"Ich möchte die letzte Person, die zum Antrag sprechen möchte, zum Antrag PR 440 anzeigen, so die Hand hoch zu halten und zu zeigen, wer noch reden möchte. Phil, Du rennst, möchtest Du reden? Big Arne bewegt sich auch … oh Gott, die Schlange ist furchtbar lang, ich sehe euch nicht. Big Arne ist der letzte. Nach Big Arne darf sich keiner mehr anstellen."
Samstag Nachmittag, die Piraten diskutieren seit Stunden über ihre Wirtschaftspolitik. "Lücken des Grundsatzprogramms" – so ist die Tagesordnung überschrieben, darunter finden sich 111 einzelne Punkte. Und die Hoffnung ist gering, dass an diesem Wochenende tatsächlich alle Lücken geschlossen werden können: Denn es ist 16 Uhr und die wirtschaftspolitischen Grundsätze stehen ganz am Anfang der langen Tagesordnung.
"Ok. Olli, Du kannst Dich einfach vor Big Arne stellen. Ich weiß nicht, steht ihr davor oder dahinter? Wer ist der letzte? Big Arne. Alles klar. Die Redeliste ist geschlossen."
Knapp 1.800 Mitglieder sind in den Ruhrcongress nach Bochum gekommen, um Positionen zur sozialen Marktwirtschaft und postnationalen Außenpolitik zu bestimmen. Zeitumstellung und Beschneidung stehen ebenso zur Debatte. In vier Landesparlamenten sind die Piraten inzwischen vertreten, auch zur Bundestagswahl im nächsten Herbst wollen sie antreten. Höchste Zeit also, die vielen Lücken im Parteiprogramm zu schließen. Und so haben sich die Piraten auf ein langes Wochenende eingerichtet, sie haben ganze Kartons Capri Sonne und Beruhigungs-Lollies mitgebracht, in der Halle liegt der Duft von süßem Popcorn. Basisdemokratie kann dauern, hierzu Redebeiträge:
"Ich weiß nicht, was genau ich dazu sagen soll, ob ich diese Aneinanderreihung von Platituden, Phrasen und nichts aussagen wirklich ernst nehmen soll."
"Es kamen hier vorne auch schon Lieblingsfloskeln wie die Wirtschaft soll für den Menschen da sein, ich habe in der Vorbereitung der Wirtschaftsprogramme alle andern Programme gelesen. Dieser Satz taucht in der CDU, in der SPD, bei der Linken bei den Grünen und bei der FDP auf. Den brauchen wir nicht auch noch."
"Und auch die Piraten erfinden das Rad nicht neu. Und nur, weil die CDU einen Gerechtigkeitsbegriff auch in ihrem Parteiprogramm aufführt, ist es irre, dass wir sagen nein, das können wir nicht machen."
"Ich halte das Ding für komplett wertlos, im Wahlkampf einzusetzen, stellt Euch nur vor, ihr versucht, das, was da drin steht irgend jemanden am Stand zu erklären oder zu vermitteln, das funktioniert nicht"."
Über Twitter läuft die Meldung: "Wir brauchen ein Wirtschaftsprogramm, also gebt Gas." Derweil steht Big Arne weiter geduldig als letzter in der meterlangen Schlange vor dem Saalmikro. Der Mann mit dem grauen Pferdeschwanz ist tatsächlich groß, er überragt seine Vorredner um Kopfeslänge. Reden darf er am Ende trotzdem nicht. Einer von vielen Anträgen zur Geschäftsordnung lässt die Debatte nach 15 Wortmeldungen enden. Dabei ist noch gar nicht alles gesagt. Jedenfalls nicht von Big Arne, der mit ganzem Namen Arne Hattendorf heißt und bei der Landtagswahl in Niedersachsen als Direktkandidat antritt:
""Das ist natürlich ein bisschen schade, weil ich einer derjenigen gewesen bin, die tatsächlich noch einen neuen Aspekt ins Spiel gebracht hätten."
Stundenlange Diskussionen über jeden einzelnen Tagesordnungspunkt – dafür waren bislang die Grünen bekannt und auch berüchtigt. An diesem Wochenende werden diese Debatten in Bochum geführt.
"Das ist hier eine der größten Parteiveranstaltungen weltweit. Und jeder möchte gerne einen grundsätzlichen Beitrag für insgesamt 700 Anträge leisten."
30 Jahre nach Gründung der Grünen hat der Protest die Farbe gewechselt – T-Shirts und Schals, aber auch Anzüge und Krawatten leuchten bei diesem Parteitag in sattem Orange. Männer und deutlich weniger Frauen sitzen an den langen Tischreihen, umgeben von Laptops, Kabelnestern und Keksdosen. Nachdem die Piraten im vergangenen September mit fast neun Prozent ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt und auch in den Meinungsumfragen deutlich wahrgenommen wurden, waren auf einmal sie Deutschlands neue, junge Partei. Politikwissenschaftler Timo Grunden:
"Also als Politikwissenschaftler ist das ein total interessantes Studienobjekt, weil es auch viele Innovationen bei den Piraten gibt, wie man eben über Internetplattformen, innerparteiliche Entscheidungsprozesse versucht zu organisieren und mehr Beteiligungen der Mitglieder zu ermöglichen. Und es ist eben auch der spannende Weg, die digitale Welt mit der analogen zu verbinden."
Nicht nur der Politikwissenschaftler Timo Grunden, auch die Wähler begeisterten sich schnell für die unkonventionelle Bewegung. Kurz nach der Wahl in Berlin kamen die Piraten in den Meinungsumfragen bundesweit auf acht Prozent, im Frühjahr 2012 sogar auf 13 Prozent. Doch der Euphorie folgte die schnelle Ernüchterung: viel Streit und wenig Inhalt. Inzwischen liegt die Partei in den Umfragen bundesweit wieder bei vier bis fünf Prozent.
