlich in die Russische Föderation aufgenommen zu werden. Der russischen Führung liegt ein offizieller Antrag vor, unsere Bürger haben viele Unterschriften dafür gesammelt. Die Vereinigung der Krim mit Russland haben wir gefeiert, weil wir diesen Weg auch gehen wollen."
Die proeuropäische Entwicklung im Nachbarland Ukraine bereitet Unbehagen
Die attraktive Nina Schtanski, die gelegentlich als "Putins schönste Marionette" betitelt wird, hat in Moskau studiert und über den Transnistrienkonflikt promoviert. Ihre akademische Lösung des Problems ist so einfach wie klar: Transnistrien gehört zu Russland und nicht zu Moldau. Ihr Regierungschef, Jewgenij Schwetschuk, spricht von einer "zivilen Trennung" Transnistriens von Moldau, nach dem Vorbild der Tschechischen Republik und der Slowakei. Die proeuropäische Entwicklung im Nachbarland Ukraine bereitet Nina Schtanski Unbehagen:
"Lügengeschichten über Transnistrien haben Hochkonjunktur und werden vor allem von westlichen Medien verbreitet. Das zum Beispiel von Transnistrien für die Ukraine eine große Gefahr ausgehe und bewaffnete Truppen aufgestellt werden, um die Ukraine zu überfallen. Fakt ist jedoch, dass die neue ukrainische Regierung uns boykottiert und Bürger aus Transnistrien, das heißt, Männer zwischen 16 und 60 mit russischen Pässen, nicht in die Ukraine einreisen lässt."
Am Grenzübergang Perwomajskoje ist es ungewöhnlich still. Früher stauten sich hier die Lastwagen auf ihrer Fahrt in die ukrainische Hafenstadt Odessa – keine 100 km entfernt. Seit den Unruhen in Odessa mit Toten gibt es kaum noch großen oder kleinen Grenzverkehr. Gelangweilt beobachten sich die Grenzer gegenseitig durch ihre Ferngläser.
Auch der Taxifahrer am Grenzübergang langweilt sich. Rund 15 Kunden am Tag fuhr er in ruhigen Zeiten von der Grenze nach Kischinau:
Auch der Taxifahrer am Grenzübergang langweilt sich. Rund 15 Kunden am Tag fuhr er in ruhigen Zeiten von der Grenze nach Kischinau:
"Die ukrainische Seite verbreitet Lügen. Die Leute haben Angst, überhaupt über die Grenze zu kommen. Viele sind jetzt ohne Arbeit, vor allem die, die auf der ukrainischen Seite gearbeitet haben. Wir sind ein kleines Land und von unseren Nachbarn abhängig, egal, ob von der Ukraine oder von Moldau – beide bestimmen unser Leben - aber jetzt muss ich arbeiten, da kommen Kundinnen."
Ukrainische Unruhen sind auch in Tiraspol zu spüren
Die Unruhen und Kämpfe im Nachbarland Ukraine sind auch in Tiraspol zu spüren. Auf den Märkten gibt es keinen frischen Fisch aus Odessa, dafür mehr Obst, das sonst auf ukrainischen Märkten verkauft worden wäre. Wer Arbeit hat, verdient im Durchschnitt rund 3000 transnistrische Rubel, eine Währung, die nur in Transnistrien gilt und mit Verlust in eine andere Währung umgetauscht werden kann. Der monatliche Durchschnittsverdienst hat einen Gegenwert von 150 Euro. Der größte Markt von Tiralspol gehört dem Konzern "Sheriff", ebenso die Supermärkte, Tankstellen, die Brotfabrik, die Kognakdestille und das neue Stadion mit Luxushotel dazu. Ende der 1990er Jahre gründeten zwei Polizisten den Konzern. Der Name "Sheriff" und der gelbe Sheriffstern als Konzernlogo erinnern daran. In der 150 000 Seelen-Stadt Tiraspol gibt es keine Fast-Food-Kette aus Amerika, dafür "Andys Pizza" aus Moldau mit russischen Blini und Kwas, der sowjetischen Antwort auf Coca-Cola, und statt grellbunter Westwerbung sittsame Werbung für Dessous aus Weißrussland. Außerdem jede Menge Sowjetdevotionalien: Lenindenkmäler, Panzer aus dem Zweiten Weltkrieg, Sowjetsterne, Hammer und Sichel. Rund 70 Prozent der Exporte von Transnistrien gehen jedoch nicht nach Russland, sondern in die Europäische Union, vor allem Kognak, Wein, Waffen, Bettwäsche und Arbeitskräfte. Der unabhängige Politologe Sergej Schirokow, einst Berater der transnistrischen Regierung, meint:
