Wir sind es heute gewohnt, Bestseller sind kurzlebige Produkte. Für eine Saison erregen sie die Gemüter, dann versinken sie in der Vergessenheit, werden durch andere Aktualitäten und Novitäten zugedeckt. Nicht so erging es dem Erfolgsroman "Die Heilige und ihr Narr" aus dem Jahr 1913, der noch heute in der 143. Auflage käuflich erwerbbar ist. Es war der einzige Roman von Agnes Günther, und er wurde zwei Jahre nach ihrem Tod veröffentlicht. Das vor allem weibliche Lesepublikum war so gefesselt von der Geschichte der zarten Prinzessin, dem Seelchen, und ihrer Zuneigung und späteren Liebe zum Ruinengrafen Harro, dass der Roman von Beginn an sensationelle Verkaufszahlen erreichte. Thomas Mann, dessen "Buddenbrooks" bereits gut zehn Jahre zuvor auf dem Markt waren, erblasste angesichts dieser unerwarteten Konkurrenz von über 600 Seiten, von Agnes Günther realistisch-romantisch angesiedelt in den Schlössern und Landschafen des Hohenlohischen im Südwesten des Kaiserreichs. Der Stuttgarter Antiquar Frieder Weitbrecht, Enkel des damaligen Verlegers Friedrich Weitbrecht im Verlag Steinkopf, hat das handgeschriebenes Verlagsbuch aufgeschlagen - auf der ersten Seite prangen die Worte "mit Gott" - und er entnimmt daraus die Auflagenentwicklung:
"Wir sehen hier 1913 im April 3.200 Exemplare, im September 3.300 und im Dezember 3.300. Also im ersten Jahr schon 10.000. Das ist ziemlich flott. 1914 im Februar waren es 6.600, und im Juni 10.000, im September 1914 allein 20.000 und im Dezember noch mal 20.000. Wie teuer war denn das Buch? 4 Mark 50. 1921, im November, noch mal 10.300, 1923 6.600 und so geht es weiter. Und insgesamt bis heute sind, glaub ich, 1, 7 Millionen Exemplare auf dem Markt. Von den 1,7 Millionen sind vielleicht 1,65 Millionen vor 1960 verkauft worden. Danach hat es schon sehr nachgelassen. Der Verlag verkauft jetzt noch von der Auflage, die 2001 gedruckt wurde."
Während das vorwiegend männliche Deutschland mit fliegenden Fahnen in den Ersten Weltkrieg stürmte, zog sich die nicht unerhebliche weibliche Leserschaft dieses Romans in eine märchenhafte Zauberwelt zurück. Gleich das erste Kapitel, überschrieben "Waldweihnacht" entzückte:
Ein dichter Nebel lag drei Tage über dem Waldland, dann kam die scharfe Kälte, und nun hat der Wald sein schönstes Weihnachtskleid angezogen. Die Birken sind mit tausend und abertausend Kristallperlen behangen, und an ihr feines Gefieder hat sich der Rauhreif angesetzt, wo ein Blattknöspchen auf den kommenden Frühling wartet. Jedes Möslein am Weg, der Dornstrauch dort, aus dessen kristallenem Gezweig noch die roten Beeren hervorleuchten, alle haben sich in köstliche Festgewänder geworfen. Wie zierlich und fein steht der Distel ihr Silberkrönlein, wie ist aus dem geduckten Schlehenstrauche das Meisterstück eines Elfenbeinsilberschmieds geworden! Ganz still ist's, und nur zuweilen geht ein feines Klingen durch den Wald, und ein Seufzen, wenn ein Zweig einen Teil seiner Last, die ihm zu schwer geworden ist, abschüttelt.