Trotzdem übten die Piraten Anfang September schon einmal den Ernstfall – den Einzug in den Bundestag. Thomas Küppers, Sozialpolitischer Sprecher:
"Herzlich Willkommen im Unperfekthaus in Essen und herzlich Willkommen zum Barcamp Bundestag!"
150 Piraten aus der ganzen Republik sind gekommen. Auf der Tagesordnung stehen Anspruch und Wirklichkeit. Denn da klafft eine Lücke, wie Christoph Lauer genervt feststellt. Der 28-Jährige führt die Fraktion der Piraten im Berliner Abgeordnetenhaus.
"Stellt Euch einfach mal die Frage, was wollt Ihr eigentlich wirklich von Eurem Abgeordneten in einem solchen Parlament. Was haltet Ihr für leistbar und was ist im Grunde genommen nice to have. Also soll ich z.B. den ganzen Tag vermitteln und Euch was erklären und lalala oder soll ich mir Gedanken darüber machen, wie ich das, was wir als Programm beschlossen haben, in möglichst konkrete Anträge packe und versuche, das ordentlich im Parlament zu spielen, damit in der Öffentlichkeit auch klar wird, ok, die Piraten stehen für etwas."
Seit die Partei im Berliner Abgeordnetenhaus vertreten ist, inzwischen sogar den Untersuchungsausschuss zum Berliner Flughafen leitet, bleibt nicht mehr viel Zeit, politische Entscheidungen rund um die Uhr mit der Basis zu verhandeln:
"Wenn ich morgens um acht oder neun anfange und dann abends bis 22, 23 Uhr noch auf n’em Stammtisch bin, funktioniert es nicht, so, das ist auch eine Realität, die man dann auch an dieser Stelle ansprechen muss, wenn es darum geht, welche Ansprüche habe ich."
Und die Ansprüche der Piraten sind hoch. Dazu Lauer:
"Der Punkt ist halt auch der, wir müssen ja als Abgeordnete in dem Moment, in dem wir dann in n’em Ausschuss sind abliefern."
Sie wollen nichts weniger als das System ändern, Basisdemokratie leben und Transparenz nicht nur predigen. Vor allem aber wollen sie anders sein als die anderen, die etablierten Parteien. Das war lange ihr Erfolgsrezept. Doch in der alltäglichen Landtagsarbeit zeigt sich, dass die anderen zwar vieles anders, aber nicht unbedingt falsch machen.
"Ein solches Parlament hat einen sehr, sehr knallharten Zeitplan. Da gibt es Sitzungswochen, in diesen Sitzungswochen tagen entweder die Ausschüsse und / oder das gesamte Plenum, in das die Dinge dann eingebracht werden. Und das Problem, was wir alle ausnahmslos im Fokus haben ist, dass natürlich ein gerüttelt Maß Piratenkreativität mit uns in den Landtag eingezogen ist, und dass wir irgendwo die Hierarchie befriedigen müssen, um uns den Spielraum auch in Zusammenarbeit mit der Partei zu erhalten."
Joachim Paul weiß, wovon er spricht. Der 56-jährige Biophysiker leitet seit Mai die Fraktion im Düsseldorfer Landtag. Er gilt als einer der einflussreichsten Piraten, auch wenn er das selbst nie behaupten würde. Der Schwarm steht nicht auf Egos. Doch im laufenden Politikgeschäft zeigt sich, dass der Schwarm auch Struktur braucht. Sonst bleiben die Piraten mit ihren Themen unerhört - bei der politischen Konkurrenz, vor allem aber bei den Wählern. Hinzu kommt: Viele Themenfelder hat die Partei gar nicht besetzt. Aus dieser Not macht der Bundesvorsitzende Bernd Schlömer auf dem Parteitag in Bochum eine Tugend:
"Wir dürfen auch Lücken lassen. Menschen werden sich für die Piraten-Partei entscheiden, nicht weil sie als Partei jedes Sachthema besetzt."
Wenn einer in der Partei in der Lage ist, die Partei vor sich selbst zu schützen, ihr die nötige Bodenhaftung zu geben, dann ist es der 41-Jährige:
"Wir wollen Politik machen, gute Politik. Es ist aber nicht nur gute Politik, die wir machen wollen, es ist auch an der Zeit, sich darauf zu besinnen, dass wir gemeinsam Politik machen wollen, ohne einander zu beschimpfen, zu missachten oder zu ignorieren."
Bei seiner Eröffnungsrede am Samstag wirkt er ganz entspannt, ganz bei sich. Ohne viele Gesten zu machen, steht er ruhig am Rednerpult und liest sein Manuskript vor. Er ist weit davon entfernt, sich in Rage zu reden, so wie es die Vorsitzenden anderer Parteien an dieser Stelle tun würden. Doch genauso weit ist er davon entfernt, den Saal für sich zu begeistern.
"Lassen wir also den Vortragsreisenden Steinbrück hinter uns, belächeln wir die solide Hausfrau Angela Merkel, grenzen wir uns positiv von der konservativen Protestantin Göring-Eckardt ab. Wir sind Piraten."
Die Piraten hören zu, wenn auch nebenbei. Mehr beschäftigt sie, dass die Internetverbindung noch immer nicht steht. "Wer hat WLAN?", fragen die ersten über Twitter.