"Wir befinden uns an der Grenze zweier Wirtschaftsmärkte: auf der einen Seite Europa, auf der anderen der GUS-Raum. Die Möglichkeiten für unsere Wirtschaftsentwicklung sind sehr, sehr gut. Jedoch ohne Zugang zum russischen Markt durch die Ukraine und ohne Zugang zum europäischen Markt durch die Republik Moldau wäre Transnistrien isoliert. Mit etwas gutem Willen in Moskau und in Brüssel könnten wir aus Transnistrien eine "kleine Schweiz" aufbauen. Wir haben eine kleine Bevölkerung, eine entwickelte Infrastruktur und wir haben Häfen in der Nähe. Unsere Menschen sind qualifizierte Arbeitskräfte. Kurz: Wir haben alles, nur haben wir davon nichts."
Auf der Rückfahrt von Tiraspol nach Kischinau schmettert Andrej Smolensky wieder alte russische Lieder. Der Botschafter seiner Heimat hat neben dem transnistrischen Pass noch zwei weitere, einen moldauischen und einen russischen. Er glaubt an ein anerkanntes Pridnestrowje, an diese verhinderte "kleine Schweiz", ohne Berge, ohne Seen, ohne Demokratie und ohne Neutralität.
Die moldauische Band "FurioSnails" klingt wie eine britische Band, in ihrem Video "Blue Passports" feiert sie mit vielen jungen Moldauern den blauen moldauischen Pass, überall auf der Welt, vor Big Ben, vor Pyramiden oder in einer bayrischen Bierstube.
Die Visapflicht für Moldauer ist seit Ende April durch die Europäische Union abgeschafft. Das gibt den proeuropäischen Parteien in der Republik Moldau Aufwind. Für den EU-Integrationsbeauftragten der Regierung in Kischinau, Eugen Carpow, der Russisch und Rumänisch spricht, ist die Visafreiheit erst der Anfang:
"Unsere Bürger können sich jetzt frei bewegen. Viele leben in EU-Ländern und sind seit zehn Jahren oder länger nicht zu Hause gewesen, weil sie Angst hatten nicht mehr ausreisen zu können. Mit Visum können sie ohne Angst und Einschränkungen hin und her reisen. Wenn sie Geld im Ausland gespart haben, können sie es bei uns investieren, ein Haus bauen oder Familienbetriebe gründen. Wir hoffen, dass die europäische Integration unseren Wohlstand vermehrt. Dafür brauchen wir hier Arbeit, die genauso gut bezahlt wird wie in den reicheren EU-Ländern."
Hunderttausende haben die Republik Moldau in den vergangenen Jahren verlassen
Hunderttausende Frauen und Männer haben die Republik Moldau in den vergangenen Jahren verlassen. Die Männer zog es in Richtung Osten, auf russische Baustellen, die Frauen in den Westen, in die Gastronomie. Ihre Kinder blieben meist bei den Großeltern. Sie sahen ihre Eltern oft jahrelang gar nicht oder nur über Skype. Sie bekamen Geld und Geschenke, statt Liebe und Aufmerksamkeit. Roma Procopie hatte Glück, seine Eltern hatten Arbeit in Moldau. Er wuchs behütet auf und weltoffen. Mit Anfang 20 gründete Roma seine Softwarefirma in Kischinau und blieb:
"Meine Kunden sind alle aus dem Westen, der Markt ist dort größer. Wir haben sie im Internet kontaktiert. Für Moldauer war es lange schwer, ins Ausland zu fahren, ein Visum zu bekommen, war unheimlich aufwendig. Jedenfalls, die Kunden fanden unsere Angebote im Internet gut, sie kamen hierher und mittlerweile fahre ich auch zu ihnen."