Durch diesen verwunschenen Weihnachtswald stapft ein einsamer Mann mit Lodenwams und abgeschabtem grünen Filzhut, als plötzlich ein junges Wesen über den Weg huscht, direkt auf einen Abgrund zu. In letzter Sekunde kann der Mann hinzuspríngen und das junge Leben retten. Wie sich herausstellt ist es die elfjährige Prinzessin vom nahe gelegenen Schloss Brauneck, die ihren Vater fliehen will, weil sie sich unverstanden fühlt; ihr Retter ist Harro, auch der Ruinengraf genannt, der verarmt ist, als Maler sich durchs Leben schlägt und in den Trümmern seiner Burg haust. Wie ein Märchen hebt dieser Roman an, und wie ein Märchen spinnt er sich weiter fort. Harro nennt fortan das Mädchen "Seelchen" und zwischen beiden erblüht eine heftige Seelenverwandtschaft, die schließlich - wie könnte es anders sein - in Liebe umschlägt, die beiden heiraten, aus "Seelchen" wird Rosmarie, sie bringt einen Knaben zur Welt, Harro kann seine Düsternis abschütteln, beginnt wieder aufzuleben und vervollkommnet sich in seiner Malkunst. Aber diese heile Welt trügt. Der Fürst, der Vater des Seelchens, nimmt nach dem Tod der Mutter von Seelchen eine neue Frau zur Gattin und diese Frau hasst ihre Stieftochter zutiefst. Das geht so weit, dass sie auf die junge Ehefrau auf einer Waldlichtung das Gewehr anlegt und schießt und Rosmarie an den Folgen dieser Schussverletzung schließlich stirbt. Harro, ihr Gatte weiß nicht, wer der Täter war, ebenso wenig ihr Vater, der Fürst. Aber Rosmarie hat die eifersüchtige Rivalin gesehen, schweigt aber, denn sie hofft, obwohl todkrank, die Fürstin würde eines Tages bereuen und auf den Pfad der Tugend zurückfinden. Tief im Glauben verwurzelt, gelingt es ihr auch, ihren unbändigen Mann von der Kraft Gottes zu überzeugen. Vorbild für den Roman ist das Haus Hohenlohe-Langenburg, wo Agnes Günther mit ihrem Mann, dem Hofprediger und Dekan, von 1891 bis 1906 lebte. Das Schloss Brauneck im Roman ist das Schloss Langenburg, das Schloss Schweigen ist das Schloss Tierberg und die Burg Thorstein, das Domizil von Harro, ist das Schloss Morstein.
Agnes Günther, die an Tuberkulose erkrankte und daran 1911 auch starb, verwob ihre Langenburger Erfahrungen, die Schlösser, die Menschen und die hohenlohische Natur, mit viel Sentiment in ihren Roman, so dass "Die Heilige und ihr Narr" von ihren Leserinnen auch als Heimatroman geschätzt wurde. Man wandelte ins Hohenlohische auf den Spuren der Schauplätze des Romans. Das Haus Hohenlohe-Langenburg war jedoch weniger erfreut von dieser Art Landesgeschichte, wie Frieder Weitbrecht zu erzählen weiß:
"Die Geschichte stellt ja ziemlich unverhüllt das Haus Hohenlohe-Langenburg dar. Die waren nicht entzückt. Ich hab einen schriftlichen Beleg dafür gefunden, dass der Fürst das Buch eigentlich untersagen wollte. Und dann hat sein Justítiar gesagt 'Durchlaucht, das würde ich nicht tun, eine bessere Werbung für das Buch könnten Sie nicht liefern'. Da hat man's laufen lassen. Ich hab vor nicht so vielen Jahren den verstorbenen Fürsten in Langenburg getroffen, hab mich vorgestellt als der Enkel des Verlegers und wir sprachen dann drüber und ich hab zu ihm gesagt, 'wissen Sie, es gibt auch diese handliche Paperback-Ausgabe. Sie verkaufen doch ihre Museumsführer, legen Sie doch die "Heilige" dazu, das wird ein Bombengeschäft'. Da sagt er, ' ach wissen Sie, so weit sind wir noch nicht.'. Sie haben erwähnt, das Haus Hohenlohe war nicht so begeistert, wann setzte denn die Versöhnung ein? Ich glaube nicht, dass eine Versöhnung stattgefunden hat. Man hat wohl akzeptiert; dass es beides gibt - das Haus Hohenlohe-Langenburg schon sehr lange und die Agnes Günther und ihr Roman etwas weniger lang. Aber beides existiert und kann nebeneinander sein. Ich versteh schon, dass die Langenburger nicht richtige Fans dieses Buches sind, weil sie ja nicht wirklich gut wegkommen."
Ein anderer, der allerdings nur zunächst seine Zweifel wegen der Veröffentlichung hatte, war der damalige Verleger selbst:
"Mein Großvater Friedrich Weitbrecht war nicht dafür. Er hat dann aber das Manuskript mit nach Hause genommen und hat es meiner Großmutter Julie Weitbrecht gezeigt und die war Feuer und Flamme und hat gesagt, 'Friedrich, das musst Du machen'. Er sollte es nicht bereuen, es war sicher der allergrößte Erfolg in der damals 140-jährigen Verlagsgeschichte."