Ihre Rückendeckung zeigen die Piraten dem Parteichef anders. Ganz unaufgeregt. Am späten Samstagnachmittag steht die Frage im Saal, ob der Vorstand wie geplant bis zur Bundestagswahl im Amt bleiben soll. Eine klare Antwort bekommt Bernd Schlömer schon nach wenigen Minuten. Ja: BuBernd, BundesBernd, soll bleiben und die anderen Vorstandsmitglieder mit ihm. Vergessen sind die Personalquerelen der vergangenen Wochen. Im Fokus steht jetzt ein Bundestags-Wahlkampf mit Mut zur Lücke. Bernd Schlömer meint:
"Ich wollte damit den Druck von der Partei nehmen. Es wird immer danach gefragt, haben Sie schon Positionen in der Finanzkrise in der Außen- und Sicherheitspolitik, wie stehen Sie zur Gesundheitspolitik. Es werden viele, viele Fragen gestellt. Ich glaube, dass die Piraten-Partei nicht gewählt wird, weil wir zu jedem Sachthema eine Lösung haben, sondern dass die Piraten-Partei gewählt wird, weil sich viele Menschen in diesem Land in ihrer Werteorientierung in ihrer Geisteshaltung mit den Ideen der Piratenpartei grundsätzlich in Übereinstimmung zeigen."
In den ersten Monaten konnte die junge Partei noch damit punkten, wenn ihre Vertreter offen und ehrlich zugaben, keinen Plan zu haben, Zeit für Antworten zu brauchen. Viele Wähler konnten sich damit identifizieren. Doch die Zeit läuft den Piraten davon. Längst fordern nicht nur Journalisten Positionen zu Euro-Krise und Renten-Sicherheit – auch die Wähler. Mit diesen Erwartungen haben die Parteimitglieder in Bochum zu kämpfen, zeigt eine Umfrage:
"Bevor man Unsinn erzählt, sagt man lieber gar nichts, wie es so schön heißt, einfach mal die Fresse halten."
"Ohne Wirtschaftspolitik können wir nicht auf der großen Bühne der Politik bestehen, und da müssen wir 'ne Meinung dazu haben, wo wir keine Meinung unbedingt brauchen ist zum Beispiel der Tierschutz."
"Außenpolitik halte ich für eine wichtige Sache, wir können also zum Beispiel nicht schweigen zu Vorgängen, wie sie im Moment zum Beispiel in Syrien stattfinden."
"Meine persönliche Meinung ist, dass die Piratenpartei sich insofern pro-europäisch positionieren sollte und nationale Parlamente zurückbaut, und mehr Kompetenzen auf die europäische Ebene verlegt. Ich bin mir gar nicht sicher, ob die Lücken wirklich geschlossen werden müssen, weil ich denke, in einem Bundestag gibt es auch andere Parteien und andere Menschen, die sich mit einbringen können. Und man sollte für das Land und für die Menschen Entscheidungen gemeinsam treffen."
Meinung aber braucht Zeit. Das ist die Lehre von Bochum. Am Sonntagnachmittag sind Beschlüsse zu Wirtschaftspolitik, Gesundheit und Umweltpolitik gefasst. Vieles aber verliert sich im Vagen. Vor der Bundestagswahl wird es einen weiteren Parteitag geben müssen, möglicherweise im Mai oder im Netz. Denn einige Piraten sind bereit für ein Experiment: Sie wollen den nächsten Parteitag ins Internet verlegen.
"Online-Parteitage sind rechtlich möglich. Und das ist vom Bundestag geprüft worden, und das würde uns die effizienteste Arbeitsweise aller Parteien in Deutschland geben."
Effizenz – angesichts der chronischen Geldnot eine gute Idee. Doch nicht alle Piraten sind von ihr begeistert:
"Die technischen Möglichkeiten sind einfach noch nicht ausreichend."
"Die Sache ist ja, dass das schon einen hohen Stellenwert hat und dass das auch wichtig ist, dass die Leute sich gegenseitig kennen lernen."
"Das Socializing ist schon wichtig, allerdings finde ich das jetzt bundesweit nicht wertvoller als lokal."
"Ich finde die SMV schlecht, weil liquid feedback mit delegated voting arbeitet."
"Wir sind ja in der Experimentierphase, und ich denke, dass das auch so was ist, das man ausprobieren sollte."
Keine Angst vor Technik, dafür sind die Piraten bekannt. Auch wenn auf die Technik nicht immer Verlass ist – so wie an diesem Wochenende. Denn anders als sonst musste die Partei über viele Stunden offline tagen, weil das Internet ständig zusammenbrach. Dabei gehören Online-Sitzungen zum piratischen Selbstverständnis. Ihre Fraktionssitzungen in den Landtagen lassen sich allesamt per Stream über das Internet verfolgen – so wie am vergangenen Dienstag in Düsseldorf:
"Wie immer sind alle pünktlich erschienen. Der Stream läuft auch, denke ich. Dann auch einen schönen guten Morgen lieber Stream!"
Pünktlich um 10.00Uhr beginnt die Fraktionssitzung.
"Da seh ich jetzt den Änderungsantrag zum Nichtraucherschutzgesetz…"
Die kleine Kamera verfolgt, wie die zwanzig Abgeordneten der NRW-Piraten im Sitzungssaal an ihren Kaffeebechern nippen. Auf der Tagesordnung stehen öffentlicher Personennahverkehr, das Mittelstands-Förderungsgesetz und der Haushalt 2013. Seit Mai sitzen die Piraten im Düsseldorfer Landtag. Ziemlich unverhofft. Bei den Neulingen brennt abends immer am längsten das Licht, so ist aus den anderen Fraktionen zu hören. Anerkennung schwingt da mit.
Doch statt mit ihren Themen machen die Piraten auch in Nordrhein-Westfalen vor allem mit Streit und Twitter-Kommentaren von sich reden. Erst in der vergangenen Woche sorgte Dietmar Schulz für einen Eklat. Am Volkstrauertag stellte der 52-jährige Jurist das Gedenken an den Holocaust in einen Zusammenhang zum Militärangriff Israels gegen die Hamas. Die Parlamentarische Geschäftsführerin Monika Pieper kommt bei der Fraktionssitzung gleich zur Sache:
"Ich würde das einfach ganz klar und deutlich sagen, dass das so nicht gemeint war. Und wenn das missverständlich war, würde ich mich dafür entschuldigen. Punkt aus Ende."