28 junge Leute arbeiten für Roma. Sie sitzen in einer alten Villa in der Innenstadt, mit Headsets in kleinen abgeteilten Sprechkabinen. Die meisten sind noch keine 30 Jahre alt. Mit umgerechnet bis zu 1500 Euro verdienen sie fast 10 Mal so viel wie der Durchschnitt der Moldauer.
"Von dem Geld, das ich verdiene, kann ich hier viel besser leben. Ich habe meine Familie, ich liebe es zu reisen - ich war in Amerika, Europa, nur in Asien war ich noch nicht, aber immer wieder will ich nach Hause zurück - wahrscheinlich liebe ich dieses Land."
Vlad Boloca will nicht nach Hause, er kommt nur gelegentlich nach Kischinau, um Freunde zu besuchen. Vlad ging nach Bukarest, der größten Stadt, in der seine Sprache gesprochen wird, Rumänisch. Seit 2013 offizielle Amtssprache der Republik Moldau. Natürlich spricht er auch Russisch:
"Moldau kann sich nicht mal selbst ernähren. Es gibt keine Industrie, kein Gesundheitswesen, kein Rechtssystem, es fehlt das Geld dafür. Wir brauchen eine Industrie und ein funktionierendes Steuersystem. Neben Wein haben wir auf jeden Fall Humankapital. Unsere Tragödie ist, dass wir gut ausgebildete Ingenieure haben, aber keine Unternehmen, in denen sie arbeiten könnten. Kurz: Moldau hat Piloten, aber keine Flugzeuge."
Sturz des damaligen Präsidenten
Vor fünf Jahren stürzte eine majdanähnliche Revolte den damaligen Präsidenten Vladimir Voronin. Der Kommunist hatte sich nach massiven Wahlfälschungen im Amt bestätigen lassen, doch kurz darauf stürmten Demonstranten das Parlament. Sie riefen "Freiheit" und "Europa". Die Wahlen wurden wiederholt und brachten eine proeuropäische Koalition an die Macht. Nach einigem Hin und Her wurde der heute 51-jährige Iurie Leanca Ministerpräsident. Er hält am proeuropäischen Kurs fest, obwohl es keine klare Mehrheit dafür gibt. In einer aktuellen Umfrage sprachen sich gerade mal 44 Prozent für die Annäherung an die Europäische Union aus. Die Eurasische Union des russischen Präsident Putin findet mehr Anhänger, wenn auch nur knapp.
In einem kleinen Büro im Zentrum von Kischinau sitzt Oazu Nantoi, Direktor des unabhängigen Instituts für Politikanalyse. Dass der Bürgerkrieg in der Ukraine übergreift und die Republik Moldau geteilt werden könnte, daran glaubt der erfahrene Politologe nicht:
"Derzeit beobachten wir eher eine "Transnistrisierung" der Ukraine. Russland annektierte die Krim und machte daraus eine autonome Republik. Moskau wiederholt jetzt im Osten der Ukraine, sein Vorgehen in Transnistrien vor 24 Jahren. Die zentrale Macht wird ausgehebelt und die Separatisten bekommen alle Mittel, Waffen, Geld und Logistik. Das heißt, nicht das ukrainische Szenario wird sich in Moldau wiederholen, sondern das russisch-moldauische Szenario in der Ukraine."
Doch wie in der Ukraine ringen Russland und die Europäische Union um Einfluss in der strategisch günstig gelegenen Republik Moldau. Viele Kräfte, die das kleine Land in verschiedene Richtungen zerren wollen. Der junge Moldauer Vlad meint:
"Moldau muss seinen eigenen Weg finden, mit Selbstbewusstsein. Moldau braucht kein Geld, sondern die Chance, es erarbeiten zu können, wir sind normale Menschen, die arbeiten wollen."