Die akademische Wissenschaft war und ist sich bis heute einig, dieser Roman sei nur trivial, eine Gartenlaubenpoesie. In Literaturgeschichten wird der Roman nicht erwähnt. Der Großgermanist Walter Killy rügte seine "preziösen Lyrismen". In das Kindler-Literatur-Lexikon fand der Roman überraschenderweise Eingang, allerdings versehen mit der Schlussbemerkung, dass sein "Anspruch auf das Höhere nur in Klischees Gestalt" annehme. Dreimal wurde der Stoff verfilmt:1928, unter den Nazis 1935 - wobei Goebbels gegen die Verfilmung des Stoffs war, der ihm zu religiös und zu sentimental vorkam - und eine letzte Verfilmung 1957.
Das Phänomen, dass dieser Roman hundert Jahre überdauerte, verrät etwas von dem Schmelz der Darstellung, der eine eigene und auch faszinierende Sogwirkung entfaltet. Agnes Günther besingt nicht die heile Welt, sie weiß um Gefährdung und Bedrohung des Lebens und damit hebt sie sich ab von der Trivialliteratur einer Hedwig Courts-Mahler. Freilich ist alles romantisch verklärt und aufgehellt, und dennoch schimmert die Moderne überall durch diesen Roman: es wird mehrfach betont, dass auf allen Schlössern schon elektrisches Licht installiert ist; die Fürstin fährt bereits mit einem Automobil; im Dorf gibt es drei Sozialdemokraten, von denen einer den "Vorwärts" liest; Harro stellt seine Bilder im Stuttgarter Kunstverein aus, auch dies eine moderne Einrichtung des beginnenden 20.Jahrhunderts. Agnes Günther hat einen unterhaltenden aber auch spannungsgeladenen Roman geschrieben, der bis zum Ende nach über 600 Seiten die Neugier des Lesers zu fesseln vermag. Und wer Lust hat, sich auf eine kleine nostalgische Tour ins Hohenlohische auf den Spuren von Agnes Günther zu bewegen, wer sich nicht vor ein wenig Kitsch fürchtet, sondern bereit ist, sich märchenhaft verführen zu lassen,; dem sei ein Vorschlag des Antiquars Frieder Weitbrecht mit auf den Weg gegeben:
"Übrigens noch ein Hinweis, wenn jemand gerne mehr wissen möchte über Agnes Günther, soll er eine Wallfahrt nach Langenburg machen, das lohnt sich immer. Es gibt dort einen wunderschönen großen Garten am Schloss, und es gibt dort die Frau des Pfarrers Ruopp und die weiß alles über Agnes Günther, die ist ein wandelndes Agnes-Günther-Lexikon - noch heute."
Agnes Günther: Die Heilige und ihr Narr, Steinkopf Verlag, 608 S.,12,90 Euro
"Wir sehen hier 1913 im April 3.200 Exemplare, im September 3.300 und im Dezember 3.300. Also im ersten Jahr schon 10.000. Das ist ziemlich flott. 1914 im Februar waren es 6.600, und im Juni 10.000, im September 1914 allein 20.000 und im Dezember noch mal 20.000. Wie teuer war denn das Buch? 4 Mark 50. 1921, im November, noch mal 10.300, 1923 6.600 und so geht es weiter. Und insgesamt bis heute sind, glaub ich, 1, 7 Millionen Exemplare auf dem Markt. Von den 1,7 Millionen sind vielleicht 1,65 Millionen vor 1960 verkauft worden. Danach hat es schon sehr nachgelassen. Der Verlag verkauft jetzt noch von der Auflage, die 2001 gedruckt wurde."