Dietmar Schulz schaut erst auf den Tisch, dann in die Luft, klaubt Worte:
"Die Entschuldigung, die hier eingefordert worden ist, um es mal ganz klar zu sagen, ist vollkommener Unsinn, ich kann mich nicht dafür ent-schuldigen, entschuldigen können mich nur diejenigen, die sich möglicherweise von dem Inhalt dieses Tweets berührt oder gar verletzt fühlen. Ich habe um Entschuldigung gebeten. ...Mehr kann ich nicht tun. Ich kann mich nicht dafür entschuldigen, ich kann mein Bedauern zum Ausdruck bringen und kann sagen, das ist Scheiße, ja, das kann ich tun, aber ich kann mich nicht entschuldigen."
Seine Fraktionskollegen verfolgen seine Ausführungen mit zusammengezogenen Augenbrauen und verschränkten Armen, Kai Schmalenbach:
"Dietmar, das ist eine Kritik, die ich an Dir schon mehrfach geäußert habe. Dein Geschwurbel geht mir einfach fürchterlich auf den Sack an der Stelle. Und so Leid es mir tut, an der Stelle ist es auch echt das, was wir nicht sein wollen."
Pressesprecher Ingo Schneider wird nervös:
"Ich möchte darauf hinweisen, dass wir nach wie vor öffentlich sind, dass zahlreiche Medien uns zuschauen und bis jetzt viel Material erfahren haben, mit dem sie uns zitieren können."
Irritiertes Schweigen. Nach kurzer Diskussion wird der Live-Stream gekappt, die Presse aus dem Raum gebeten. Die folgende Aussprache wollen die Piraten dann doch lieber unter sich führen. Mit klaren Worten des Fraktionschefs Joachim Paul:
"Der einzelne Abgeordnete, das ist auch mein innerer Appell an die Fraktion, der auch gehört worden ist, entscheidet selbst womit er politisch als handelnde politische Person identifiziert werden möchte, das ist im Normalfall sein Thema. Und dass es da am Anfang ein bisschen, ich sag mal, Verwerfungen und Reibungen gibt, die aus dieser offenen Internet-Kultur heraus kommen, leuchtet mir eigentlich ein. Wir wollen diese Kultur ja auch ein klein wenig in das Parlament hinein tragen und damit müssen wir umgehen. Sonst können wir nichts verändern in diesem Land."
Inzwischen haben sie gelernt, dass zu viel Transparenz mehr schadet als nutzt. Zumal sich der Partei auch einige schillernde Persönlichkeiten mit erhöhtem Mitteilungsbedürfnis angeschlossen haben. Für Politikwissenschaftler Timo Grunden ein bekanntes Phänomen:
"Man stellt jetzt eben fest, es sind sehr heterogene Mitglieder, die ganz verschiedene Vorstellungen haben, was Piratenpolitik sein soll. Eine junge erfolgreiche Partei lockt auch immer Soziopathen an, die schon in anderen Parteien aktiv waren, dort nichts geworden sind, Intriganten usw. Das ist ganz natürlich, das gab es bei den Grünen, das gab es bei den Linken. Und jetzt muss man sehen, wie man damit fertig wird, das sind Kinderkrankheiten, wenn Sie so wollen, einer jungen, erfolgreichen Partei. Aber an Kinderkrankheiten kann man auch sterben."
Von Todesangst aber ist auf dem Parteitag in Bochum nichts zu spüren.
"Wir haben gezeigt, dass wir weder eine neue FDP sind, auch nicht die Grünen 2.0 und auch keine Linkspartei mit Internetanschluss, sonder eine Partei, die eigenständige Impulse setzt und die beweist, individuelle Freiheit und gesellschaftliche Solidarität sind kein Widerspruch sondern für uns sind das Werte, die sich gegenseitig verstärken und ergänzen."
Die Tüte mit den Spekulatius wird von einer Hand in die nächste gereicht, die Piraten flechten sich gegenseitig Zöpfe und wer eine politische Auszeit braucht, legt auf dem Laptop eine Patience. Die Piraten sind gekommen,um zu bleiben, zeigt eine Umfrage:
""Selbstverständlich. Klar, wir sind 'ne weltweite Bewegung."
"Das wird zunehmen."
"Wir brauchen andere Parteien, und dafür steht die Piraten-Partei mit neuen Konzepten, wenn die auch im Moment noch nicht ganz ausgewogen sind aber heute arbeiten wir daran und auch morgen, dass wir ausgewogen werden. Das ist einfach 'ne Bewegung, die nicht kurzfristig ist. Das sieht man. Es geht nicht darum, ob wir im Parlament sind oder nicht, wir werden gebraucht"
"Es gibt uns schon fünf Jahre, da schaffen wir noch fünf Jahre."
Für viele von ihnen kam die Partei genau zum richtigen Zeitpunkt, wie für Big Arne zum Beispiel, den starken Mann aus Niedersachsen:
"Ich behaupte mal, ich habe nur auf die Piraten gewartet."
Er wird in Wolfenbüttel dafür kämpfen, dass die Piraten im Januar in den fünften Landtag einziehen. Er sieht die Partei in Niedersachen bei 4,5 bis 6 Prozent – doch das ist nur seine ganze persönliche Prognose. Die Demoskopen sind bislang weniger optimistisch. In Bochum jedenfalls haben die Piraten gezeigt, dass sie gewillt sind, politische Verantwortung zu übernehmen. Chaos-Momente nicht ausgeschlossen, so Big Arne:
"Manche Leute haben in uns so die neuen Wundertäter oder Heilsbringer gesehen. Aber seien wir doch mal ganz ehrlich, in der Piraten-Partei ist auch nicht immer alles ganz toll."
Samstag Nachmittag, die Piraten diskutieren seit Stunden über ihre Wirtschaftspolitik. "Lücken des Grundsatzprogramms" – so ist die Tagesordnung überschrieben, darunter finden sich 111 einzelne Punkte. Und die Hoffnung ist gering, dass an diesem Wochenende tatsächlich alle Lücken geschlossen werden können: Denn es ist 16 Uhr und die wirtschaftspolitischen Grundsätze stehen ganz am Anfang der langen Tagesordnung.
"Ok. Olli, Du kannst Dich einfach vor Big Arne stellen. Ich weiß nicht, steht ihr davor oder dahinter? Wer ist der letzte? Big Arne. Alles klar. Die Redeliste ist geschlossen."
Knapp 1.800 Mitglieder sind in den Ruhrcongress nach Bochum gekommen, um Positionen zur sozialen Marktwirtschaft und postnationalen Außenpolitik zu bestimmen. Zeitumstellung und Beschneidung stehen ebenso zur Debatte. In vier Landesparlamenten sind die Piraten inzwischen vertreten, auch zur Bundestagswahl im nächsten Herbst wollen sie antreten. Höchste Zeit also, die vielen Lücken im Parteiprogramm zu schließen. Und so haben sich die Piraten auf ein langes Wochenende eingerichtet, sie haben ganze Kartons Capri Sonne und Beruhigungs-Lollies mitgebracht, in der Halle liegt der Duft von süßem Popcorn. Basisdemokratie kann dauern, hierzu Redebeiträge:
"Ich weiß nicht, was genau ich dazu sagen soll, ob ich diese Aneinanderreihung von Platituden, Phrasen und nichts aussagen wirklich ernst nehmen soll."
"Es kamen hier vorne auch schon Lieblingsfloskeln wie die Wirtschaft soll für den Menschen da sein, ich habe in der Vorbereitung der Wirtschaftsprogramme alle andern Programme gelesen. Dieser Satz taucht in der CDU, in der SPD, bei der Linken bei den Grünen und bei der FDP auf. Den brauchen wir nicht auch noch."
"Und auch die Piraten erfinden das Rad nicht neu. Und nur, weil die CDU einen Gerechtigkeitsbegriff auch in ihrem Parteiprogramm aufführt, ist es irre, dass wir sagen nein, das können wir nicht machen."
"Ich halte das Ding für komplett wertlos, im Wahlkampf einzusetzen, stellt Euch nur vor, ihr versucht, das, was da drin steht irgend jemanden am Stand zu erklären oder zu vermitteln, das funktioniert nicht"."
Über Twitter läuft die Meldung: "Wir brauchen ein Wirtschaftsprogramm, also gebt Gas." Derweil steht Big Arne weiter geduldig als letzter in der meterlangen Schlange vor dem Saalmikro. Der Mann mit dem grauen Pferdeschwanz ist tatsächlich groß, er überragt seine Vorredner um Kopfeslänge. Reden darf er am Ende trotzdem nicht. Einer von vielen Anträgen zur Geschäftsordnung lässt die Debatte nach 15 Wortmeldungen enden. Dabei ist noch gar nicht alles gesagt. Jedenfalls nicht von Big Arne, der mit ganzem Namen Arne Hattendorf heißt und bei der Landtagswahl in Niedersachsen als Direktkandidat antritt:
""Das ist natürlich ein bisschen schade, weil ich einer derjenigen gewesen bin, die tatsächlich noch einen neuen Aspekt ins Spiel gebracht hätten."
Stundenlange Diskussionen über jeden einzelnen Tagesordnungspunkt – dafür waren bislang die Grünen bekannt und auch berüchtigt. An diesem Wochenende werden diese Debatten in Bochum geführt.
"Das ist hier eine der größten Parteiveranstaltungen weltweit. Und jeder möchte gerne einen grundsätzlichen Beitrag für insgesamt 700 Anträge leisten."
30 Jahre nach Gründung der Grünen hat der Protest die Farbe gewechselt – T-Shirts und Schals, aber auch Anzüge und Krawatten leuchten bei diesem Parteitag in sattem Orange. Männer und deutlich weniger Frauen sitzen an den langen Tischreihen, umgeben von Laptops, Kabelnestern und Keksdosen. Nachdem die Piraten im vergangenen September mit fast neun Prozent ins Berliner Abgeordnetenhaus gewählt und auch in den Meinungsumfragen deutlich wahrgenommen wurden, waren auf einmal sie Deutschlands neue, junge Partei. Politikwissenschaftler Timo Grunden:
"Also als Politikwissenschaftler ist das ein total interessantes Studienobjekt, weil es auch viele Innovationen bei den Piraten gibt, wie man eben über Internetplattformen, innerparteiliche Entscheidungsprozesse versucht zu organisieren und mehr Beteiligungen der Mitglieder zu ermöglichen. Und es ist eben auch der spannende Weg, die digitale Welt mit der analogen zu verbinden."
Nicht nur der Politikwissenschaftler Timo Grunden, auch die Wähler begeisterten sich schnell für die unkonventionelle Bewegung. Kurz nach der Wahl in Berlin kamen die Piraten in den Meinungsumfragen bundesweit auf acht Prozent, im Frühjahr 2012 sogar auf 13 Prozent. Doch der Euphorie folgte die schnelle Ernüchterung: viel Streit und wenig Inhalt. Inzwischen liegt die Partei in den Umfragen bundesweit wieder bei vier bis fünf Prozent.