Während das vorwiegend männliche Deutschland mit fliegenden Fahnen in den Ersten Weltkrieg stürmte, zog sich die nicht unerhebliche weibliche Leserschaft dieses Romans in eine märchenhafte Zauberwelt zurück. Gleich das erste Kapitel, überschrieben "Waldweihnacht" entzückte:
Ein dichter Nebel lag drei Tage über dem Waldland, dann kam die scharfe Kälte, und nun hat der Wald sein schönstes Weihnachtskleid angezogen. Die Birken sind mit tausend und abertausend Kristallperlen behangen, und an ihr feines Gefieder hat sich der Rauhreif angesetzt, wo ein Blattknöspchen auf den kommenden Frühling wartet. Jedes Möslein am Weg, der Dornstrauch dort, aus dessen kristallenem Gezweig noch die roten Beeren hervorleuchten, alle haben sich in köstliche Festgewänder geworfen. Wie zierlich und fein steht der Distel ihr Silberkrönlein, wie ist aus dem geduckten Schlehenstrauche das Meisterstück eines Elfenbeinsilberschmieds geworden! Ganz still ist's, und nur zuweilen geht ein feines Klingen durch den Wald, und ein Seufzen, wenn ein Zweig einen Teil seiner Last, die ihm zu schwer geworden ist, abschüttelt.
Durch diesen verwunschenen Weihnachtswald stapft ein einsamer Mann mit Lodenwams und abgeschabtem grünen Filzhut, als plötzlich ein junges Wesen über den Weg huscht, direkt auf einen Abgrund zu. In letzter Sekunde kann der Mann hinzuspríngen und das junge Leben retten. Wie sich herausstellt ist es die elfjährige Prinzessin vom nahe gelegenen Schloss Brauneck, die ihren Vater fliehen will, weil sie sich unverstanden fühlt; ihr Retter ist Harro, auch der Ruinengraf genannt, der verarmt ist, als Maler sich durchs Leben schlägt und in den Trümmern seiner Burg haust. Wie ein Märchen hebt dieser Roman an, und wie ein Märchen spinnt er sich weiter fort. Harro nennt fortan das Mädchen "Seelchen" und zwischen beiden erblüht eine heftige Seelenverwandtschaft, die schließlich - wie könnte es anders sein - in Liebe umschlägt, die beiden heiraten, aus "Seelchen" wird Rosmarie, sie bringt einen Knaben zur Welt, Harro kann seine Düsternis abschütteln, beginnt wieder aufzuleben und vervollkommnet sich in seiner Malkunst. Aber diese heile Welt trügt. Der Fürst, der Vater des Seelchens, nimmt nach dem Tod der Mutter von Seelchen eine neue Frau zur Gattin und diese Frau hasst ihre Stieftochter zutiefst. Das geht so weit, dass sie auf die junge Ehefrau auf einer Waldlichtung das Gewehr anlegt und schießt und Rosmarie an den Folgen dieser Schussverletzung schließlich stirbt. Harro, ihr Gatte weiß nicht, wer der Täter war, ebenso wenig ihr Vater, der Fürst. Aber Rosmarie hat die eifersüchtige Rivalin gesehen, schweigt aber, denn sie hofft, obwohl todkrank, die Fürstin würde eines Tages bereuen und auf den Pfad der Tugend zurückfinden. Tief im Glauben verwurzelt, gelingt es ihr auch, ihren unbändigen Mann von der Kraft Gottes zu überzeugen. Vorbild für den Roman ist das Haus Hohenlohe-Langenburg, wo Agnes Günther mit ihrem Mann, dem Hofprediger und Dekan, von 1891 bis 1906 lebte. Das Schloss Brauneck im Roman ist das Schloss Langenburg, das Schloss Schweigen ist das Schloss Tierberg und die Burg Thorstein, das Domizil von Harro, ist das Schloss Morstein.
Agnes Günther, die an Tuberkulose erkrankte und daran 1911 auch starb, verwob ihre Langenburger Erfahrungen, die Schlösser, die Menschen und die hohenlohische Natur, mit viel Sentiment in ihren Roman, so dass "Die Heilige und ihr Narr" von ihren Leserinnen auch als Heimatroman geschätzt wurde. Man wandelte ins Hohenlohische auf den Spuren der Schauplätze des Romans. Das Haus Hohenlohe-Langenburg war jedoch weniger erfreut von dieser Art Landesgeschichte, wie Frieder Weitbrecht zu erzählen weiß:
"Die Geschichte stellt ja ziemlich unverhüllt das Haus Hohenlohe-Langenburg dar. Die waren nicht entzückt. Ich hab einen schriftlichen Beleg dafür gefunden, dass der Fürst das Buch eigentlich untersagen wollte. Und dann hat sein Justítiar gesagt 'Durchlaucht, das würde ich nicht tun, eine bessere Werbung für das Buch könnten Sie nicht liefern'. Da hat man's laufen lassen. Ich hab vor nicht so vielen Jahren den verstorbenen Fürsten in Langenburg getroffen, hab mich vorgestellt als der Enkel des Verlegers und wir sprachen dann drüber und ich hab zu ihm gesagt, 'wissen Sie, es gibt auch diese handliche Paperback-Ausgabe. Sie verkaufen doch ihre Museumsführer, legen Sie doch die "Heilige" dazu, das wird ein Bombengeschäft'. Da sagt er, ' ach wissen Sie, so weit sind wir noch nicht.'. Sie haben erwähnt, das Haus Hohenlohe war nicht so begeistert, wann setzte denn die Versöhnung ein? Ich glaube nicht, dass eine Versöhnung stattgefunden hat. Man hat wohl akzeptiert; dass es beides gibt - das Haus Hohenlohe-Langenburg schon sehr lange und die Agnes Günther und ihr Roman etwas weniger lang. Aber beides existiert und kann nebeneinander sein. Ich versteh schon, dass die Langenburger nicht richtige Fans dieses Buches sind, weil sie ja nicht wirklich gut wegkommen."