Trotzdem übten die Piraten Anfang September schon einmal den Ernstfall – den Einzug in den Bundestag. Thomas Küppers, Sozialpolitischer Sprecher:
"Herzlich Willkommen im Unperfekthaus in Essen und herzlich Willkommen zum Barcamp Bundestag!"
150 Piraten aus der ganzen Republik sind gekommen. Auf der Tagesordnung stehen Anspruch und Wirklichkeit. Denn da klafft eine Lücke, wie Christoph Lauer genervt feststellt. Der 28-Jährige führt die Fraktion der Piraten im Berliner Abgeordnetenhaus.
"Stellt Euch einfach mal die Frage, was wollt Ihr eigentlich wirklich von Eurem Abgeordneten in einem solchen Parlament. Was haltet Ihr für leistbar und was ist im Grunde genommen nice to have. Also soll ich z.B. den ganzen Tag vermitteln und Euch was erklären und lalala oder soll ich mir Gedanken darüber machen, wie ich das, was wir als Programm beschlossen haben, in möglichst konkrete Anträge packe und versuche, das ordentlich im Parlament zu spielen, damit in der Öffentlichkeit auch klar wird, ok, die Piraten stehen für etwas."
Seit die Partei im Berliner Abgeordnetenhaus vertreten ist, inzwischen sogar den Untersuchungsausschuss zum Berliner Flughafen leitet, bleibt nicht mehr viel Zeit, politische Entscheidungen rund um die Uhr mit der Basis zu verhandeln:
"Wenn ich morgens um acht oder neun anfange und dann abends bis 22, 23 Uhr noch auf n’em Stammtisch bin, funktioniert es nicht, so, das ist auch eine Realität, die man dann auch an dieser Stelle ansprechen muss, wenn es darum geht, welche Ansprüche habe ich."
Und die Ansprüche der Piraten sind hoch. Dazu Lauer:
"Der Punkt ist halt auch der, wir müssen ja als Abgeordnete in dem Moment, in dem wir dann in n’em Ausschuss sind abliefern."
Sie wollen nichts weniger als das System ändern, Basisdemokratie leben und Transparenz nicht nur predigen. Vor allem aber wollen sie anders sein als die anderen, die etablierten Parteien. Das war lange ihr Erfolgsrezept. Doch in der alltäglichen Landtagsarbeit zeigt sich, dass die anderen zwar vieles anders, aber nicht unbedingt falsch machen.
"Ein solches Parlament hat einen sehr, sehr knallharten Zeitplan. Da gibt es Sitzungswochen, in diesen Sitzungswochen tagen entweder die Ausschüsse und / oder das gesamte Plenum, in das die Dinge dann eingebracht werden. Und das Problem, was wir alle ausnahmslos im Fokus haben ist, dass natürlich ein gerüttelt Maß Piratenkreativität mit uns in den Landtag eingezogen ist, und dass wir irgendwo die Hierarchie befriedigen müssen, um uns den Spielraum auch in Zusammenarbeit mit der Partei zu erhalten."
Joachim Paul weiß, wovon er spricht. Der 56-jährige Biophysiker leitet seit Mai die Fraktion im Düsseldorfer Landtag. Er gilt als einer der einflussreichsten Piraten, auch wenn er das selbst nie behaupten würde. Der Schwarm steht nicht auf Egos. Doch im laufenden Politikgeschäft zeigt sich, dass der Schwarm auch Struktur braucht. Sonst bleiben die Piraten mit ihren Themen unerhört - bei der politischen Konkurrenz, vor allem aber bei den Wählern. Hinzu kommt: Viele Themenfelder hat die Partei gar nicht besetzt. Aus dieser Not macht der Bundesvorsitzende Bernd Schlömer auf dem Parteitag in Bochum eine Tugend:
"Wir dürfen auch Lücken lassen. Menschen werden sich für die Piraten-Partei entscheiden, nicht weil sie als Partei jedes Sachthema besetzt."
Wenn einer in der Partei in der Lage ist, die Partei vor sich selbst zu schützen, ihr die nötige Bodenhaftung zu geben, dann ist es der 41-Jährige:
"Wir wollen Politik machen, gute Politik. Es ist aber nicht nur gute Politik, die wir machen wollen, es ist auch an der Zeit, sich darauf zu besinnen, dass wir gemeinsam Politik machen wollen, ohne einander zu beschimpfen, zu missachten oder zu ignorieren."
Bei seiner Eröffnungsrede am Samstag wirkt er ganz entspannt, ganz bei sich. Ohne viele Gesten zu machen, steht er ruhig am Rednerpult und liest sein Manuskript vor. Er ist weit davon entfernt, sich in Rage zu reden, so wie es die Vorsitzenden anderer Parteien an dieser Stelle tun würden. Doch genauso weit ist er davon entfernt, den Saal für sich zu begeistern.
"Lassen wir also den Vortragsreisenden Steinbrück hinter uns, belächeln wir die solide Hausfrau Angela Merkel, grenzen wir uns positiv von der konservativen Protestantin Göring-Eckardt ab. Wir sind Piraten."
Die Piraten hören zu, wenn auch nebenbei. Mehr beschäftigt sie, dass die Internetverbindung noch immer nicht steht. "Wer hat WLAN?", fragen die ersten über Twitter.
Ihre Rückendeckung zeigen die Piraten dem Parteichef anders. Ganz unaufgeregt. Am späten Samstagnachmittag steht die Frage im Saal, ob der Vorstand wie geplant bis zur Bundestagswahl im Amt bleiben soll. Eine klare Antwort bekommt Bernd Schlömer schon nach wenigen Minuten. Ja: BuBernd, BundesBernd, soll bleiben und die anderen Vorstandsmitglieder mit ihm. Vergessen sind die Personalquerelen der vergangenen Wochen. Im Fokus steht jetzt ein Bundestags-Wahlkampf mit Mut zur Lücke. Bernd Schlömer meint:
"Ich wollte damit den Druck von der Partei nehmen. Es wird immer danach gefragt, haben Sie schon Positionen in der Finanzkrise in der Außen- und Sicherheitspolitik, wie stehen Sie zur Gesundheitspolitik. Es werden viele, viele Fragen gestellt. Ich glaube, dass die Piraten-Partei nicht gewählt wird, weil wir zu jedem Sachthema eine Lösung haben, sondern dass die Piraten-Partei gewählt wird, weil sich viele Menschen in diesem Land in ihrer Werteorientierung in ihrer Geisteshaltung mit den Ideen der Piratenpartei grundsätzlich in Übereinstimmung zeigen."
In den ersten Monaten konnte die junge Partei noch damit punkten, wenn ihre Vertreter offen und ehrlich zugaben, keinen Plan zu haben, Zeit für Antworten zu brauchen. Viele Wähler konnten sich damit identifizieren. Doch die Zeit läuft den Piraten davon. Längst fordern nicht nur Journalisten Positionen zu Euro-Krise und Renten-Sicherheit – auch die Wähler. Mit diesen Erwartungen haben die Parteimitglieder in Bochum zu kämpfen, zeigt eine Umfrage:
"Bevor man Unsinn erzählt, sagt man lieber gar nichts, wie es so schön heißt, einfach mal die Fresse halten."
"Ohne Wirtschaftspolitik können wir nicht auf der großen Bühne der Politik bestehen, und da müssen wir 'ne Meinung dazu haben, wo wir keine Meinung unbedingt brauchen ist zum Beispiel der Tierschutz."
"Außenpolitik halte ich für eine wichtige Sache, wir können also zum Beispiel nicht schweigen zu Vorgängen, wie sie im Moment zum Beispiel in Syrien stattfinden."
"Meine persönliche Meinung ist, dass die Piratenpartei sich insofern pro-europäisch positionieren sollte und nationale Parlamente zurückbaut, und mehr Kompetenzen auf die europäische Ebene verlegt. Ich bin mir gar nicht sicher, ob die Lücken wirklich geschlossen werden müssen, weil ich denke, in einem Bundestag gibt es auch andere Parteien und andere Menschen, die sich mit einbringen können. Und man sollte für das Land und für die Menschen Entscheidungen gemeinsam treffen."
Meinung aber braucht Zeit. Das ist die Lehre von Bochum. Am Sonntagnachmittag sind Beschlüsse zu Wirtschaftspolitik, Gesundheit und Umweltpolitik gefasst. Vieles aber verliert sich im Vagen. Vor der Bundestagswahl wird es einen weiteren Parteitag geben müssen, möglicherweise im Mai oder im Netz. Denn einige Piraten sind bereit für ein Experiment: Sie wollen den nächsten Parteitag ins Internet verlegen.
"Online-Parteitage sind rechtlich möglich. Und das ist vom Bundestag geprüft worden, und das würde uns die effizienteste Arbeitsweise aller Parteien in Deutschland geben."
Effizenz – angesichts der chronischen Geldnot eine gute Idee. Doch nicht alle Piraten sind von ihr begeistert:
"Die technischen Möglichkeiten sind einfach noch nicht ausreichend."
"Die Sache ist ja, dass das schon einen hohen Stellenwert hat und dass das auch wichtig ist, dass die Leute sich gegenseitig kennen lernen."
"Das Socializing ist schon wichtig, allerdings finde ich das jetzt bundesweit nicht wertvoller als lokal."
"Ich finde die SMV schlecht, weil liquid feedback mit delegated voting arbeitet."
"Wir sind ja in der Experimentierphase, und ich denke, dass das auch so was ist, das man ausprobieren sollte."
Keine Angst vor Technik, dafür sind die Piraten bekannt. Auch wenn auf die Technik nicht immer Verlass ist – so wie an diesem Wochenende. Denn anders als sonst musste die Partei über viele Stunden offline tagen, weil das Internet ständig zusammenbrach. Dabei gehören Online-Sitzungen zum piratischen Selbstverständnis. Ihre Fraktionssitzungen in den Landtagen lassen sich allesamt per Stream über das Internet verfolgen – so wie am vergangenen Dienstag in Düsseldorf:
"Wie immer sind alle pünktlich erschienen. Der Stream läuft auch, denke ich. Dann auch einen schönen guten Morgen lieber Stream!"
Pünktlich um 10.00Uhr beginnt die Fraktionssitzung.
"Da seh ich jetzt den Änderungsantrag zum Nichtraucherschutzgesetz…"
Die kleine Kamera verfolgt, wie die zwanzig Abgeordneten der NRW-Piraten im Sitzungssaal an ihren Kaffeebechern nippen. Auf der Tagesordnung stehen öffentlicher Personennahverkehr, das Mittelstands-Förderungsgesetz und der Haushalt 2013. Seit Mai sitzen die Piraten im Düsseldorfer Landtag. Ziemlich unverhofft. Bei den Neulingen brennt abends immer am längsten das Licht, so ist aus den anderen Fraktionen zu hören. Anerkennung schwingt da mit.
Doch statt mit ihren Themen machen die Piraten auch in Nordrhein-Westfalen vor allem mit Streit und Twitter-Kommentaren von sich reden. Erst in der vergangenen Woche sorgte Dietmar Schulz für einen Eklat. Am Volkstrauertag stellte der 52-jährige Jurist das Gedenken an den Holocaust in einen Zusammenhang zum Militärangriff Israels gegen die Hamas. Die Parlamentarische Geschäftsführerin Monika Pieper kommt bei der Fraktionssitzung gleich zur Sache:
"Ich würde das einfach ganz klar und deutlich sagen, dass das so nicht gemeint war. Und wenn das missverständlich war, würde ich mich dafür entschuldigen. Punkt aus Ende."