Ein anderer, der allerdings nur zunächst seine Zweifel wegen der Veröffentlichung hatte, war der damalige Verleger selbst:
"Mein Großvater Friedrich Weitbrecht war nicht dafür. Er hat dann aber das Manuskript mit nach Hause genommen und hat es meiner Großmutter Julie Weitbrecht gezeigt und die war Feuer und Flamme und hat gesagt, 'Friedrich, das musst Du machen'. Er sollte es nicht bereuen, es war sicher der allergrößte Erfolg in der damals 140-jährigen Verlagsgeschichte."
Die akademische Wissenschaft war und ist sich bis heute einig, dieser Roman sei nur trivial, eine Gartenlaubenpoesie. In Literaturgeschichten wird der Roman nicht erwähnt. Der Großgermanist Walter Killy rügte seine "preziösen Lyrismen". In das Kindler-Literatur-Lexikon fand der Roman überraschenderweise Eingang, allerdings versehen mit der Schlussbemerkung, dass sein "Anspruch auf das Höhere nur in Klischees Gestalt" annehme. Dreimal wurde der Stoff verfilmt:1928, unter den Nazis 1935 - wobei Goebbels gegen die Verfilmung des Stoffs war, der ihm zu religiös und zu sentimental vorkam - und eine letzte Verfilmung 1957.
Das Phänomen, dass dieser Roman hundert Jahre überdauerte, verrät etwas von dem Schmelz der Darstellung, der eine eigene und auch faszinierende Sogwirkung entfaltet. Agnes Günther besingt nicht die heile Welt, sie weiß um Gefährdung und Bedrohung des Lebens und damit hebt sie sich ab von der Trivialliteratur einer Hedwig Courts-Mahler. Freilich ist alles romantisch verklärt und aufgehellt, und dennoch schimmert die Moderne überall durch diesen Roman: es wird mehrfach betont, dass auf allen Schlössern schon elektrisches Licht installiert ist; die Fürstin fährt bereits mit einem Automobil; im Dorf gibt es drei Sozialdemokraten, von denen einer den "Vorwärts" liest; Harro stellt seine Bilder im Stuttgarter Kunstverein aus, auch dies eine moderne Einrichtung des beginnenden 20.Jahrhunderts. Agnes Günther hat einen unterhaltenden aber auch spannungsgeladenen Roman geschrieben, der bis zum Ende nach über 600 Seiten die Neugier des Lesers zu fesseln vermag. Und wer Lust hat, sich auf eine kleine nostalgische Tour ins Hohenlohische auf den Spuren von Agnes Günther zu bewegen, wer sich nicht vor ein wenig Kitsch fürchtet, sondern bereit ist, sich märchenhaft verführen zu lassen,; dem sei ein Vorschlag des Antiquars Frieder Weitbrecht mit auf den Weg gegeben:
"Übrigens noch ein Hinweis, wenn jemand gerne mehr wissen möchte über Agnes Günther, soll er eine Wallfahrt nach Langenburg machen, das lohnt sich immer. Es gibt dort einen wunderschönen großen Garten am Schloss, und es gibt dort die Frau des Pfarrers Ruopp und die weiß alles über Agnes Günther, die ist ein wandelndes Agnes-Günther-Lexikon - noch heute."
Agnes Günther: Die Heilige und ihr Narr, Steinkopf Verlag, 608 S.,12,90 Euro