Dietmar Schulz schaut erst auf den Tisch, dann in die Luft, klaubt Worte:
"Die Entschuldigung, die hier eingefordert worden ist, um es mal ganz klar zu sagen, ist vollkommener Unsinn, ich kann mich nicht dafür ent-schuldigen, entschuldigen können mich nur diejenigen, die sich möglicherweise von dem Inhalt dieses Tweets berührt oder gar verletzt fühlen. Ich habe um Entschuldigung gebeten. ...Mehr kann ich nicht tun. Ich kann mich nicht dafür entschuldigen, ich kann mein Bedauern zum Ausdruck bringen und kann sagen, das ist Scheiße, ja, das kann ich tun, aber ich kann mich nicht entschuldigen."
Seine Fraktionskollegen verfolgen seine Ausführungen mit zusammengezogenen Augenbrauen und verschränkten Armen, Kai Schmalenbach:
"Dietmar, das ist eine Kritik, die ich an Dir schon mehrfach geäußert habe. Dein Geschwurbel geht mir einfach fürchterlich auf den Sack an der Stelle. Und so Leid es mir tut, an der Stelle ist es auch echt das, was wir nicht sein wollen."
Pressesprecher Ingo Schneider wird nervös:
"Ich möchte darauf hinweisen, dass wir nach wie vor öffentlich sind, dass zahlreiche Medien uns zuschauen und bis jetzt viel Material erfahren haben, mit dem sie uns zitieren können."
Irritiertes Schweigen. Nach kurzer Diskussion wird der Live-Stream gekappt, die Presse aus dem Raum gebeten. Die folgende Aussprache wollen die Piraten dann doch lieber unter sich führen. Mit klaren Worten des Fraktionschefs Joachim Paul:
"Der einzelne Abgeordnete, das ist auch mein innerer Appell an die Fraktion, der auch gehört worden ist, entscheidet selbst womit er politisch als handelnde politische Person identifiziert werden möchte, das ist im Normalfall sein Thema. Und dass es da am Anfang ein bisschen, ich sag mal, Verwerfungen und Reibungen gibt, die aus dieser offenen Internet-Kultur heraus kommen, leuchtet mir eigentlich ein. Wir wollen diese Kultur ja auch ein klein wenig in das Parlament hinein tragen und damit müssen wir umgehen. Sonst können wir nichts verändern in diesem Land."
Inzwischen haben sie gelernt, dass zu viel Transparenz mehr schadet als nutzt. Zumal sich der Partei auch einige schillernde Persönlichkeiten mit erhöhtem Mitteilungsbedürfnis angeschlossen haben. Für Politikwissenschaftler Timo Grunden ein bekanntes Phänomen:
"Man stellt jetzt eben fest, es sind sehr heterogene Mitglieder, die ganz verschiedene Vorstellungen haben, was Piratenpolitik sein soll. Eine junge erfolgreiche Partei lockt auch immer Soziopathen an, die schon in anderen Parteien aktiv waren, dort nichts geworden sind, Intriganten usw. Das ist ganz natürlich, das gab es bei den Grünen, das gab es bei den Linken. Und jetzt muss man sehen, wie man damit fertig wird, das sind Kinderkrankheiten, wenn Sie so wollen, einer jungen, erfolgreichen Partei. Aber an Kinderkrankheiten kann man auch sterben."
Von Todesangst aber ist auf dem Parteitag in Bochum nichts zu spüren.
"Wir haben gezeigt, dass wir weder eine neue FDP sind, auch nicht die Grünen 2.0 und auch keine Linkspartei mit Internetanschluss, sonder eine Partei, die eigenständige Impulse setzt und die beweist, individuelle Freiheit und gesellschaftliche Solidarität sind kein Widerspruch sondern für uns sind das Werte, die sich gegenseitig verstärken und ergänzen."
Die Tüte mit den Spekulatius wird von einer Hand in die nächste gereicht, die Piraten flechten sich gegenseitig Zöpfe und wer eine politische Auszeit braucht, legt auf dem Laptop eine Patience. Die Piraten sind gekommen,um zu bleiben, zeigt eine Umfrage:
""Selbstverständlich. Klar, wir sind 'ne weltweite Bewegung."
"Das wird zunehmen."
"Wir brauchen andere Parteien, und dafür steht die Piraten-Partei mit neuen Konzepten, wenn die auch im Moment noch nicht ganz ausgewogen sind aber heute arbeiten wir daran und auch morgen, dass wir ausgewogen werden. Das ist einfach 'ne Bewegung, die nicht kurzfristig ist. Das sieht man. Es geht nicht darum, ob wir im Parlament sind oder nicht, wir werden gebraucht"
"Es gibt uns schon fünf Jahre, da schaffen wir noch fünf Jahre."
Für viele von ihnen kam die Partei genau zum richtigen Zeitpunkt, wie für Big Arne zum Beispiel, den starken Mann aus Niedersachsen:
"Ich behaupte mal, ich habe nur auf die Piraten gewartet."
Er wird in Wolfenbüttel dafür kämpfen, dass die Piraten im Januar in den fünften Landtag einziehen. Er sieht die Partei in Niedersachen bei 4,5 bis 6 Prozent – doch das ist nur seine ganze persönliche Prognose. Die Demoskopen sind bislang weniger optimistisch. In Bochum jedenfalls haben die Piraten gezeigt, dass sie gewillt sind, politische Verantwortung zu übernehmen. Chaos-Momente nicht ausgeschlossen, so Big Arne:
"Manche Leute haben in uns so die neuen Wundertäter oder Heilsbringer gesehen. Aber seien wir doch mal ganz ehrlich, in der Piraten-Partei ist auch nicht immer alles ganz toll."